von Lothar Struck

«Fulminante Arroganz»

Er liess den Hochstapler Claas Relotius beim «Spiegel» auffliegen: Juan Moreno, einst Reporterkollege des fehlbaren Journalisten, beschreibt in seinem Buch schonungslos ein System, das Lüge begünstigte und belohnte. Ob die kritisierte «Spiegel»-Redaktion daraus etwas lernt, steht auf einem anderen Blatt. Zweifel sind angebracht.

Der «Spiegel» kommt nicht zur Ruhe. Wie das Magazin kürzlich bekanntgab, tritt Rafael Buschmann nicht wie vorgesehen die Stelle als Leiter des Investigativ-Teams an. Grund ist eine fünf Jahre alte Geschichte, die den heute 37-jährigen Journalisten eingeholt hat. Buschmann warf 2014 einem einschlägig bekannten Wettbetrüger vor, das Ergebnis einer Partie der Fussball-WM bereits im Voraus gekannt zu haben. Dies wäre ein klarer Hinweis auf Spielmanipulation gewesen. Tatsächlich konnte Buschmann die Aussagen nicht belegen. Der Facebook-Chat mit dem Betrüger, den Buschmann stets als Beleg angab, existiert nicht. Über die Jahre versandete die Angelegenheit jedoch.

Der Fall Buschmann weckt Erinnerungen an die Relotius-Affäre. Auch den als Fälscher entlarvten Reporter Claas Relotius hatte der «Spiegel» für Grösseres vorgesehen.

Vielleicht hatte das mit Buschmanns Beteiligung an den Recherchen zu den sogenannten «Football-Leaks»-Enthüllungen zwischen 2016 und 2018 zu tun. Ein Informant mit dem Pseudonym «John», angeblich in ständiger Lebensgefahr, stellt über Jahre Journalisten Millionen von Dokumenten über die mafiösen Zustände im europäischen Profifussball zur Verfügung. Zusammen mit «Spiegel»-Autor Michael Wulzinger schrieb Buschmann mehrere Bücher zum Thema, die zu Bestsellern wurden. Immer wieder betonte «John», er sei kein Hacker. Aber das war eine Lüge.

Inzwischen ist der Informant als Rui Pinto enttarnt und befindet sich im Gefängnis. Buschmann und Wulzinger berichten jetzt nicht nur weiter über die von Pinto gehackten Enthüllungen, sondern auch noch über das Schicksal ihres Informanten. Die Fragwürdigkeit der Veröffentlichungen wird mit keinem Wort erwähnt. Das damalige Bekenntnis, kein Hacker zu sein, genügte den Machern des Nachrichtenmagazins offensichtlich. Wie jemand ohne Zugang zu Servern an solche Datenpakete kommen kann, hatte man nicht befragt. Durch die Dauervermarktung über Jahre hinweg galt Buschmann als ein Starautor. Umso überraschter ist man, dass er nun auf der Karriereleiter über einen Text von 2014 stolpert.

Die offiziell als freiwilliger Verzicht deklarierte Nichtbeförderung Buschmanns zum obersten Recherchierjournalisten beim «Spiegel» weckt Erinnerungen an die Relotius-Affäre vom letzten Winter. Auch den als Fälscher entlarvten Reporter Claas Relotius hatte der «Spiegel» für Grösseres vorgesehen. Er wurde nur deshalb nicht zum Leiter des Gesellschaftsressorts befördert, weil ihn Juan Moreno, ein freier Mitarbeiter, der Lügen überführte. Wie das geschah, hat Moreno in einem Buch mit dem etwas effekthascherischen Titel «Tausend Zeilen Lüge» aufgeschrieben. Es steht – nicht ganz überraschend – auf Platz 1 der «Spiegel»-Beststeller.

Er hatte systematisch betrogen und gefälscht. Seine Texte waren Erfindungen, Übertreibungen, Plagiate, beziehungsweise Variationen von Texten anderer Autoren.

Aber woher das grosse Interesse? Man weiss ja längst, dass sich in Claas Relotius‘ Reportagen nicht nur Faktenfehler und Ungenauigkeiten eingeschlichen hatten. Er hatte systematisch betrogen und gefälscht. Seine Texte waren Erfindungen, Übertreibungen, Plagiate, beziehungsweise Variationen von Texten anderer Autoren. Nichts daran stimmte. Und das bei einem Mann, der in acht Jahren rund 40 Journalistenpreise erhalten hatte. Die deutschsprachige Medienbranche war erschüttert, denn Relotius hatte für nahezu alle grossen Medien irgendwann einmal etwas geschrieben. Das üble Wort von der «Relotius-Presse» machte die Runde als aktuelle Variation der Schmähformel Lügenpresse.

Juan Moreno ist eine Ausnahme vom Gemeinplatz, dass man den Verrat liebe, aber nicht den Verräter. So tief der Fall des einen, so gross das Heldentum des anderen. Der Held war Juan Moreno, 13 Jahre älter als Relotius (warum Moreno suggeriert, 15 Jahre älter zu sein, bleibt sein Geheimnis – dem Lektor ist es nicht aufgefallen). Ein Reporterkollege – und doch nicht ganz, denn Relotius war fester Mitarbeiter, Moreno nur freier. Er konnte jederzeit gekündigt werden. Als er zusammen mit Relotius eine Reportage über den Migrationsstrom aus mittelamerikanischen Ländern in die USA schreiben sollte – Moreno begleitete einen Flüchtlingstreck von Mexiko aus, Relotius wollte über militante Grenzschützer aus den USA berichten –, kamen ihm Zweifel. Sie brachten ihn, den Familienvater von vier Kindern, an den Rand des möglichen wirtschaftlichen Ruins.

Moreno sieht sich als Journalist, der Wahrheit verpflichtet. Einen Heldenstatus für sich beansprucht er nicht.

Man sollte nicht unterschätzen, wie schwierig es ist, ein solches Buch zu schreiben. Moreno hätte der Versuchung unterliegen können, sich zu überhöhen, und sei es durch übertriebenes Understatement. Aber er sieht sich als Journalist, der Wahrheit verpflichtet. Einen Heldenstatus für sich beansprucht Moreno nicht. Er widersteht auch der Pathologisierung von Relotius; sein Befund bleibt beim Hochstaplertum, obwohl Relotius dem Klischee des eloquenten Betrügers widerspricht. Relotius selber war für das Buch nicht zu Aussagen zu bewegen; seine Anwälte haben Moreno auch noch dargelegt, dass allzu viele Interna justiziabel sein könnten. Die «Spiegel»-Redaktion war in Grenzen kooperativ.

Warum war Claas Relotius so erfolgreich? Der Stil spielte eine wichtige Rolle. Moreno nennt die «etwas verkitschte Sprache» und «monokausale, geradezu filmische Erklärungsmuster». Attribute wie «melodramatisch» und «hölzern» fallen. Die Texte seien auf Effekt geschrieben, was Moreno allerdings als legitim ansieht. «Relotius schrieb, was seine Redakteure, wie er glaubte, im Blatt haben wollten.» Warum die Einschränkung «wie er glaubte»? War es nicht offensichtlich? Denn später stellte Moreno fest: «Relotius nahm der Redaktion die Ungewissheit. Nicht die unerreichte schreiberische Qualität machte ihn ungewöhnlich, sondern die unerreichte Häufung, mit der er guten Stoff ausgrub – in der Disziplin war Relotius unerreicht.» Nahezu alle «liessen sich blenden vom Stoff, vom Sound, von den Recherchesensationen, die er wie ein Uhrwerk lieferte.» Und Relotius bediente perfekt die weltanschaulichen Sichtweisen seiner Auftraggeber – und der Leser.

Für die Juroren der Medienpreise hatten die Lobreden auf Relotius keine Konsequenzen. Spricht man sie heute darauf an, reagieren sie zunächst betroffen. Hakt man nach, werden sie patzig.

Dafür gab es einen Medienpreise nach dem anderen. Sich sonst stets kritisch gebende Journalisten schmolzen in ihren Lobreden auf Relotius dahin. Aus einer Laudatio zum Reporterpreis 2018 von Ines Pohl, der ehemaligen taz-Chefredakteurin und heutigen Intendantin der Deutschen Welle, zitiert Moreno: «Es gibt aber auch die grosse Frage nach der Glaubwürdigkeit unseres Berufsstands, die uns alle bewegt. Das haben wir immer mitrefletkiert, inwiefern sind die Reportagen Beleg dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen wirklich draussen waren, gut recherchiert haben, sorgfältig gearbeitet haben.» An Peinlichkeit ist das nicht zu überbieten.

Für die Juroren hatten solche Reden im Übrigen keine Konsequenzen. Spricht man sie darauf an, reagieren sie zunächst betroffen. Hakt man nach, werden sie patzig. Der Fernsehproduzent Friedrich Küppersbusch, Jury-Mitglied beim Reporterpreis 2018, versucht sich gegenüber Moreno so zu rechtfertigen: «Man kann dem Schalterbeamten kritische Fragen stellen, den Banküberfall hat er nicht begangen.» Was sagen diese Journalisten, wenn sich ein Wirtschaftsboss oder Politiker derart herauswinden sollte?

Hätte er damals von Relotius‘ Heldenstatus in der Redaktion gewusst, hätte er seine Kritik nicht formuliert, schreibt Moreno im Buch. Das ist nicht ganz glaubhaft, zumal, wenn man die interne Lage vom November und Dezember 2018 rekapituliert, wie es Moreno selber macht: «Der Mann […], der ihn die letzten Jahre protegiert und gefördert hatte, Ressortleiter Matthias Geyer, sollte zum Jahreswechsel zum Blattmacher des ‹Spiegel› aufsteigen. Der Mann, der Relotius vor Jahren zum ‹Spiegel› geholt hatte, Ullrich Fichtner, sollte Chefredakteur werden. Die drei Männer: Relotius, Geyer und Fichtner, sie alle standen keine vier Wochen vor der Beförderung ihres Lebens.» Relotius wäre Morenos Vorgesetzter geworden, hätte als Ressortleiter kaum noch Reportagen geschrieben. Wie die neue Struktur, die ab 1. Januar 2019 wirksam werden sollte, bereits gelebt wurde, kann man im «Spiegel»-Abschlussbericht nachlesen: «Ullrich Fichtner wurde von Geyer schon als Chefredakteur angesehen, und auch Fichtner selbst empfand sich als Chefredakteur.» Das kann auch Moreno kaum entgangen sein. Die beiden damals noch amtierenden Mitglieder der Chefredaktion, Dirk Kurbjuweit und Susanne Beyer, waren bis wenige Tage vor der Veröffentlichung nicht informiert.

Moreno bleibt dem «Spiegel» gegenüber erstaunlicherweise loyal. So will er um jeden Preis verhindern, dass andere Medien als der «Spiegel» Relotius entlarven.

Da kam der «Kanake», wie sich Moreno als Sohn spanischer Einwanderer selbst beschreibt, der vielleicht nur ein bisschen neidisch auf den erfolgreichen Kollegen war, und krittelte an einem Text herum. Vielleicht hätte Moreno nichts gesagt, wenn Ressortleiter Matthias Geyer während der Arbeit zum gemeinsamen Text nicht eine Mail wie eine Regieanweisung geschrieben hätte. Relotius solle «einen Latino-Hasser […] finden, der ‹heissgelaufen› sei und sich ‹wie Obelix auf die Römer› freue.» Als Relotius Morenos Text von der mexikanisch-amerikanischen Grenze liest, schreibt er ihm, wie Moreno seine Hauptfigur zu schildern habe: «Lass sie einfach ziehen, in einen Bus steigen, bei einem Schlepper ins Auto steigen (…) Wie in einem guten Film, nicht wie in einem schlechten.»

Diese Nachrichten, so Moreno, lasen sich wie «das Treatment zu einem Drehbuch» und gingen weit über das «übliche Vorgespräch zu einer Recherche» hinaus. Moreno stellt dieses Vorgehen als ungeheuerlich, aber als Einzelfall dar. Obwohl er ahnt, dass man ihn feuern wird, wenn er mit seinen Recherchen nicht überzeugen kann, bleibt er dem «Spiegel» gegenüber erstaunlicherweise loyal. So will er um jeden Preis verhindern, dass andere Medien als der «Spiegel» Relotius entlarven.

Als er erfährt, dass eine amerikanische Journalistin ebenfalls über «Jaegers Grenze» recherchiert, kann er sie vor einer schnellen Veröffentlichung im Guardian oder der New York Times abhalten, indem er ihr eigene Rechercheresultate verspricht. Moreno, der auf eigene Kosten in die USA fliegt, schreibt Fichtner von der drohenden Enthüllung von aussen. Fünf Monate später, im Abschlussbericht, erkennt dieser darin «schmierige Drohungen». Immer noch behaupten Fichtner und Geyer, Morenos Mails, die Indizien und Beweise für die Fälschungen aufzeigten, seien «missverständlich» gewesen. «Wenn meine Chefs tatsächlich diese E-Mails nicht verstanden haben, frage ich mich, wie sie es an die Spitze des deutschen Journalismus geschafft haben», so Moreno. Im Abschlussbericht heisst es, dass die Informationen klar genug waren, «um den Vorwurf des Betrugs durch Relotius nachvollziehen zu können. Es wäre ab diesem Moment möglich gewesen, Relotius auffliegen zu lassen, wenn ein Verantwortlicher eine Überprüfung der Vorwürfe vorgenommen oder veranlasst hätte.» Warum hatte man nach Morenos Vorwürfen nicht einfach kurz recherchiert, zum Beispiel bei den Kollegen von «Spiegel»-TV, denen auch Ungereimtheiten aufgefallen waren, die Relotius aber offenbar erfolgreich zerstreuen konnte?

Am Ende fälschte Relotius sogar E-Mails. Moreno musste seinen Vorgesetzten erklären, woran man dies erkennen kann.

Immer wieder betont Moreno, wie eloquent Relotius Zweifel zerstreute. Zum Teil mündlich, aber auch in Mails. Er spricht von Brillanz, auch was die Verteidigungsreden gegen Morenos Recherchen angeht. Allerdings gaben ihm Geyer und Fichtner die Erkenntnisse Morenos sofort weiter. Am Ende fälschte Relotius sogar E-Mails. Moreno musste seinen Vorgesetzten erklären, woran man dies erkennen kann. Özlem Gezer, die stellvertretende Leiterin des Gesellschaftsressorts, war laut Moreno in den entscheidenden Mails nicht einkopiert. Als sie Relotius zu Hause aufsuchte, kapitulierte und gestand der Betrüger plötzlich. Dieses Kapitel ist am wenigsten ausführlich; über das Zustandekommen dieses Geständnisses hätte man gerne mehr erfahren.

Moreno betont auch, dass der «Spiegel» keine «Fälscherbude» sei, er spricht vom Einzelfall. Relotius sei kein Reporter gewesen: «Er war ein Hochstapler, der […] eher zufällig zum Print-Journalismus kam, weil er bald merkte, dass jemandem mit seinen Fähigkeiten genau hier eine meteoritenhafte Karriere offenstand.» Er sei kein Reporter gewesen, weil er «beim geringsten Widerstand eben nicht ‹dranblieb›, nicht ‹nachhakte›, nicht nach Alternativen suchte. Relotius erfand. Er quälte sich nicht. Er sparte sich den schwierigen Part, die eigentliche Arbeit». Man kennt das: Um den eigenen Berufsstand zu schützen, wird der Böse aus der ehrbaren Zunft verbannt.

Im Abschlussbericht des «Spiegel» gibt es erstaunliche Bemerkungen über Journalistenschulen, die – so heisst es – Generationen von Schülern lehrten, «Szenerien auszuleuchten, […] Protagonisten zu formen, Widersprüchliches und Sperriges wegzulassen, schwarz-weiss zu erzählen, Grautöne zu meiden, die Wirklichkeit der Dramaturgie unterzuordnen, Geschichten rund zu machen.» Man führt den ehemaligen Journalistencoach Michael Schmuck ein. Dieser hatte eine Diskussionseinheit mit «bekannten» Reportern absolviert über die Frage, ob man in journalistischen Texten eine Kunstfigur einfügen, Anwesenheit suggerieren, obwohl man nicht dabei war, oder Fakten weglassen dürfe. «In aller Regel», so Schmuck, «waren sie der Meinung: Ja, das alles darf man in gewissem Umfang.»

Moreno macht klar, dass beim «Spiegel» gut bezahlt wird. Es ist fast ein Paradies. Der finanzielle Druck kann es also nicht gewesen sein.

Soll damit der Schwarze Peter an die Ausbilder weitergegeben werden? Abermals wäre man damit nicht besser als diejenigen, die man laufend publizistisch angreift. Moreno schreibt, dass beim «Spiegel» nicht ausgebildet wird – man bedient sich aus dem Pool von Absolventen oder bei der Konkurrenz. Ein Einzelfall also? Jemand, der nicht zurechtkommt mit dem Druck oder dem Ruhm? Das Geld? Die Branche ächzt unter prekären Bedingungen für die Journalisten, besonders die freien Schreiber. Moreno macht klar, dass beim «Spiegel» gut bezahlt wird. Es ist fast ein Paradies. Das kann es also nicht gewesen sein.

Wie die Aufklärungskommission sieht auch Moreno eine Hauptursache für die Katastrophe in der speziellen Konstruktion des «Gesellschaftsressorts», für das Relotius tätig war. Geschaffen wurde es 2001, als das ökonomisch gescheiterte «Spiegel-Reporter»-Magazin in das Wochenblatt als sogenanntes «Querschnittsressort» integriert wurde. Hier werden Themen wie etwa Aussenpolitik oder Sport stilistisch anders behandelt als in den zuständigen Ressorts. Das führte immer wieder zu Auseinandersetzungen mit den Fachressorts. Bei den Recherchen würden die Reporter des Gesellschaftsressorts häufig «verbrannte Erde» hinterlassen, so die Kommission, «weil sie sich nicht um eine dauerhafte Kooperation mit den Informanten vor Ort» kümmerten. Gleichzeitig wurde das Gesellschaftsressort von der Chefredaktion immer gefördert. Einige «Spiegel»-Mitarbeiter sagten der Kommission, dass sie die Texte des Gesellschaftsressorts nicht mehr lesen würden und sprachen von «Ermüdungsbruch». Nicht unwichtig ist die Feststellung, dass die Dokumentarabteilung für das Gesellschaftsressort separat und personell äusserst gering besetzt war und die anderen Fachdokumentare kaum involviert wurden.

Moreno ist in den Kapiteln, in denen es um die Einordnung und die Folgen des Skandals für die Branche geht, zurückhaltend bis widersprüchlich.

Hinzu kam der bereits vom Gründer Rudolf Augstein forcierte und immer weiter geführte Gedanke einer Redaktion, die «auf Konflikt basierte. Konkurrenzkampf, Zwietracht, Misstrauen waren gewünscht, es sollte die Redakteure motiviert halten.» Moderne Trainer praktizieren den Wettbewerbsgedanken in Mannschaftssportarten. Fraglich dürfte sein, ob die bewusste Inkaufnahme von Zwietracht und Misstrauen in einem solchen Umfeld auf Dauer qualitätsfördernd ist.

Moreno ist in den Kapiteln, in denen es um die Einordnung und die Folgen des Skandals für die Branche geht, zurückhaltend bis widersprüchlich. Einerseits betont er, wie gelungen die gefälschten Reportagen waren, wie Relotius die moralischen Wertvorstellungen des Publikums und die «allgemein vorherrschende Meinung in der Mitte der Gesellschaft» bediente. Er spricht sogar vom «Reporter-Populisten», dem es, ähnlich einem dopenden Sportler, nur um seine Karriere gegangen sei. Dann wiederum relativiert er: «Seine Karriere dauerte sieben Jahre, lang genug, um eine Katastrophe epischen Ausmasses anzurichten, aber nicht lang genug, damit auch Leser einen kennen.» Wie passt das mit den an anderer Stelle festgestellten Zustimmungen der Leser zusammen?

Das Problem des «Thesenjournalismus», dessen Zeiten laut Abschlussbericht für den «Spiegel» vorbei sein sollen, sieht Moreno nicht.

Merkwürdig, dass er Relotius‘ Reportagen nicht als «Fake-News» einschätzt. Diese seien «Nachrichten, meist in sozialen Netzwerken, die bewusst kreiert werden, um Leser zu manipulieren. Das können Übertreibungen, Vereinfachungen oder schlichtweg erfundene Berichte sein.» Aber das ist genau das, was Relotius lieferte – und das ganz ohne soziale Netzwerke. Relotius hatte übrigens immer erfolgreich verhindert, dass seine Reportagen im Internet frei verfügbar sind – denn so wären sie frühzeitig als Fälschungen aufgeflogen.

Das Problem des «Thesenjournalismus», dessen Zeiten laut Abschlussbericht für den «Spiegel» vorbei sein sollen, sieht Moreno nicht. Sein Eindruck sei, «dass es zu wenig Ideologie gibt, nicht zu viel. Die Unterschiede zwischen den Grossen der Branche wie ‹FAZ›, ‹Süddeutsche›, ‹Spiegel›, ‹Focus› und ‹Bild› sind deutlich geringer als früher. Das politische Meinungsspektrum der Medienlandschaft ist zusammengeschrumpft, so wie das in der Gesellschaft und der Politik.» Wann hat er zuletzt «Bild» oder «Focus» gelesen?

Das Problem der «Selbstbeweihräucherung» der Branche sieht Moreno nicht anders als bei Medizinern oder Rechtsanwälten.

Dann wieder eine andere Einordnung: «Die Werbeindustrie, Social Media und einige andere sind unsere Konkurrenten.» Wie kann Social Media eine Konkurrenz zu einem journalistischen Magazin sein? Immerhin beklagt er – zu Recht – die kürzer und heftiger werdenden Erregungszyklen. Aber welche Konsequenzen sollte es haben?

Das Problem der «Selbstbeweihräucherung» der Branche sieht Moreno nicht anders als bei Medizinern oder Rechtsanwälten. Der Unterschied ist ihm scheinbar nicht klar: Journalisten stehen permanent unter Beobachtung – durch die Öffentlichkeit, in deren Namen sie tätig sind. Sie exponieren sich, durchaus gewollt, schwingen sich zu Richtern auf, wissen eigentlich immer alles besser, zeigen – fast immer ungefragt – eine politische «Haltung», bis hin zum politischen Aktivismus für dieses oder jenes. Sie berichten nicht nur, sie überlassen die Urteilsbildung nicht dem Leser oder Zuschauer allein, sondern übernehmen die Rolle des Welterklärers. Besonders ausgeprägt ist dies bei den sogenannten «Edelfedern», jenen Starjournalisten, die innerhalb der Branche zu festen, unhinterfragbaren Referenzgrössen erklärt werden. Selbst Moreno erkennt hier eine zuweilen «fulminate Arroganz».

Als Abrechnung taugt das Buch nicht. Das könnte man von Juan Moreno, der bis heute als freier Mitarbeiter beim «Spiegel» arbeitet, auch gar nicht erwarten.

Morenos «Tausend Zeilen Lüge» liefert einen guten und unaufgeregten Einblick in die Chronologie der Ereignisse. Die These, Relotius habe sich nur etwas zu weit ins literarische Fach begeben, widerlegt er; Relotius plagiierte. Als Abrechnung taugt das Buch nicht. Das könnte man von Juan Moreno, der bis heute als freier Mitarbeiter beim «Spiegel» arbeitet, auch gar nicht erwarten. Der Abschlussbericht der «Spiegel»-Kommission klingt ein bisschen wie die Beschwörungen der Finanzbranche nach der Lehman-Pleite 2008 – viele gute Absichten, am Ende jedoch wenig greifbares.

Nach Relotius gab es diverse kleinere Journalistenbeben. Katharina Wulff-Bräutigam hatte für WDR-Dokumentarfilme Schauspieler gecastet und diese mit falschen Namen ausgestattet, aber als Privatleute vorgestellt. Wulff-Bräutigam entwickelte allerdings kein Unrechtsbewusstsein. Quantitativ gravierender und branchenübergreifender war der Fall des Journalisten Dirk Gieselmann, der für den «Spiegel», die SZ und die «Zeit» ebenfalls gefälschte Reportagen verfasst hatte.

Wie man sich inzwischen in so manchem Leistungssport kaum noch an den Höchstleistungen erfreuen kann, weil stets auch der Verdacht des Dopings mitschwingt, so wird der Journalismus nach Relotius immer auch Verdachtsmomente akkumulieren. Da helfen keine noch so hehren Worte.

Juan Moreno, Tausend Zeilen Lüge – Das System Relotius und der deutsche Journalismus, Rowohlt, Berlin 2019

Leserbeiträge

Luki Frieden 14. Oktober 2019, 18:10

Juan Morena schrieb mit „Tausend Zeilen Lüge“ein tolles Buch, dessen Sprache auf dem Punkt, dessen Inhalt glaubwürdig und frei von Larmoyanz und dessen Autor mit Bescheidenheit und geistiger Schärfe gesegnet ist. Und sehr spannend, ja, das ist das Buch auch. Wahrlich ein „Seitendreher“.