von Adrian Lobe

TikTok … hinter den lustigen Videos tickt eine «Datenbombe»

Die chinesische Video-App TikTok geht derzeit durch die Decke. Auch Medienunternehmen experimentieren damit. Kritische Stimmen warnen allerdings vor einem Zugriff chinesischer Behörden.

Die derzeit angesagteste Social-Media-Plattform kommt für einmal nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus Peking: TikTok heisst die Video-App, die gerade durch die Decke geht. Eine halbe Milliarde Nutzer zählt der Dienst mittlerweile – und liegt damit bereits vor Twitter. In den App-Stores von Google und Apple hat TikTok, gemessen an den Downloads, bereits Youtube, Instagram und Facebook überholt. Anfang dieses Jahres durchbrach TikTok die Schallmauer von total einer Milliarde Downloads. Mittlerweile wurde die App 1,4 Milliarden Mal heruntergeladen.

Der Aufstieg von TikTok zu einer der populärsten Social-Media-Apps ist eines jener Netzphänomene, das sich den über 20-Jährigen nicht direkt erschliesst.

Tiktok muss man sich am ehesten als eine Art digitales Daumenkino vorstellen. Die App ist für Memes und lustige Videoclips bekannt, die in der Regel nicht länger als 15 Sekunden dauern. Vor allem bei Teenagern ist TikTok populär. Längst haben grosse Marken wie Coca-Cola, Ralph Lauren oder Nike den Nutzen der App erkannt, auf der sich die werberelevante Zielgruppe der unter 20-Jährigen erreichen lässt. Aber auch Medienunternehmen experimentieren mit der App.

So hat beispielsweise die «Washington Post» einen eigenen verifizierten TikTok-Account (mit dem leicht ironischen Hinweis «We are a newspaper»), wo sie Videoclips einspeist. Dabei handelt es um humoristisch aufbereitete Szenen aus dem Redaktionsalltag. Der für Comics zuständige Kulturredaktor und der Gaming-Reporter streiten etwa in einem inszenierten Duell über die Frage, wer den besten Job in der Redaktion hat. Ein anderer Redaktor der «Washington Post» spielt theatralisch, wie es sich anfühlt, die Titelgeschichte der Zeitung im Blatt zu haben. Die Follower können dabei einen Blick hinter die Kulissen der «Washington Post» erhaschen, der sehr viel spielerischer und weniger bedeutungsschwer daherkommt als etwa im Kinofilm «Die Verlegerin». Der altehrwürdigen Zeitung folgen auf TikTok gut 230’000 Nutzer. Das ist mehr als die Hälfte der gedruckten Auflage (359’000 Exemplare). Diese Zahl ist darum bemerkenswert, weil vermutlich der Grossteil der Follower auf diese Weise erstmals mit der Marke «Washington Post» in Kontakt kommt. Ob sie je Geld ausgeben werden für (digitale) Inhalte der Zeitung, steht indes auf einem anderen Blatt.

«Venty», ein Ableger von «20 Minuten», soll via TikTok die Reichweite der Gratiszeitung im Social Web vergrössern.

Auch andere Medien wie «Buzzfeed», NBC, das Kulturmagazin «Complex», die «Dallas Morning News» oder «Hearst» veröffentlichen Clips auf TikTok. Für Fernsehsender ist die Video-App quasi eine logische Erweiterung ihrer Bewegtbild-Aktivitäten, aber auch für ein Online-Medium wie «Buzzfeed», das in den vergangenen Jahren viel Geld in den Aufbau einer Videoredaktion gesteckt hat, drängt sich die Bespielung von TikTok geradezu auf.

Auch in der Schweiz sind Medienunternehmen auf den Überflieger aus Fernost aufmerksam geworden. «Venty», ein Ableger von «20 Minuten», soll via TikTok die Reichweite der Gratiszeitung im Social Web vergrössern. Eines der bisher 16 Kurzvideo hat bereits 1,3 Million Klicks generiert. Darin behauptet ein «Venty»-Mitarbeiter, man könne mit der Eingabe einer Zahlenkombination bei den «Selecta»-Automaten gratis Ware beziehen. Auch die Mehrheit der anderen Videos «verrät» solche Hacks. Weil die (werberelevante) Zielgruppe bei TikTok zu finden ist, postet «Venty» seine Beiträge inzwischen nur noch dort und auf Instagram. Youtube und Facebook bespielt man nicht mehr. «TikTok wird im Werbemarkt immer mehr eine Rolle spielen», sagte «Venty»-Chef Ronny Nenniger jüngst im Interview mit dem Mediendienst «persoenlich.com».

Der Boom der chinesischen Teenie-App erinnert an den Snapchat-Hype vor zwei Jahren, als reihenweise Redaktionen auf den Zug der Foto-App aufsprangen.

Die Hoffnungen sind gross. «Kann TikTok den Journalismus retten?», fragte das britische Medienportal «Journalism.co.uk». Der Boom der chinesischen Teenie-App erinnert an den Snapchat-Hype vor zwei Jahren, als reihenweise Redaktionen auf den Zug der Foto-App aufsprangen. Bei «Spiegel Online» produziert weiterhin ein siebenköpfiges Team aus Text- und Videoredakteuren Inhalte für Snapchat – das Angebot erreicht laut Verlagsangaben drei Millionen Nutzer im Monat.

Doch die anfängliche Euphorie ist längst verflogen. Seit dem Börsengang verliert Snapchat Nutzer und schreibt rote Zahlen. Der amerikanische Zeitschriftenverlag Condé Nast hat die Snapchat-Aktivitäten seiner Titel «Vogue», «Wired» und «GQ» bereits im vergangenen Jahr eingestellt, die dafür verantwortlichen Journalisten wurden entlassen. Bereits zuvor waren die teilnehmenden Verlage unruhig geworden, weil Snapchat seine App neu gestaltet und den Algorithmus angepasst hatte, was bei einigen Kooperationspartnern zu einem Einbruch der Zugriffe und Interaktionen führte. Nachdem das Unternehmen dann auch noch die Vergütungen für Content-Lizensierung strich, stieg auch CNN als Partner aus. 2017 hatte Snapchat noch 100 Millionen Dollar Werbebeteiligung an seine Medienpartner ausgeschüttet.

Es fliesst also reichlich Geld nach China. Die Frage ist nur, ob auch die Medienpartner davon profitieren.

Ist TikTok nur ein vorübergehender Hype? Die chinesische Mutterfirma ByteDance ist mit einer Marktkapitalisierung von 75 Milliarden Dollar das wertvollste Start-up der Welt. Für sogenannte Challenges, Mitmach-Aktionen, welche die höchste Interaktivität versprechen, zahlen Werbekunden schon mal 150’000 Dollar am Tag. Es fliesst also reichlich Geld nach China. Die Frage ist nur, ob auch die Medienpartner davon profitieren. Account-Inhaber können momentan noch keine eigenen Anzeigenplätze in ihren Videos verkaufen, auch gibt es keine Plattform, auf der man Sponsored Content publizieren könnte, also journalistisch aufgemotzte Werbung, mit der viele Medien im Netz Geld verdienen.

Gegenwind erhält TikTok derweil von den amerikanischen Regulierungsbehörden: Der ressortübergreifende Regierungsausschuss zur Kontrolle von Auslandinvestitionen in den USA will den Übernahme-Deal von Musical.ly, dem Vorgängerdienst, erneut prüfen, nachdem US-Senatoren die Sorge äusserten, TikTok könne im Hinblick auf die US-Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr zum Einfallstor für chinesische Wahlmanipulationen werden. 2017 hatte ByteDance die populäre Playback-App aus Shanghai übernommen und in TikTok überführt. Die US-Wettbewerbsbehörde FTC (Federal Trade Commission) hat TikTok wegen der illegalen Sammlung von Namen, E-Mail-Adressen, Bildern sowie Standortdaten von Minderjährigen bereits eine Strafe von 5,7 Millionen Dollar aufgebrummt.

Der US-Medienprofessor David Carroll warnt im Zusammenhang mit TikTok vor einer chinesischen «Datenbombe», die jeden Moment explodieren könne.

Auch in Europa stellen sich kritische Fragen. So ist unklar, ob Medienunternehmen, die Videos über TikTok verbreiten, gegen geltendes Datenschutzrecht verstossen, wenn Nutzerdaten möglicherweise auf chinesischen Servern verarbeitet und gespeichert werden. Der Datenschutzbeauftragte in Grossbritannien, das Information Commissioner’s Office (ICO), hat bereits Untersuchungen gegen das Unternehmen eingeleitet.

Der US-Medienprofessor David Carroll twitterte einen Screenshot der Privatsphäre-Bestimmungen von TikTok, wonach «Informationen mit jedem Mitglied oder Partner unserer Gruppe geteilt werden» – das heisst möglicherweise auch mit Regierungsbehörden. Carroll warnt vor einer chinesischen «Datenbombe», die jeden Moment explodieren könne.

Zwar werden gemäss Medienberichten keine Daten amerikanischer oder europäischer Nutzer auf chinesischen Servern gespeichert. Das muss einen Zugriff chinesischer Behörden allerdings nicht ausschliessen. Die «Washington Post» berichtete unter Berufung auf ehemalige US-Mitarbeiter, dass Content-Moderatoren in Peking das letzte Wort über die Zulassung von Videos hatten. Überzeugungsversuche, sensible Videos nicht zu blockieren, seien gescheitert. Die Mutterfirma ByteDance dementiert die Vorwürfe. «Unsere Content- und Moderationsrichtlinien werden von einem US-Team geführt und von keiner ausländischen Regierung beeinflusst», teilte ein Sprecher der «South China Morning Post» mit. Peking verlange keine Zensur.

In China, wo die App unter dem Namen Douyin läuft, sieht das freilich ganz anders aus: Dort werden massenhaft Clips zensiert. Neben den drei T – Tibet, Taiwan, Tiananmen – betrifft die Zensur auch Verbrechen in anderen kommunistischen Staaten, etwa den Genozid in Kambodscha.

Bei TikTok hat die Zensur System. Im algorithmisch generierten Feed werden systematisch Videos ausgesiebt.

Für potenzielle Partner aus dem Westen stellt sich deshalb die Frage, ob es aus medienethischen Gesichtspunkten vertretbar ist, mit einem Unternehmen zu kooperieren, das kritische Inhalte zensiert. Gewiss, auch Apple Music hat in diesem Jahr einen kritischen Song des Hongkonger Sängers Jacky Cheung entfernt, der auf das Tiananmen-Massaker und die aktuellen Proteste in Hongkong anspielt. Doch bei TikTok hat die Zensur System. Im algorithmisch generierten Feed werden systematisch Videos ausgesiebt. Der US-Journalismusprofessor Michael J. Socolow forderte daher in einem Gastbeitrag für das Magazin «Politico», dass Journalisten keine Plattform mit einer Zensurpraxis promoten dürften. Doch vielmehr, als dass TikTok den Verlagen eine Plattform für die Verbreitung ihrer Inhalte bietet, scheint es, bieten Verlage mit ihren Inhalten TikTok ein lukratives Werbeumfeld.

Leserbeiträge

Stefan 22. November 2019, 09:28

Welche Gefahr droht jemand aus dem Westen, wenn chinesische Regierungsbehörden Zugriff auf meine Daten hätten?

Im gegensatz zu den mächtigen Werkzeugen, die vielfältig genutzt werden, um unliebsame Meinungen zu unterbinden, indem z.b. zahlungsdienstleister nicht mehr dein Geld annehmen dürfen, steht den Chinesen wenig Mittel zu Verfügung, um kritische Menschen zu bestrafen.
Daher wäre mir lieber die Daten in China als in den USA.