von Benjamin von Wyl

«Das persönliche Schreiben findet stark in meinem Kopf statt.»

So schreibe ich:  Sie schreibt über Literatur und auch über sich selbst. Anne-Sophie Scholl, bis vor Kurzem Kulturredaktorin der CH-Media-Zeitungen, fiel in den letzten Monaten vor allem mit zwei Texten auf: In umfassenden Essays dokumentierte sie den Sexismus in Beruf und Alltag. Mit der MEDIENWOCHE sprach sie darüber, weshalb sie das anhand ihrer Biografie tut und wie dieses biografische Schreiben von der Literatur geprägt ist.

Noch ist das versprochene Gewitter nicht gekommen, noch drückt die Sonne. Nur die Aussicht auf die Lorrainebrücke erinnert im Café Fleuri dran, dass man sich im Zentrum von Bern befindet und nicht in einer tropischen Aussteiger-Exklave. Ideale Bedingungen, der Welt zu entrücken. Aber die Literaturjournalistin Anne-Sophie Scholl ist nicht für Weltferne bekannt, sondern für klare Positionsnahme gegenüber Literaturbetrieb, Medien und Gesellschaft. Und vor allem gegenüber den Männern, die diese Sphären dominieren.

Wenn Scholl über diese Themen schreibt, macht sie das manchmal aus der Ich-Perspektive und schöpft aus ihrer Biografie. Dass sie so persönlich schreibt, ist auch vom Feld beeinflusst, das sie journalistisch bearbeitet: Literatur.

Beim autobiografischen Schreiben behält man immer die Kontrolle darüber, was man schreibt. Sofern man auf das fokussiert, was gesellschaftlich relevant ist, sind das argumentativ starke Texte. Dass ich aus meinem Leben schreibe, ist von meiner Arbeit beeinflusst. In der Literatur gibt es eine autobiografische Wende: Heute erscheinen viele autobiografische oder autofiktionale Texte. Ich bin beeindruckt, wie mit literarischen Mitteln Lebenswelten dargestellt und hinterfragt werden. Die grossartigen französischen Autoren Annie Ernaux und Edouard Louis geben in ihren Büchern sozial konstruierte Lebensrealitäten wieder und dekonstruieren sie. So stellen sie mit Sprache Selbstverständlichkeiten her und unterlaufen sie – weil sie eben gar keine sind oder sein sollten. Sie geben soziale Verhältnisse wieder, stellen sie als normal dar und bewirken, dass man beim Lesen erkennt: Diese vermeintlich gegebenen Lebensrealitäten sind politisch bedingt. In «Erinnerungen eines Mädchens» schreibt Ernaux über Erfahrungen, bei denen man im ersten Moment denkt, sie gehören nicht an die Öffentlichkeit. Aber wenn man kurz überlegt, erkennt man: So privat ist das nicht.

Vielleicht ist dieses autobiografische Schreiben eine Gegenbewegung zur Globalisierung. Das Leben aller wird zunehmend von Konzernen geprägt, wo du kein Gegenüber hast, dass du ansprechen kannst. Hast du ein Anliegen, gerätst du sofort in unpersönliche Prozesse. Einige Autoren haben das mir gegenüber auch so vertreten: das Verwundbarmachen. Sie wollen die Realität im Konkreten und die Verletzbarkeit zeigen als Gegenbewegung zum hohen Abstraktionsgrad, der viele Leute überfordert.

Die umfangreichsten und grundsätzlichsten Texte, in denen Scholl aus ihren Erfahrungen schöpft, sind: «Es ist zu früh für die Opferrolle des Mannes» zum internationalen Tag der Frau und «Aus dem Leben einer Frau», fünf Tage vor dem Frauenstreik. «Aus dem Leben einer Frau» ist wohl Scholls letzter Text in den Zeitungen von CH Media. Weil sie darin ihre lebenslangen Erfahrungen mit Sexismus und sexueller Belästigung im Beruf und Privatleben thematisiert, erscheint es konsequent, dass sie auch den jüngsten Einschnitt in ihre Biografie thematisiert: die Kündigung von CH Media.

Ursprünglich war es ein einziger, kurzer Text, aber mir sind mehr und mehr Beispiele eingefallen, die mir gar nicht mehr bewusst waren. Dann war ich im Engadin in den Ferien, bin viel gelaufen und dabei hat es im Kopf gearbeitet. Daheim habe ich den Text dann runtergeschrieben, eben auf die 30 000 Zeichen, die ein Magazin bestellt hatte. Sie fanden den Text zunächst gut, lehnten ihn in letzter Instanz aber ab. Ein Abdruck bei den AZ Medien war in dieser Überlänge nicht möglich. Also habe ich bestimmte Aspekte als in sich geschlossenen Kommentaren ausgegliedert. So sind diese beiden Texte entstanden, die letztlich in dieser Form gut funktionieren. Ich habe noch Material für weitere persönliche Texte.

Zum Glück ist das Fleuri ein Selbstbedienungs-Café. Keine Bedienung, die dem jüngeren Mann die Rechnung übergibt, weil sie es für eine Verständlichkeit hält, dass der Mann zahlt. Sonst könnte sich der szenische Einstieg von «Es ist zu früh für die Opferrolle des Mannes», Scholls Text zum internationalen Tag der Frau, wiederholen. Scholl beschreibt, wie unangenehm sie es jeweils empfindet, wenn sie ihre Interviewpartner im Café einladen will und die Rechnung immer dem Interviewten gereicht wird, wenn es ein Mann ist. Selbst wenn dieser deutlich jünger ist. Nach dieser Szene folgt ein harter Bruch: «Das ist bezeichnend für das Grundraster einer ganzen Reihe von Erlebnissen, die mein Leben geprägt haben – Begrapschungen als Jugendliche, Konfrontationen mit Exhibitionisten, Stalking, sexuelle Übergriffe à la #MeToo in der Ausbildungszeit und Vergeltungsmassnahmen, ab etwa dreissig dann Rückstufungen vermehrt ohne sexuelle Aspekte: Das kenne ich von mir und von Freundinnen.»

Mit der gerafften Passage wollte ich klarmachen, mit welchem Hintergrund ich danach beschreibe, was im Medien- und Literaturbetrieb heute passiert. Medien publizieren viel über die Arbeitsbedingungen anderswo, aber blenden sich selber aus – gerade bei Gender-Themen. Es ist eine so männerdominierte Branche. In der Literaturkritik ist es bekannt, dass Männer, die die wenigen Kritikerstellen innehaben, fast nur männliche Autoren besprechen. Das wirkt sich dann auf alle Ebenen aus – bis zu den Übersetzungslizenzen.

Weiss man von der Entstehungsgeschichte der beiden Texte, ist es umso spannender, sie nebeneinander zu betrachten. Den ersten Text prägt die nonchalante Nüchternheit, mit der Scholl von einer Café-Szenen zu Übergriffen findet. Im zweiten Text steigt sie mit einer Studie im Auftrag von «Amnesty International» ein: «Jede fünfte Frau hat schon «sexuelle Handlungen gegen den eigenen Willen» erlebt, jede zehnte Frau «Geschlechtsverkehr ohne Einverständnis».»

Das schafft einen Kontrast. Vielleicht hatte ich das Gefühl, im so persönlichen Text wollte ich erst eine allgemeine Dimension zeigen. Der Essay ist deshalb so persönlich, weil ich glaube, man muss aufzeigen, was im Alltag genau passiert. Ich hab mir vor dem Schreiben gesagt: Was will man ein weiteres Mal über den Gender-Pay-Gap schreiben? Theoretisch wissen das ja alle. Es gibt Übergriffe – Straftaten, wenn sie denn angezeigt und nachgewiesen werden – fast hartnäckiger sind die feinen ungleichen Massstäbe. Immer noch ist es oft so, dass es nicht gehört wird, wenn du als Frau in einer Sitzung etwas sagst. Sagt der Mann nebendran dasselbe, jubeln alle. Als Frau darfst du nicht sagen, das mache ich gut, und schon gar nicht, das mache ich besser als ein Mann. Das gilt schnell als masslose Selbstüberschätzung. Kaum jemand behauptet heute, Gleichstellung sei nicht gerechtfertigt, aber es gibt Nuancen diese subtilen Unterschiede im Alltag, die viele Männer nicht wahrnehmen oder wahrnehmen wollen. Deshalb wollte ich aus meiner subjektiven Erfahrung erzählen, was bei mir passiert, im kleinen. Möglichst viele Frauen sollten das tun. Es ist nicht ohne Risiko, aber jetzt ist der Moment, in dem sich die Frauen nicht mehr disziplinieren lassen sollten. Mit «Frauen brauchen nicht weiterzulesen», beende ich den ersten Absatz. Eine Leserin schrieb mir, wie wahr dieser Satz sei.

Ab der Stelle, an der Frauen nicht mehr weiterlesen müssen, führt Scholl aus, wie sich die patriarchalen Machtstrukturen in ihre Biografie eingeschrieben haben. Sie berichtet von einem dutzend Begegnungen mit Exhibitionisten, ihrem ersten «#MeToo-Moment in der engen Auslegung des Hashtags» – einem Übergriff durch einen Vorgesetzten, rechnet aber auch mit einem Ex-Partner und Ex-Chefs ab, die sie die feinen Unterschiede zwischen den Geschlechtern haben spüren lassen.

«Aus dem Leben einer Frau» wäre niederschmetternd – würde Scholl einem nicht immer wieder mit prägnanten Pointen überrumpeln, etwa: «Ich weiss, es ist eine Krankheit, aber sie scheint auf dem Y-Chromosom verortet.» über Exhibitionismus. Und aus diesen Pointen dringt, was sie an einer Stelle auch explizit macht: Es geht ihr nicht ums Jammern, es geht um Selbstermächtigung.

Mit dem wohl jüngsten Einschnitt in Scholls Berufsbiografie, der Kündigung, endet der Kommentar. «Ich sage nicht, sie habe sexistische Gründe. Rationalisierung und Geopolitik im Rahmen des Joint Ventures von CH Media, wurden angeführt. Aber: Ein reines Männergremium hat den Entscheid gefällt. Und er passt zu dem bekannten Muster: Die Frau bleibt stehen und schaut zu, wie der Mann an ihr vorbeizieht. Beim Mann zählt das mögliche Potenzial, bei der Frau der Leistungsausweis. Und oft nicht einmal dieser.» Sehr direkt. Scholl spricht mit der Öffentlichkeit, mit der Leserschaft und ihren (ehemaligen) Mitarbeitenden.

Dadurch, dass Scholl die eigene Entlassung mitthematisiert, zeigt sie: Sensibilisierung bedeutet in jeder Situation aufmerksam zu sein, zu spüren, welche Faktoren bei einer Entscheidung wirken könnten. Bis zur überraschenden Entlassung hatte sich Scholl an ihrem Arbeitsplatz wohlgefühlt.

In all meinen Redaktionsstellen bin ich immer sehr frei gewesen und konnte weitgehend selbstständig entscheiden. Einer meiner Vorgesetzten vertrat die Auffassung, alle seine Journalisten seien Künstler – Persönlichkeiten, meinungsstark, mit Charakter und ihren Eigenheiten. Dass du kein gleichgeschalteter Bürogummi bist. Das finde ich eine sehr schöne Haltung als Chefredaktor, die aber dem zunehmenden Konzernjournalismus entgegensteht. In meinem Verständnis von Tagesjournalismus ist es für eine Zeitung wichtig, dass ihre Redaktorinnen und Redaktoren ein Profil und eine Stimme haben. Das bedingt wiederum für mich, dass ich mich mit dem Medium identifizieren kann. Im letzten Jahr bei den AZ Medien war das so.  Ich habe meine Arbeit geliebt, deshalb habe ich häufiger Kommentare geschrieben und habe – glaube ich – mir eine persönliche Stimme erschrieben.

Scholl hatte einst – unter anderem in Frankreich und Kuba – Kunst studiert, bevor sie sich im Germanistikstudium an der Universität Bern in die Linguistik vertiefte. Später arbeitete sie unter anderem für das Freilichtmuseum Ballenberg, war Presseverantwortliche beim Zürcher Rotpunkt-Verlag, stieg 2009 bei der «Berner Zeitung» in den Journalismus ein – direkt im Kulturressort. Bald hatte sie einen klaren Literaturfokus. «Berner Zeitung», «Sonntagszeitung», «Schweiz am Wochenende»: Immer arbeitete Scholl für Zeitungen, die sich an ein breites Publikum richten. Diese haben eine Vermittlungsfunktion, die ihr entscheidend erscheint – und die sie gefährdet sieht:

Storytelling-Tools, bei denen Klicks vorgeben, worüber man schreibt, wären für die Kulturberichterstattung verheerend und zahlen sich nicht aus. Diejenigen, die den Kulturteil lesen, lesen ihn genauer und wer Bücher liest, liest eher Print, aber das wird von den Messtools ohnehin nicht erfasst. Die Zeitungen sollten Institutionen sein, die eine informierte Orientierung vermitteln sollen. Was ist, wenn die Medien diese Vermittlungsfunktion abgeben, weil sie nicht mehr rentiert? Dann nimmst du dem breiten Publikum die Möglichkeit, auf etwas aufmerksam gemacht zu werden, was im besten Fall ihren Horizont erweitert. Literatur wird gefördert; die Gesellschaft anerkennt, dass sie wichtig ist, aber wenn die Medien nicht reagieren, findet vieles nur noch in Nischen statt. Jetzt gibt es die Infrastruktur, um die Leute zu erreichen – noch! Wenn man diese wegbrechen lässt, wie erfahren die Leute dann noch, was für Literatur es gibt? Aber schon heute kann man vieles potenziell Spannendes aus Zeit- und Platzgründen nicht mehr machen und diese Themen finden nur noch in Nischenmedien statt.

Breite ja – Monopole nein. Die Medienkonzentration beschädigt den Diskurs, den Kern von Scholls Journalismusverständnis. Beschleunigt konnte man die Konzentration im letzten Jahr erleben, als sich die AZ Medien und die NZZ Regionalmedien zum Joint Venture CH Media formierten. Scholl spricht im Medienwoche-Gespräch konsequent von den AZ Medien.

Ich fand es schön bei einem Publikumsmedium wie den AZ Medien, ein breites Spektrum von Leuten zu erreichen. Andererseits ist es eine grosse Verantwortung das halbe Land abzudecken. Die Aufgabe der Medien ist es, Diskussion und Dialog anzuregen und ich möchte etwas auslösen. Die aktuelle Zusammenlegung der Redaktionen betrachte ich diesbezüglich kritisch. Wenn man das halbe Land abdeckt, kann man keine Diskussion auslösen. Dann hat man einfach eine erdrückende Macht. Das ist dann auch eine erdrückende Verantwortung.

Mittlerweile hat sich Scholl in einer Bürogemeinschaft eingemietet – will sie jetzt als freie Journalistin weiterarbeiten?

In einer Redaktion hat man mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Man hat den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, erhält leichter Information zugeschickt, ist näher und kontinuierlicher an seinem Dossier dran. Ich gebe mir ein Jahr Zeit, noch einmal Zugang in eine Redaktion zu finden. Im Herbst übernehme ich erstmal einen Lehrauftrag für Literaturkritik. Der Atelierplatz ist wichtig, um rauszukommen: als Ort, der als Arbeitsort definiert ist und wo ich andere Leute treffe. Ich bin sonst schon genug zu Hause, wenn ich Bücher lese. Literaturjournalismus ist eine etwas autistische Angelegenheit, hat mir letztens wer gesagt: Das viele Lesen ist sehr zeitintensiv. Und meist liest man Romane bevor sie veröffentlicht sind, weshalb man sich mit niemandem über die Bücher austauschen kann.

Die beiden feministischen Texte sind die längsten, aber nicht die einzigen persönlichen Kommentare, die Scholl in der «Schweiz am Wochenende» untergebracht hat. Kurze Texte, in denen sie Anekdoten oder Beobachtungen schildert, wurden im vergangenen Jahr zu einem ihrer Markenzeichen: über ihren ersten Gast als Skitourenleiterin, der sie nicht ernst genommen hat, über einen Buchverlag, der zu seinem Rohrkrepierer steht oder über ihren Ärger, dass sich Leser*innen wegen dem Abdruck eines Fotos vom toten Robert Walser im Schnee empörten. Diese kurzen Texte sind in einer Umgebung entstanden, die stressiger ist als jede Redaktion: in der Bahn zwischen Aarau und Bern zur Feierabendzeit.

Die Kurzkommentare habe ich im Zug geschrieben. Ich hatte einen Gedanken im Kopf. Sobald ich den Anfang habe, läuft es gut. Ich arbeite nicht gerne auf Vorrat, sondern schreibe mittlerweile am liebsten zu Ende, wenn ich schon die Aufmachung kenne. Dann arbeite ich direkt im Layout, wo ich das Zusammenspiel von Text und Bild sehe. So kann ich einem Artikel am besten eine finale Form geben. Aber das ist wahrscheinlich Gewohnheitssache.

Der Entstehungsprozess von persönlichen Texten sei gegenläufig zum Schreiben im journalistischen Alltag. Statt dass man in der Recherche sammelt und daraus seine Haltung destilliert, trägt man das Material, aus dem man schöpft, immer und überall mit sich rum.

Das persönliche Schreiben findet stark in meinem Kopf statt. Bei einem Porträt ist es ein viel stärkeres Suchen. Ich sammle das Material – ihre Bücher, was über sie geschrieben worden ist – und das Schreiben selbst ist dann ein langsamer, ein vorwärtstastender Prozess. Ich erschreibe mir meine Meinung.

Der Literaturjournalismus würde geselliger werden, ginge es nur noch darum, von Veranstaltungen zu berichten und Autor*innen zu interviewen. Aber es ist entscheidend, dass Literaturjournalist*innen lesen – und auch kritisch lesen.

Es gibt die Tendenz hin zu Porträts und Interviews, weg von textkritischen Rezensionen einzelner Bücher und der Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb und -kritik. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb ist wichtig. Institutionen und Machtansprüchen muss man kritisch begegnen, das ist einfach eine journalistische Haltung. Selbst wenn Machtpositionen berechtigt sind, muss man genau hinschauen und nachfragen. Bei Buchbesprechungen geht es um Einordnung und Vermittlung von Zugängen, das ist der moderne Ansatz der Literaturkritik. Aber Sich aufzuschwingen und ein Buch runterzumachen, an dem jemand alleine vier, fünf Jahre gearbeitet hat, wäre so ein bisschen die Art von … Reich-Ranicki.

Kritische Auseinandersetzung, aber mit dem Ziel einzuordnen und nicht zu zerstören – eine sehr vernünftige Haltung, für jemanden dessen einstiger Vorgesetzter, die Position vertreten hat, alle Journalist*innen seien Künstler*innen. Aber trotzdem, mal ganz ehrlich, Kulturjournalist*innen pflegen oft eine schönere Sprache als ihr*e Kolleg*innen in anderen Ressorts, nicht?

Es ist sicher erwünscht, im Kultur-Ressort farbiger und bewusster zu schreiben. Oft suche ich danach, etwas noch ansprechender auszudrücken. Aber man hat auch häufiger die Möglichkeit, das zu tun. Es gibt zwar Newstexte, in denen es primär um Informationsvermittlung geht, aber diese sind im Kulturressort selten. News sind der falsche Ort für Sprachspielereien. Sätze wie «Ich weiss, es ist eine Krankheit, aber sie scheint auf dem Y-Chromosom verortet.» haben in einem Newstext nichts verloren, da bleibt dir einzig der Sprachrhythmus.

Sprachrhythmus konnte Scholl aber auch im Kulturteil perfektionieren. Da wird in 20 Wörtern ein romantisiertes Bild von Kuba gezeichnet und bevor man es sich bewusst wird, liest man die Schilderung sexueller Belästigungen. Sie spricht die Lesenden direkt an, aber erst nach einem Drittel des Textes, es ist keine anbiederndes Schaffen von Vertrautheit, sondern die Klärung der Perspektive – und die Perspektive der Autorin nimmt keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Männer, die die «Flecken auf ihrer Lebensgeschichte» verantworten. Es ist Selbstermächtigung – im Beruf, im Privatleben, im Früher, im Jetzt, im Denken, in der Gesellschaft. So grundsätzlich, so umfassend, mit so klarem Anspruch, wie es fünf Tage später an der grössten schweizweiten Demonstration in der Landesgeschichte spürbar war.

Vor dem Frauenstreik war die Energie überwältigend. Klar, man weiss nie, ob das eigene Blickfeld verstellt ist. Aber dass ich praktisch keine negativen Rückmeldungen erhielt, hat mich dann doch erstaunt. Der Frauenstreik selbst war wirklich ein Generalstreik. Jetzt bleibt die Frage, wie es weitergeht. Da kommt den Medien eine wichtige Funktion zu – gerade auch dabei, die eigene Branche zu reflektieren.

Bild: Sandra Ardizzone, Bearbeitung: Marco Leisi