von Karl Lüönd, Nick Lüthi

20 Jahre «20 Minuten», Teil 4: «Wir haben wichtige Trends früh erkannt und intensiv darauf gesetzt.»

Die Gratiszeitung «20 Minuten» gilt als der grösste kommerzielle Erfolg im schweizerischen Pressewesen. Innert 20 Jahren entwickelte sich eine Idee aus dem hohen Norden zur populärsten Medienplattform der Schweiz. Als Verwaltungsrat, und heute dessen Präsident, hat Tamedia-Verleger Pietro Supino (auf dem Bild unten links) die gesamte Entwicklung miterlebt und als Akteur mitgeprägt. Marcel Kohler (rechts) verantwortet seit 14 Jahren den geschäftlichen Bereich der Gratiszeitung. Die MEDIENWOCHE hat die beiden Tamedia- und bald TX Group-Kader zum Gespräch getroffen anlässlich des runden Geburtstags von «20 Minuten».

Am Morgen des 4. Dezember sieht «20 Minuten» aus wie so oft in letzter Zeit. Die Titelseite gibt den Ton an: «Abschlepp-Tipps für Partys spalten Frauen» lautet die Titelzeile des Textaufmachers. Als grossflächiger Bildstoff darunter ein junger Mann, der ein Selfie schiesst vor Publikum. Es handelt sich um Capital Bra, ein vor allem bei jüngeren Menschen bekannter Musiker. Die News: Auf Streaming-Plattformen in der Schweiz wird der Berliner Rapper am meisten gehört. Als einzige Politgeschichte auf der Front wird ein Eigenbericht angerissen von weit hinten im Blatt, über die geplante Notfallgebühr in Spitälern.

Ein Drittel der Zeitung besteht aus Werbung, 10 von 32 Seiten sind Inserate.

Information und Unterhaltung lautet die Mission. In dieser Reihenfolge, sagen die Verantwortlichen. Die Realität zeigt oft das Gegenteil. «20 Minuten» habe nicht den Anspruch, Informationen einzuordnen entlang einer politischen Agenda, sagt Verleger Pietro Supino. Das sei auch nicht nötig, um die Jungen zu erreichen. Hierfür sei es wichtiger, die Interessen und (digitalen) Aktivitäten der Zielgruppe gut zu spiegeln in der Berichterstattung. Das schafft «20 Minuten». Entsprechend gut läuft das Geschäft. Das zeigt auch ein Blick in die Zeitung an diesem Dezembermorgen. Die Inserateplätze sind dicht belegt. Ein Drittel der Zeitung besteht aus Werbung, 10 von 32 sind Inserate.

So rund wie es bei «20 Minuten» läuft, so harzig bewegen sich die Bezahlzeitungen.

Wie hält Tamedia die Geldmaschine «20 Minuten» am Laufen? Der Vorteil der schieren Grösse spielt eine wichtige Rolle. Aber die Grösse muss man auch halten können. Und die Konkurrenz schläft nicht. Darum setzt «20 Minuten» jetzt auch verstärkt auf Audio und Video.

Tamedia-Verleger Pietro Supino und «20 Minuten»-Verlagschef Marcel Kohler nahmen sich eine Stunde Zeit, um mit Karl Lüönd und Nick Lüthi von der MEDIENWOCHE über die Bedeutung von «20 Minuten» für das gesamte Unternehmen zu reden, das bald TX Group heissen wird. So rund wie es bei «20 Minuten» läuft, so harzig gestaltet sich der Transformationsprozess bei den Bezahlzeitungen. Ohne staatliche Hilfe gehe es nicht mehr, sagt Supino. Selber helfen will er mit Leistungen, welche die Gruppe bereitstellen kann; eine Art interner Quersubventionierung.

Karl Lüönd:

Herr Supino, haben Sie sich auch schon mal überlegt, wie Tamedia heute dastehen würde ohne die Übernahme von «20 Minuten» vor 16 Jahren?

Pietro Supino:

«20 Minuten» steht am Ursprung einer dynamischen Entwicklung von Tamedia von einem Zürcher Verlagshaus zu einer breit diversifizierten Schweizer Mediengruppe. Genauso wichtig wie der Erfolg von «20 Minuten» ist für mich die Bereicherung, die «20 Minuten» im Sinne dieser Entwicklung für die ganze Gruppe mit sich brachte.

Nick Lüthi:

Die ersten Jahre nach der Gründung 1999 war «20 Minuten» ein Konkurrent von Tamedia. Erinnern Sie sich noch, Herr Supino, wie Sie damals im Tamedia-Verwaltungsrat reagiert haben auf die Ankündigung einer neuartigen Konkurrenz aus dem Norden? Haben Sie realisiert, dass eine neue Ära anfängt?

Supino:

Die Verleger im Allgemeinen haben das Phänomen damals unterschätzt. Man hat nicht realisiert, dass da eine neue Qualität geschaffen wird, die einem echten Bedürfnis entspricht. Unter den Verlegern waren wir dann aber die ersten: Mein Onkel und Vorgänger Hans Heinrich Coninx und unser damaliger CEO Martin Kall haben die Opportunität erkannt und meisterhaft gehandelt. Aber nicht aus der Defensive, sondern weil sich eine gute Chance bot.

Marcel Kohler, Leiter Bereich Werbung & Pendlermedien

Lüthi:

Die Verleger hätten das Phänomen unterschätzt, sagen Sie. Nicht ganz alle. Die NZZ hatte Mitte der 1990er-Jahre ein Projekt für eine Gratiszeitung. Sie waren damals im Verlag der NZZ, Herr Kohler. Erinnern Sie sich, wie sich dieses Projekt entwickelte?

Kohler:

Verlagsdirektor Marco de Stoppani zählte zur Fraktion, die was machen wollten in diese Richtung. Auf der publizistischen Seite, die ja eine gewichtige Stimme hat an der Falkenstrasse, diskutierte man das Ganze kritischer. De Stoppani wollte das Projekt vorantreiben. Aber letztlich konnte er sich nicht durchsetzen.

Lüthi:

Wie waren Ihre Gedanken, als Ende der 1990er-Jahre verschiedene Gratsiszeitungsprojekte in der Schweiz aufkamen?

Kohler:

Wir begrüssen bei «20 Minuten» jeden Monat die neuen Mitarbeitenden. Und das erste Chart, das wir ihnen dann zeigen, sind Stimmen aus dem Markt der Jahrtausendwende, die damals zu «20 Minuten» sagten: Grundlagenirrtum, wird nicht funktionieren, Werbeauftraggeber interessieren sich nicht, man wird nie Geld verdienen, in einem Jahr gibts die nicht mehr. Wenn ich in mich gehe, habe ich es vermutlich nicht so gesagt damals, aber ich hätte dem wahrscheinlich beigepflichtet vor 20 Jahren.

«Im Inserategeschäft spürte man die neue Konkurrenz anfänglich nicht gross. Es war auch eine gute Zeit, das Geschäft brummte.»
Marcel Kohler

Lüthi:

Mit der Ankunft der Gratiszeitungen in der Schweiz, anfänglich «20 Minuten» und «Metropol», betraten neue Mitbewerber den Inseratemarkt. Wie hat das die NZZ damals zu spüren gekriegt?

Kohler:

Es war nicht so, dass man nach einem halben oder auch zwei Jahren gross etwas gespürt hätte. Es war auch eine gute Zeit, das Geschäft brummte.

Lüönd:

War das bei Tamedia auch so? Ich hatte den Eindruck, dass man dort eigentlich sehr schnell merkte, wie der Wettbewerb schärfer wurde, vor allem bei den Stellenanzeigen.

Supino:

Nein, das ist jetzt nicht meine Erinnerung. Es waren goldene Zeiten damals. Grundsätzlich gab es für «20 Minuten» drei Perspektiven: Es konnte ein Flop werden, oder eine erfolgreiche Entwicklung hätte zu Lasten des bestehenden Geschäfts gehen können, oder aber es bedeutet eine Innovation, die zu einer Ausweitung des Markts führt. Eingetreten ist das letzte. Aber am Anfang waren alle drei Varianten denkbar.

Lüthi:

In Deutschland reagierten die Verlage schnell und erklärten den Eindringlingen aus Skandinavien den «Krieg», um sie möglichst schnell vom Markt zu vertreiben – was dann auch gelang; man nannte es den «Kölner Zeitungskrieg». Warum rauften sich um 1999/2000 nicht auch die Schweizer Verleger für Gegenmassnahme zusammen?

Supino:

So viel ich weiss, gab es bei uns keine Initiativen wie in Deutschland. Ich kann Ihnen nicht sagen, warum.

Karl Lüönd, Autor MEDIENWOCHE

Lüönd:

Im letzten Sommer hat «Metro» in Schweden, die erste Gratis-Pendlerzeitung, ihre gedruckte Ausgabe eingestellt. Warum lebt «20 Minuten» weiterhin sehr gut mit Print?

Supino:

«20 Minuten» hat ein fantastisches Team. Das war so von Anfang an. «20 Minuten» ist ein unternehmerisches Medienprojekt und ist es immer geblieben, hervorragend geführt, ein ganz tolles Team.

Kohler:

Danke für die Blumen. Ich kann da auch etwas zurückgeben. Der Erfolg von «20 Minuten» liegt auch darin, dass wir bei «20 Minuten» immer und immer mehr in die Publizistik investiert haben. Allein in der Deutschschweiz sind es rund 100 Journalisten. «20 Minuten» hat eine der grössten Redaktionen in der Deutschschweiz. Wir haben eine wichtige Redaktion in der Romandie und eine im Tessin. Wir haben acht Redaktionsbüros in der ganzen Schweiz. Das hat sonst niemand. Der zweite Punkt ist: 2003 war ein guter Moment für den Markteintritt und wir setzten viel früher als andere auf das digitale Angebot bei «20 Minuten» und dann auch auf mobile, zu einer Zeit, als völlig unklar war, ob sich das durchsetzen wird. Niemand machte Werbung auf dem Handy. Wir haben wichtige Trends früh erkannt und früh und intensiv darauf gesetzt.

Lüönd:

Stimmt es, dass es schon am Anfang die Vision gab, wir drucken die Zeitung nur so lange, bis die Marke etabliert ist und dann zügelt man das Ganze in die digitale Welt?

Supino:

Das habe ich noch nie gehört. Ich hoffe weiterhin, dass wir «20 Minuten» noch lange, am liebsten für immer, auch als gedruckte Zeitung anbieten können.

Lüönd:

Was ist das Wichtigste, das Tamedia oder bald die TX Group, aus dem Langzeitprojekt «20 Minuten» gelernt hat?

Supino:

Unternehmertum, dass es sich lohnt, sich auf Neues einzulassen, dass Bewahren keine Strategie ist, sondern dass man Veränderung als Chance sehen muss. Heute ist «20 Minuten» ein schönes Geschäft, das jetzt zu einem der vier Unternehmen unter dem Dach der TX Group wird.

Pietro Supino, Präsident Tamedia

Lüthi:

Zurück zu einem entscheidenden Moment, den wir noch nicht gewürdigt haben. Die Übernahme von «20 Minuten» durch Tamedia 2003. War das ein einstimmiger Entscheid im Verwaltungsrat?

Supino:

Das Projekt war unbestritten. Womit wir uns und namentlich ich mich schwer getan haben damals, war die Einstellung unseres eigenen Projekts zugunsten von «20 Minuten». Wir hatten gute eigene Leute, die auch ein tolles Projekt geschaffen hatten mit dem «Express». Im Nachhinein muss man aber sagen, es war der absolut richtige Entscheid.

Lüönd:

Nach aussen sah es aber mehr so aus, als ob das hauseigene Projekt für eine Gratiszeitung eine Drohkulisse gewesen wäre. Damit sollten vor allem die damaligen Hauptaktionäre von «20 Minuten» unter Druck gesetzt werden: Entweder verkauft ihr, oder ihr habt jahrelang einen Krieg, bei dem wir zwar beide viel Geld verlieren, aber Tamedia hat die tieferen Taschen.

Supino:

Wir haben unser eigenes Projekt aus Überzeugung und mit Herzblut lanciert, und es ist uns schwer gefallen, es dann zugunsten von «20 Minuten» einzustellen. Der Effekt kann aber schon auch so gewesen sein, wie Sie es beschreiben.

«Ich halte das publizistische Konzept für einen wesentlichen Faktor des Erfolgs von ‹20 Minuten›.»
Marcel Kohler

Lüthi:

Mit Blick aufs Geschäft hat sich die Übernahme gelohnt. «20 Minuten» entwickelte sich sehr schnell zu einem profitablen Projekt. Wie weit ist «20 Minuten» ein kommerzieller Selbstläufer, der sich allein durch die schiere Reichweite selbst am Leben erhält?

Kohler:

Wenn man sich online durchsetzen will, dann muss man jeden Tag beweisen, dass man etwas zu bieten hat. Das Argument, einfach Erfolg zu haben, weil man gratis ist, wäre etwas verkürzt. Natürlich ist das ein Teil vom Geschäftsmodell, und ein wichtiger. Wichtiger ist aber das publizistische Konzept, das halte ich für einen wesentlichen Faktor des Erfolgs von «20 Minuten». Wir sind dem Konzept treu geblieben.

Lüthi:

Welcher Themenmix rechnet sich am besten fürs Geschäft?

Kohler:

Es braucht in erster Linie Leserinnen und Leser, und dann kommen auch die Inserate.

Lüthi:

Aber welche Themen braucht es, damit die Leser kommen?

Kohler:

Unser Selbstverständnis ist Information und Unterhaltung in dieser Reihenfolge. Wir versuchen ein junges Publikum anzusprechen, junge Inhalte zu machen. Ein Beispiel. Als Mediamarkt in die Schweiz kam, vielleicht ein plakatives Beispiel, war das ein gesellschaftliches Ereignis. Das können Sie als Redaktion des Teufels finden. Oder Sie können sagen: Doch, das ist ein Thema, da machen wir was. Wir haben auch live berichtet aus den USA, als das erste iPhone auf den Markt kam. Wir waren nahe beim Konsumenten. Da gibt es immer auch Kreise, die das negativ auslegen. Aber es ist am Schluss mit ein Grund, warum wir nah an unserer Leserschaft sind.

Lüönd:

Mir fiel das immer auf. Wenn nicht ein grosses Ereignis die Nachrichtenlage dominierte, über das man einfach berichten musste – Papst tot oder was auch immer – dann hat «20 Minuten» Konsumthemen gemacht für die jungen Leute. Billig reisen, oder was Sie erwähnt haben mit iPhone und Mediamarkt, aber auch Unterhaltungsthemen. Oft ist das doch einfach Werbung im redaktionellen Kleid.

Kohler:

Sie unterstellen uns etwas. Wir sind da klar anderer Meinung. Es sind Themen, welche die Leserschaft interessieren. Sie fragten vorhin, wie man zu Inseraten kommt. Zu Inseraten kommt man, indem man Leserinnen und Leser hat. Idealerweise kaufkräftige, idealerweise junge. «20 Minuten» schafft es seit 20 Jahren, Leser zu gewinnen.

Lüönd:

Meine Frage kommt ja aus Respekt. Ihnen ist etwas gelungen, was der ganze Rest der Branche nicht geschafft hat. Nämlich die jungen Leser zu gewinnen.

Supino:

Ich möchte noch eine andere Dimension herausheben, die man möglicherweise unterschätzt, die aber entscheidend ist: Das Thema der Qualität. Die grundlegenden Merkmale für Qualität sind Fehlerfreiheit, Wahrheit im Sinn von Vollständigkeit, Transparenz und Fairness. Auf diesen Dimensionen zählt «20 Minuten» zu den Besten im Schweizer Medienmarkt. Die klare Fokussierung auf Information und Unterhaltung in Kombination mit hohen Qualitätsstandards und auch mit einer ausgeprägten Neutralität in der Berichterstattung sind entscheidende Elemente, die zum Erfolg von «20 Minuten» beitragen.

Lüönd:

Sie sind ja weiter gegangen als die meisten anderen Mitbewerber in Bezug auf neue Werbeformen, aufs Einhüllen der Zeitung mit Werbung. Oder es gab Ausgaben, wo eine einzige Firma alle Inserateplätze belegte. So Sachen, welche die Tempelwächter immer ein bisschen schnöde angeschaut haben. Hat das Ihrer Glaubwürdigkeit nichts gemacht?

Kohler:

Mittlerweile machen unsere Mitbewerber ja auch solche Umschläge.

Nick Lüthi, Leiter MEDIENWOCHE

Lüthi:

Das ist auch keine besonders heikle Sonderwerbeform, da ja die Trennung von kommerziellen und redaktionellen Inhalten gewahrt wird. Gibt es Grenzen bei den «kreativen» Werbeformen? Oder machen Sie einfach, was Geld bringt?

Supino:

Man muss unterscheiden zwischen der medienethischen Frage und der Frage der User Experience. Medienethisch haben wir ganz klar die Haltung, dass Werbung als solche gekennzeichnet sein muss. Kommt dazu, dass bei uns auch personell eine Trennung zwischen Redaktion und Werbung gemacht wird. Damit erfüllen wir die höchsten Standards in der Branche. Von der User Experience her muss die Werbung so sein, dass sie das Nutzererlebnis nicht stört, den Lesefluss nicht behindert. Wobei logischerweise in einem Medium, das gratis ist, die Nutzer akzeptieren, dass sie mit Werbung konfrontiert werden.

«Einordnung war nie ein Anspruch oder ein Versprechen, das ‹20 Minuten› abgegeben hat.»
Pietro Supino

Lüthi:

Ich möchte noch zurückkommen auf den Qualitätsbegriff. Sie, Herr Supino, haben die Qualität von «20 Minuten» hervorgehoben. Da gibt es bekanntlich auch andere Ansichten. Die Wissenschaft wendet einen anderen Qualitätsbegriff an als Sie. Die Medienforschung stellt eine Schwäche fest bei «20 Minuten» was die Einordnungsleistung angeht.

Supino:

Einordnung war nie ein Anspruch oder ein Versprechen, das «20 Minuten» abgegeben hat. Information ist das Thema von «20 Minuten», vergleichbar mit den Nachrichtensendungen in Radio oder Fernsehen, die einen Überblick über die Nachrichtenlage vermitteln. Das hat sich konsistent durch die Geschichte von «20 Minuten» durchgezogen.

Lüönd:

Gibt es eine Strategie von «20 Minuten», verstärkt als Dachmarke aufzutreten für die verschiedensten Medien? Ich frage das deshalb, weil Sie sich zum Geburtstag ein Radio geschenkt haben. Sie konnten Planet 105 von Roger Schawinski übernehmen. Wieso sind Sie wieder ins Radiogeschäft eingestiegen, nachdem Sie dieses Kapitel ja 2011 geschlossen haben?

Supino:

Vielleicht ist noch interessant zu wissen, dass wir mit «20 Minuten» ins Ausland expandieren konnten und namentlich in Luxemburg sehr erfolgreich sind mit L’Essentiel. Dort hat sich die Opportunität ergeben, ins Radiogeschäft einzusteigen. Wir waren zuerst eher skeptisch. Aber unsere Luxemburger Partner sahen es als Chance. So haben wir es dann gemacht, und es ist ein Erfolg geworden so weit. Als sich dann in der Schweiz die gleiche Chance bot mit Planet 105, haben wir sie, gestützt auf die Luxemburger Erfahrung, gepackt.

Kohler:

Wir wollen probieren, das Radio einzigartig zu machen, insbesondere mit dem Nachrichtenteil. Nicht um neun und nicht um zehn gibt es Nachrichten. Die Moderatoren im Studio sind mit unserer Redaktion verbunden und wir unterbrechen die Musik immer dann, wenn es eine relevante News gibt. Wir versuchen, einen eigenen Weg zu gehen. Das sollte das Radio stärken, und wir glauben umgekehrt auch, dass das den Medienverbund von «20 Minuten» stärkt.

Lüönd:

Sie haben Luxemburg erwähnt. Ich erwähne Österreich, ich erwähne Dänemark, wo Sie auch mit Gratiszeitungsprojekten unterwegs sind. Gibt es Expansionspläne für weitere Länder – nachdem das Auslandgeschäft ja nie die Kernkompetenz der alten Tamedia war?

Supino:

Richtig, das war nicht eine historische Kompetenz und gehörte auch nicht zum Erfahrungsschatz von Tamedia. Das ist eben ein Teil der Bereicherung, die «20 Minuten» für die ganze Gruppe darstellt. Luxemburg ist ein schöner Erfolg in einem kleinen Land. In Österreich kamen wir relativ spät dazu. «Heute» ist eine vergleichbare Erfolgsgeschichte wie «20 Minuten» im Print. Was wir dort an den Tisch bringen, ist das Aufbauen und Ausbauen des digitalen Angebots, das sich jetzt sehr gut entwickelt. Dagegen sind wir in Dänemark wahrscheinlich zu spät gekommen. Dort ist unser Einstieg kein Erfolg geworden. Zum Glück haben wir für Metroexpress mit einem neuartigen Konzept und zusammen mit Berlingske Media zwischenzeitlich eine gute Lösung gefunden.

«Mit Video wollen wir unsere Positionen im Online-Geschäft stärken und weiter ausbauen.»
Marcel Kohler

Lüthi:

Wir sprachen eben über die Dachmarkenstrategie mit Print, Online und neu auch Radio. Wann kommt TV?

Kohler:

Wir haben bereits in den letzten zwei Jahren massiv ins Bewegtbild investiert. Wir haben eine gute Redaktion, wir kommen da auch vorwärts, sowohl auf Nutzer-, wie auch auf Werbemarktseite. Weil das gut funktioniert, werden auch weitere Schritte folgen. Mit Video wollen wir unsere Positionen im Online-Geschäft stärken und weiter ausbauen.

Lüthi:

Ab 2020 heisst Tamedia neu TX Group. Die Pendlermedien um die Marke «20 Minuten» werden neu als eigenständiges Unternehmen unter dem Dach der Gruppe geführt mit Ihnen Herr Kohler an der Spitze. Tragen Sie nun eine grössere unternehmerische Verantwortung?

Kohler:

Ich bin schon 14 Jahre dabei und trage auch jetzt schon die Verantwortung für «20 Minuten». Die vier Unternehmen der TX Group sollen eigenständiger funktionieren, Verantwortung wahrnehmen, schneller werden. Das ist eine Chance, die es zu nutzen gilt.

Lüönd:

Bleiben wir bei der TX Group. Das ist halt jetzt eine Aktualität, die eingetreten ist, nachdem wir das Gespräch vereinbart hatten. Was ändert sich für den Aktionär? Sie kennen die Kurve? (Karl Lüönd zeigt einen abwärts tendierenden Chart mit der Performance der TAMN-Aktie seit Ausgabe im Oktober 2000.) Es ist ja nichts Berühmtes, was da passiert ist. Werde ich als Tamedia-Aktionär an der neuen Holding beteiligt?

Supino:

Die Aktionäre der heutigen Tamedia werden durch den Namenswechsel der Dachgesellschaft Aktionäre der TX Group. Das ist eine holdingartige Struktur, unter deren Dach vier Unternehmen geführt werden. «20 Minuten», worüber wir sprechen, die Tamedia, wo die Bezahlmedien zusammengefasst sind, Goldbach und die TX Markets, wo unsere Rubrikenplattformen und Marktplätze zusammengefasst sind.

Lüönd:

Irgendwo habe ich einen wunderschönen Titel gelesen. Sinngemäss: «Ohne Bezahlzeitungen wäre TX Group richtig sexy.» Das schreiben die anderen, ich habe das nicht gesagt. Ich frage Sie nur nach Ihrer Meinung dazu.

Supino:

Tamedia ist mit unseren Bezahlzeitungen ein ganz wichtiger Teil der TX Group und ihres Appeals, wenn sie es so bezeichnen wollen. Wir sind stolz auf Tamedia und auf unsere Traditionsmarken. Wir haben die neue Struktur gewählt, weil wir überzeugt sind, dass es für unsere unterschiedlichen Aktivitäten ein Vorteil ist, wenn sie in grösserer Eigenständigkeit in ihren Kulturen nahe an ihren Märkten operieren können.


Lüönd:

Sie kennen doch die Zyniker aus der Finanzwelt. Dort hörte man in letzter Zeit die Meinung: Mit dieser Veränderung zur TX Group werden die einzelnen Unternehmen marktfähig gemacht für einen allfälligen Verkauf.

Supino:

Das ist nicht die Absicht.

Lüönd:

… aber die Konstruktion würde helfen bei einem Verkauf?

Supino:

Das ist vollkommen irrelevant für die Frage. Wenn wir etwas verkaufen wollten, könnten wir das heute schon genauso gut auch machen, wie man es in der zukünftigen Struktur tun könnte. Aber das ist nicht das Ziel.

Lüönd:

Sie behalten die Bezahlzeitungen?

Supino:

Ja.

Lüönd:

Obwohl sie ertragsmässig nicht wirklich Freude machen.

Supino:

Die Bezahlzeitungen stehen vor grossen Herausforderungen und müssen durch eine tiefgreifende Transformation gehen. Wir glauben aber, dass wir die besten Voraussetzungen mitbringen, sowohl von unserer Marktposition, als auch von unserem Savoir-faire her, um die Transformation zu bewältigen und unsere Titel in eine gute Zukunft zu führen.

«Wenn sie gezwungen sind zu sparen, dann können sie nicht auf der Seite der Digitalisierung sparen.»
Pietro Supino

Lüthi:

Es steht auf Verlegerseite, vom Verband her, zur Debatte, die indirekte Presseförderung aufzustocken, um den Vertrieb der Zeitungen finanziell weiter zu entlasten. Sorgt die Struktur der TX Group auch dafür, dass solche Subventionen leichter fliessen können, weil die Empfänger dann die schwächelnden Bezahlzeitungen sind und nicht die starke Gruppe?

Supino:

Mit ein Ziel der neuen Struktur ist es, Transparenz zu schaffen über die sehr unterschiedlichen Aktivitäten, die aufgrund der Diversifikation in den letzten Jahren unter dem Dach der TX Group zusammengekommen sind. Transparenz hat viele Vorteile. Auch den Aspekt, den Sie ansprechen. So sieht man, wie die Bezahlmedien dastehen. Die gedruckten Tageszeitungen bilden heute und auf absehbare Zeit das Rückgrat der demokratischen Meinungsbildung in unserem Land. Aber wenn wir die Vertriebskosten bei sinkenden Volumen nicht unter Kontrolle bringen, werden sie nicht mehr tragbar sein. Darum sind die vom Verlegerverband geforderte Erhöhung der indirekten Presseförderung und der Frühzustellung von existentieller Bedeutung.
(Denkpause.)
Vielleicht noch das: Wenn die Erhöhung der indirekten Presseförderung nicht im Lauf des nächsten Jahres gelingt, wird in absehbarer Zeit die Vielfalt an gedruckten Zeitungen rasant abnehmen. Das wäre ein gesellschaftliches Schreckensszenario. Wir müssen uns mit aller Kraft dafür einsetzen, dass das nicht passiert. Die Entlastung bei den Vertriebskosten gedruckter Medien ist auch darum so wichtig, weil die Titel sich auf die digitale Transformation konzentrieren müssen. Wenn sie gezwungen sind zu sparen, dann können sie nicht auf der Seite der Digitalisierung sparen. Dann müssen Sie eben auf der Print-Seite sparen und die grössten Kosten einer Zeitung verursacht der Vertrieb. Wenn man die Kosten dafür nicht unter Kontrolle halten kann, dann wird die Anzahl gedruckter Zeitungen sehr schnell abnehmen. Darum ist der Ausbau der indirekten Presseförderung so wichtig.

Lüönd:

Das betrifft ausdrücklich auch Titel von Tamedia?

Supino:

Das betrifft die ganze Branche.

Lüönd:

Sie haben ja relativ viele Titel, die in der kritischen Grösse sind. Wenn ich an einen Landboten denke, an die Zürichsee Zeitung oder an einen Zürcher Oberländer, die alle in ihrem Einflussbereich liegen, dann haben die Kosten wie die Grossen, aber Einkünfte wie die Kleinen.

Supino:

Wir sind ein Abbild der Branche.

Lüthi:

Für die steigenden Stückkosten im Zeitungsvertrieb soll der Steuerzahler aufkommen. Wird dann die gut situierte TX Group ihre Bezahlmedien wenigstens bei der digitalen Transformation mit einer internen Subvention unterstützen oder zumindest mit einer befristeten Technologieförderung?

Supino:

Die TX Group stellt ihren Unternehmen das Kapital zur Verfügung, um ihre Geschäfte zu betreiben. Darüber hinaus soll die TX Group ihre Unternehmen an Skalenvorteilen partizipieren lassen, die nur in einem grösseren Kontext möglich sind. Zum Beispiel im Bereich der Cyber Security. Ein ganz grosses Thema, das die meisten unterschätzen, das aber essentiell ist für die Zukunft eines digitalen Medienbetriebs. Die einzelnen Unternehmen sind in der Regel zu klein, um sich diese Spezialisten und die notwenige Infrastruktur leisten zu können. Aber in einer Gruppe ist das möglich und das ist dann ein Beitrag an ihre Unternehmen. Dann gibt es andere Themen, bei denen die Grössenvorteile eher auf der Kostenseite einschenken. Zum Beispiel bei der Personaladministration. Das kann man günstiger machen, wenn man über eine gewisse kritische Masse verfügt. Das Dritte ist, was Sie angesprochen haben: die Technologie. Dort bietet die Gruppe rund um das Thema der Daten ganz spannende Perspektiven, besonders für die Bezahlmedien. Was kann man mit diesen Daten machen? Wir nutzen sie, um attraktivere Angebote zu entwickeln und unsere Unternehmen können mit den Daten ihre Angebote besser vermarkten. Das sind ganz konkrete Perspektiven, welche die TX Group der zukünftigen Tamedia für ihre Bezahlmedien bieten kann.

Lüönd:

Interpretiere ich Sie jetzt richtig: Früher war ja Quersubventionierung innerhalb einer Gruppe ein Pfui-Wort. Das hat man unter Betriebswirtschaftern nicht einmal laut aussprechen dürfen. Aber was Sie hier skizzieren, wird auf eine interne Quersubventionierung hinauslaufen?

Supino:

Nein, ich skizziere die Vorteile, die eine Gruppe ihren Unternehmen bieten kann. Das Konzept ist: Jedes Unternehmen soll in einer grösseren Eigenständigkeit auch die Verantwortung für seine unternehmerische Zukunft tragen. Die Gruppe investiert in ihre Unternehmen. Aber betriebswirtschaftlich müssen sie letztlich auf eigenen Füssen stehen.

Lüthi:

Eine der grossen Hoffnungen, die man in «20 Minuten» legte, war ja, mit der Gratiszeitung junge Leser anzufixen für die Bezahlzeitung. Gibt es Anzeichen dafür oder gar Zahlen, dass dieser Transfer stattfindet?

Kohler:

Ja, es gibt eine harte Zahl. Vor fünf Jahren haben bereits 50 Prozent der «20 Minuten»-Leserinnen und -Leser eine bezahlte Zeitung gelesen und gemäss der MACH-Studie 2019-2 sind es heute 53 Prozent. Die Entwicklung geht also in die richtige Richtung. Das ist das eine. Aber es gibt auch eine andere These. Ein Freiburger Professor hat einmal die Lesefähigkeit in Verbindung gebracht mit der grossen Verbreitung von «20 Minuten» in der Schweiz. Die aktuelle Verschlechterung der Lesefähigkeit gemäss der PISA-Studie könnte demnach darauf zurückzuführen sein, dass nicht mehr so viele Junge wie auch schon «20 Minuten» lesen.

Supino:

Das heisst, «20 Minuten» müsste eigentlich Kulturförderung erhalten.

Bilder: Marco Leisi