von Benjamin von Wyl

«Ich brauche keine Autorenzeile»: so schreibt Charlotte Walser, SDA

So schreibe ich: Agenturmeldungen schreiben sich von selbst, denkt man beim Blick auf den Nachrichtenticker. Charlotte Walser, Bundeshauskorrespondentin der Agentur SDA, beschreibt im Gespräch mit der MEDIENWOCHE ausführlich, wie Journalismus in einer Nachrichtenagentur funktioniert. Ein Rückblick auf zwei Jahrzehnte Agenturjournalismus, denn zwischenzeitlich hat sie gekündigt.

Wieviele Texte hat Charlotte Walser an diesem Tag geschrieben? «Heute war eher ein ruhiger Tag, vier oder fünf.» Auf Twitter hat sich kürzlich eine Nationalrätin beschwert, dass keine Journalist*innen bei einer Ratsdebatte präsent sind: «So geht #VierteGewalt nicht.» Charlotte Walser hat auf den Tweet geantwortet: «Das Bundeshausteam von Keystone-SDA hört zu. Wie immer. Ausführliche Meldung folgt nach der Gesamtabstimmung.» Wie immer. Ob 40 Entscheide aus der Bundesratssitzung gekommen sind oder bloss eine weitere Episode einer Mammutvorlage abgehandelt worden ist: Walser hat zugehört, reagiert, eingeordnet. Zehn Jahre lang.

Aber gibt es überhaupt einen Schreibprozess, wenn man so arbeitet? Ist das noch schreiben oder bloss aufschreiben?

Geht es zum Beispiel um Rücktritte, ist es wirklich bloss ein Aufschreiben. Wir Agenturjournis sind sehr auf die Information fokussiert. Wir feilen nicht an möglichst kreativen Texteinstiegen, sondern kommen gleich zur Sache. Manchmal fällt das leicht, aber nicht immer, denn der Stoff fällt oft nicht als Information vom Himmel. Du machst es erst zu einer Information. Und ein Einstiegssatz, den man danach im Radio hört wie «Das oder das soll sich ändern», wird uns ja nicht so kommuniziert. Wir müssen herausfinden, was Sache ist, das dann ordnen und auf den Punkt bringen, damit es zur Nachricht wird. Wenn etwas Überraschendes passiert, müssen wir mit einer Eilmeldung den anderen Medien vorausrennen.

Kaum je geniesst das Bundeshausteam von Keystone-SDA die Aussicht auf die Alpen, die man in der Wandelhalle hat. Das Team sitzt im Medienzentrum auf der anderen Seite der Bundesgasse, hört den Debatten zu, wertet Botschaften aus und berichtet von Medienkonferenzen. Nie führt es kritische Interviews, nie teilt es aus. Auf Primeurs sind sie nicht aus, denn News-Primeurs sind schlicht ihre Verantwortung. Diese kommen dann als Eilmeldung und nicht als 20’000-Zeichen-Text daher.

Die Herausforderung ist das Übersetzen. Selten sind Informationen eindeutig und noch seltener kommen sie eindeutig daher. Ein Beispiel, das mir in den Sinn kommt: Die Verwaltung kommunizierte «Der Bundesrat will das Steuerstrafrecht revidieren». Unsere Eilmeldung lautete dann, der Bundesrat wolle das Bankgeheimnis im Inland lockern. Bevor du einen solchen Satz in die Welt jagst, musst du gründlich überlegen: Stimmt das wirklich? Dir bleiben nur ein paar Minuten. Du schaust nach, was genau geändert werden soll. Überlegst, was es bedeutet. Das sind Stressmomente. Du rennst voraus und musst schnell interpretieren. Eine halbe Stunde später ist es dann allen klar – aber wir machen eine erste rudimentäre Einordnung. Übrigens hat der Bundesrat das Projekt später wieder gestoppt.

Walsers Arbeitsalltag tönt anstrengend. Aber vor einer Krankheit der schreibenden Zunft scheint man als Agenturjournalistin gefeit: vor Schreibblockaden. Wem so wenig Zeit bleibt, der sitzt wohl nie vor einem leeren Word-Dokument, schreibt den Einstieg fünfmal neu oder verheddert sich in zwangsoriginellen Sprachbildern – oder?

Wenn es dringend ist, schreibst du den ersten Satz ohne zu zögern. Bei hintergründigen Texten fällt der Einstieg manchmal weniger leicht. Natürlich ist nicht jeder Text gleich aufwendig und anspruchsvoll, aber manchmal geht es darum, dicke Berichte nach Wichtigem zu durchforsten oder tagelange Debatten in einen lesbaren Text zu fassen. Vorhin, kurz vor Dienst-Ende haben wir Meldungen zu Kommissionsentscheiden geschrieben. Zwischen den Sessionen hat man manchmal mehr Zeit, einzuordnen und einzubetten. Natürlich werden die Texte zu Kommissionsentscheiden nicht immer abgedruckt, aber wir selbst können wieder auf die Meldungen zurückgreifen, sobald die Geschäfte im Parlament sind. Gerade, wenn es schnell gehen muss, ist man froh, wenn man die Einordnung bereits einmal gemacht hat.

Obwohl Agenturmeldungen allgegenwärtig sind und manche Zeitungen ohne SDA wohl grosse Informationslücken und weisse Flecken hätten, zeigen Walsers Ausführungen, wie wenig man die Arbeit hinter den Meldungen auch als Journalist – als kompetenter Leser – wahrnimmt.

Es sollte ja von unten her kürzbar sein. Manche Kunden wollen nur die Randspalte, andere eine halbe Seite füllen oder den Text eins zu eins online stellen. Im Idealfall muss eine Agenturmeldung funktionieren, selbst wenn man nur den Lead und den ersten Abschnitt nimmt. Darum bist du in den Möglichkeiten beschränkt, kannst keinen ausufernden Einstieg machen. Sicher gewöhnst du dir mit der Zeit Standardformulierungen an, was positiv ist, weil du sie abrufen kannst, wenn es schnell gehen muss. Aber auch eine Kehrseite hat, weil solche Formulierungen langweilig werden können. Ich würde behaupten, online merkt es der Durchschnittsleser nicht, wenn sie oder er einen Agenturtext liest. Über eine Medienkonferenz zum Beispiel berichte ich jetzt nicht so anders als ein Zeitungsjourni.

Manche Radio- und Fernsehjournalist*innen sagen, Print-Journalist*innen gehe es vor allem um den Namen über dem Artikel. Agenturjournalist*innen fehlt nicht nur die Autorenzeile: Ihre Arbeit ist Grundlage dafür, dass sich die Zeitungsleute mit einer Autorschaft schmücken können. Manchmal sollen Zeitungsjournalist*innen dabei auch die Grenzen der Lauterkeit tangieren: Sie passen den Text leicht an und setzen den eigenen Namen drüber. Es wäre also nachvollziehbar, wenn Walser etwas gegen den Autor*innen-Fetisch im schreibenden Journalismus hätte.

Ich brauche keine Autorenzeile. Was mich freut: Wenn ich die eigenen Erklärstückchen oder Einordnungen wiederfinde. Nicht nur in den Zeitungen. Manchmal sagen Parlamentarier etwas, bei dem du denkst: Ich hab das im Fall formuliert. Aber eitel darfst du bei einer Agentur nicht sein. Wir kommen zwar schon mit Namen vor – einfach weil gewisse Zeitungen keine Bundeshauskorris mehr haben: Das Bündner Tagblatt und die Südostschweiz drucken relativ Vieles von uns namentlich. Aber wenn du an der Autorenzeile hängst, bist du in der Agentur schlecht bedient. Manchmal ist das auch gut so, denn immer muss es schnell gehen. Wir schauen Texte nicht tagelang immer wieder an. Manchmal fällt mir auf dem Heimweg, eine Viertelstunde nach dem Senden des Textes, eine viel bessere Formulierung ein. Mist, so hätte ich das schreiben sollen. Aber wir schreiben eben keine «Werke».

Und um Werke beneidet Walser niemanden. Denn oft liefert man Just-in-time-Arbeit – vor allem während den Parlamentssessionen.

Während der Debatte schreibe ich laufend an meinem Schreibtisch. Es geht nicht darum, die Worte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu protokollieren, sondern die Argumente und Entscheide in eine verständliche Form zu bringen. Bei grösseren Vorlagen überlege ich im Voraus, welchen Aspekt ich thematisieren oder in den Vordergrund rücken möchte. Beim CO2-Gesetz waren es zum Beispiel die Flugticket-Abgabe und Ölheizungen. Meine Annahme ist, dass Ölheizungen verbreitet sind und deshalb viele Leute betreffen. Die Flugticket-Abgabe ist recht konkret; die Mechanismen zum Benzinpreis sind komplizierter – damit steigst du vielleicht nicht ein. Dann kannst du dir vor den Entscheiden bereits ein einordnendes Erzählstück skizzieren: Was bedeutet es? Bei dicken Gesetzesentwürfen mit vielen Entscheiden sind die Texte in der Erstfassung zu lang. Oft lasse ich am Ende dann Zitate weg, weil die wichtigen Entscheide rein müssen.

Die Worte der Politiker*innen fallen also als erstes dem Rotstift zum Opfer, obwohl das Bundeshaus-Team von Keystone-SDA zu dem ganz kleinen Kreis von Medienschaffenden – und Menschen überhaupt – gehört, die sich jedes Politikervotum antun. Am Ende jeder Session schmerzen Walser dann die Ohren wegen den vielen Stunden mit den Kopfhörern. Sessionen bedeuten Stress; ebenso, wenn die Bundesräte an einem Mittwoch besonders entscheidungsfreudig sind. Aber wie es Walser beschreibt, bedeutet dieser Journalismus eben doch mehr als Rein-Raus: Agenturjournalismus aus dem Bundeshaus bedeutet Verantwortung, bedingt detailliertes Verständnis der Materie und verfolgt höhere Ziele als klickgetriebener Journalismus: Es geht darum, das Jetzt verständlich zu machen. Ein Journalismus, bei dem es nicht um den einzelnen Beitrag geht, sondern darum, langfristige Entwicklungen ausdauernd und konsistent zu begleiten.

Es ist toll, grosse Vorlagen wie etwa die Energiestrategie in den Griff zu bekommen, bei denen du anfangs nicht drauskommst und dann merkst, wie du sie zunehmend erklären und dich von Juristendeutsch und allzu Technischem entfernen kannst. Irgendwann kannst du damit jonglieren. Aber am Spannendsten ist natürlich das Unerwartete, zum Beispiel beim US-Steuerdeal: Ich hatte immer das Thema «Steuerstreit» bearbeitet. Eines Abends hat mich das Desk um elf Uhr in heller Aufregung angerufen, das Department of Justice habe den Deal online gestellt. Es seien 50 Seiten. «Was soll ich machen?» Ich war beim Bier, bin dann ins Büro und habe eine erste Meldung geschrieben – ohne Details. Dann war Nacht und ich hatte Zeit, in Ruhe alles genau zu lesen, was eher selten der Fall ist. Am frühen Morgen konnte ich eine ausführliche, saubere Meldung über den Deal senden. Vor der Medienkonferenz um 08.30 von Widmer-Schlumpf bin ich kurz heim zum Duschen und fühlte mich super vorbereitet. Manche andere Journis an der Konferenz waren so «Was ist los?» – und ich hatte mich die ganze Nacht lang mit dem Deal befasst.

Walser hält die Arbeitsteilung zwischen Agenturjournalismus und anderen Journalist*innen für logisch. Die Aufgabe der Anderen sei es eben nicht, jedes Ereignis zu verfolgen, sondern zu Selektionieren, einen eigenen Zugang zu finden und zuzuspitzen.

Die anderen Journalisten bewegen sich in der Wandelhalle, suchen Geschichten. Dann können sie bei uns nachlesen, was passiert ist, ob etwas Überraschendes war. So soll es sein. Manchmal wäre es schon spannend, ein wenig in der Wandelhalle rumzuschlendern, aber wir haben dafür keine Zeit. Im Gegenzug müssen wir nichts Exklusives herausfinden, keinen speziellen Zugang finden. Das ist ein Stress, der uns erspart bleibt.

Walser und ihre Kolleg*innen begleiten Vorlagen unabhängig davon, ob sie schlagzeilentauglich sind oder jemals schlagzeilentauglich werden. Sie erzählt mit einer Selbstverständlichkeit über Details des Gesetzgebungsprozesses, die auch manchen Journalist*innen, die regelmässig im Bundeshaus sind, unbekannt sind. Es wirkt, als würde man in dem Job berufsbedingt zum Nerd.

Das alte Parlament konnten wir recht gut einschätzen. Mit der Zeit bekommt man Übung. Wenn es wichtig ist und ein knapper Ausgang zu erwarten ist, bereiten wir manchmal eine Ja- und eine Nein-Version vor. Bei uns steht natürlich das Tempo im Vordergrund. Das Ziel bei Parlamentsgeschäften ist, dass der Text unmittelbar nach der Gesamtabstimmung am Ende einer Beratung rausgeht. Wir müssen antizipieren, im Voraus einschätzen, wie es ausgeht. Manchmal täuschen wir uns, und sie entscheiden anders als erwartet. Dann fluchen wir laut – unabhängig davon, was unsere persönliche Meinung zum Thema ist – weil wir alles umschreiben müssen.

Selbstverständlich vertreten Agenturjournalist*innen privat Meinungen, Ansichten und Weltbilder. Aber anders als man vielleicht denken könnte, ist Walser auch überzeugt, dass Neutralität im Schreiben ebenfalls nicht möglich ist und alle Journalist*innen Spuren ihrer subjektiven Haltung in die Arbeit verweben. Ob bewusst oder unbewusst. Walser tut das sehr bewusst:

Fast zu jedem Geschäft habe ich eine Meinung. Ich beschäftige mich den ganzen Tag mit Politik und habe eine subjektive Sicht auf die Welt. Die kann ich nicht ausschalten. Bei der Arbeit ist aber Lauterkeit wichtig: Dass man beide Seiten zu Wort kommen lässt und jeweils die besten Argumente nimmt, damit es irgendwie fair ist. Aber gleichzeitig ist es der Job jedes Journis, Beschönigungen keinen Raum zu lassen. So vieles wird kaschiert und verschwurbelt: Wenn der NDB kommuniziert, ein «Datenabfluss» habe verhindert werden können, musst du sehen, dass die eigentliche Story ein Datendiebstahl im Nachrichtendienst ist. In der ganzen Fake-News-Debatte stellt sich auch die Frage, ob man alles zitieren und somit verbreiten soll. Es haben alle das Recht auf ihre Meinung und ihre Argumente, aber ich finde nicht, dass ich dazu verpflichtet bin, Sachen zu zitieren, die faktisch nicht stimmen.

Manche Kolleg*innen im Medienzentrum sähen keine Verbindung zwischen einer Meldung und der Berufskollegin, die man im Gang grüsst oder auf der Raucherterrasse trifft. Dies habe wohl auch damit zu tun, dass Journalist*innen berufsbedingt besonders fixiert sind auf jene, die viel Aufheben um ihre Arbeit machen – die eigene Arbeit eben beispielsweise als «Werke» anpreisen.

Viele Journalistinnen und Journalisten überlegen sich nicht, dass Agenturtexte gut oder schlecht sein können. Sogar manche hier im Medienzentrum des Bundeshauses: Sie sehen uns, kennen uns – aber überlegen sich nicht, dass wir hinter den Meldungen stehen. Manchmal höre ich sie reden: «Da ist noch eine Agenturmeldung reingekommen.» Sie erkennen nicht, dass wir unseren Job gut oder schlecht machen können. Mittlerweile gibt einem manchmal die eigene Firma das Gefühl, dass man nichts wissen oder können muss: Der Agenturticker läuft einfach so.

Es ist eine Binsenwahrheit: Rückmeldungen machen Texte besser. Das gilt auch im Agenturjournalismus. Die MEDIENWOCHE konnte der letzten Viertelstunde des Arbeitstags im Bundeshausteam beiwohnen – und dabei miterleben, wie oft eine kurze Meldung zwischen Walser und ihrem Kollegen hin- und hergeht, wie ausgeprägt die Feedbackkultur in diesem kleinen Team ist.

Im Team hier – wir sind zu zweit – geben wir uns gegenseitig viel Feedback, lesen Texte gegen. Manchmal auch sehr deutlich: «Entschuldige, aber hier kommt man nicht draus.» Meistens wird das Resultat dadurch besser. Ansonsten haben wir zwischen den Sprachen auch einen guten Austausch. Im Parlament wird es manchmal chaotisch, und da ist man sehr froh um die Kollegin oder den Kollegen, der auf Französisch oder Italienisch das gleiche Thema bearbeitet. Da kann man sich abgleichen, wenn man zum Beispiel nach einer Kaskadenabstimmung unsicher ist, welcher der Anträge nun angenommen wurde.

Die freiwilligen und unfreiwilligen Abgänge bei Keystone-SDA ebben nicht ab seit der Fusion der Nachrichtenagentur mit der Fotoagentur Keystone. Zwar existieren Szenarien für das Geschäft in den nächsten Jahren. Aber auf eine nachhaltige Zukunft würde niemand wetten. Das eigentliche Agenturgeschäft soll in einen eigenständigen Unternehmensteil ausgelagert werden, damit es subventionsfähig wird. Verantwortlich für die Misere sind die grossen Verlage der Schweiz. Sie drücken die Preise oder gründen gar eigene Dienste und minimieren die Zusammenarbeit. Die Folge: Anhaltender Personalabbau in der Redaktion. Sparprogramm um Sparprogramm. Man bietet sich den politischen Parteien als Textagentur an, man schafft Stellen, deren Inhaber nach zehn Monaten wieder gehen. Allein die aktuelle Anzahl Mitarbeitenden ist ein Geheimnis: «Unterjährig» gibt Keystone-SDA da keine «konkrete» Antwort.

Niemand braucht eine Agentur, damit sie ein Communique abschreibt und die Formel «teilte mit» dazu tippt. Wir müssen wissen, bei welchem Geschäft es sich lohnt, genauer hinzuschauen, nachzufragen, einzuordnen, zu erklären. Je weniger wir das können, desto eher machen wir uns überflüssig. Der Abbau ist ein Teufelskreis.

Zwischen dem Interview und dem Erscheinen dieses Porträts hat Charlotte Walser eine Entscheidung getroffen.: Sie tritt eine Stelle beim UNHCR an und hat deshalb gekündigt. Nach zwei Jahrzehnten verlässt Walser die Nachrichtenagentur, die heute Keystone-SDA heisst und – zumindest vorerst – den Journalismus. Damit ist dieses Porträt auch ein Rückblick.

Während des Studiums habe ich im damaligen Kurznachrichtendienst der SDA Teilzeit gearbeitet. Aus dem wurde dann der Onlinedienst, den es heute auch nicht mehr gibt, weil wir alle Onlinemeldungen machen. Nach dem Studium habe ich ein Stage bei der SDA gemacht mit Kursen am MAZ. Danach habe ich in der Inlandredaktion gearbeitet und parallel an meiner Doktorarbeit gebastelt. Nur in der Ferien ging es wirklich vorwärts, obwohl ich damals noch auf der SDA-Zentrale war und dann immer blockweise frei hatte. An einem Wochenende bin ich kaum wieder ins Kapitel, an dem ich schrieb, reingekommen. Es gab da einiges an Reibungsverlust zwischen der Arbeit bei der Agentur und der Dissertation, aber ich konnte die Philosophie schon auch nicht einfach so verlassen …

Charlotte Walser kommt aus der analytischen Philosophie. Die Formulierung «Der Bundesrat hat entschieden, dass …» müsste man in der analytischen Philosophie wohl um zig Fussnoten ergänzen. «Personen – Inwiefern wir sind, wofür wir uns halten» ist der Titel ihrer Doktorarbeit. Darin prüft sie, was eigentlich hinter dem kaum hinterfragten Begriff «Personen» steht. Wen meinen wir, wenn wir «Ich» sagen? Walsers hat an der Universität Begriffe hinterfragt und abgeklopft, hat Sprache als nichts Gegebenes wahrgenommen, sondern dekonstruiert. Wie bringt man es zusammen, wenn man in einem Teil des Lebens fundamentale Begriffe wie «ich» seziert hat und später nüchterne Agenturmeldungen in die Welt haut? Ist der Bezug zu Sprache nicht komplett gegensätzlich?

Gerade in der Sprache gibt es Parallelen. Natürlich lese ich auch gerne ausufernde Reportagen, aber das Kondensierte, aufs Wesentliche Reduzierte, hat einen eigenen Reiz. «Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen» – das schrieb Ludwig Wittgenstein zwar nicht über Journalismus, aber mir kommt es zuweilen in den Sinn: Wenn es darum geht, auf den Punkt zu kommen. Wie in der analytischen Philosophie geht es in meinem Journi-Alltag um sprachliche Präzision: Wenn ich es so schreibe, bedeutet es nicht dasselbe, wie wenn ich es anders schreibe. Welche Formulierung ist verständlich und trotzdem korrekt? Was ist die Prämisse dieses Arguments? Klar, ich mache hier keine Sprachphilosophie, aber präzises Schreiben ist entscheidend. Ich sehe da keine allzu grosse Diskrepanz zu philosophischer Beschäftigung … Okay, nein, es ist schon etwas Anderes, aber man versucht sein Leben ja immer in eine Linie zu bringen. Ob es diese Linie gibt?

«Bin ich dieselbe Person, die vor zehn Jahren an diesem Schreibtisch sass?», heisst es im Klappentext von Walsers Dissertation. Vor genau zehn Jahren ist die Doktorarbeit als Buch erschienen. Wohl eine gute Ausgangslage, um sich nochmals in einen komplett neuen Beruf einzufinden.

Bild: zvg/Bearbeitung: Marco Leisi

Leserbeiträge

MZ 20. Dezember 2019, 01:08

Es kann nicht genug gelobt werden, was Charlotte Walser, Nicolas Hehl, Sebastian Gänger und weitere im Medienzentrum  tagtäglich leisten.