von Michael Gerber, Christoph Ebnöther

Überschätzter Lobby-Einfluss in der Wandelhalle

Wie wichtig ist der Zutritt zum Parlamentsgebäude für Lobbyistinnen und Lobbyisten? Weniger, als manche vermuten. Die physische Anwesenheit im Bundeshaus ist keine Bedingung für erfolgreiche Einflussnahme. Einem Lobby-Mythos auf der Spur.

Die Aktivitäten der Lobbyistinnen und Lobbyisten im Parlamentsgebäude wird in der Schweiz seit rund 30 Jahren kontrovers diskutiert. Im Parlament werden regelmässig politische Vorstösse eingereicht, die mehr Transparenz fordern. So debattieren seit 2017 National- und Ständerat die Parlamentarische Initiative von Ständerat Didier Berberat (SP). Der Vorstoss ist zwar in seiner ursprünglichen Form gescheitert. Ein Minderheitsantrag von Nationalrat Matthias Jauslin (FDP) wird aber derzeit weiterverfolgt. Er gilt als «Schwachstromlösung», die aber konsensfähig zu sein scheint.

Wird der Kompromissvorschlag umgesetzt, müssen Lobbyisten und Lobbyistinnen künftig nicht nur ihr Mandat, sondern auch ihre Auftraggeber in einem öffentlichen Register eintragen. Die Zutrittsbadges würden nach wie vor durch die Parlamentsmitglieder vergeben. Umstritten ist ein Akkreditierungssystem, bei dem sich Lobbyistinnen und Lobbyisten analog zu den Medienschaffenden beim Parlamentsdienst um einen Zutrittsausweis bewerben müssten. Auch wenn das Parlament die Transparenz nun minimal verbessern sollte, bleibt die grundsätzliche Frage bestehen, welchen Stellenwert der Zugang von Lobbyistinnen und Lobbyisten zu den nicht-öffentlichen Bereichen des Parlamentsgebäudes überhaupt hat.

Die aktuellen rechtlichen Grundlagen erlauben es jedem Parlamentsmitglied, «zwei Personen des persönlichen Umfeldes» einen Zutrittsbadge ausstellen zu lassen, bekannt als sogenanntes «Götti»-System. Diese Personen sowie ihre jeweiligen Funktionen werden in öffentlich einsehbare Register eingetragen (Nationalrat, Ständerat). Auch die Kantone und die Medienschaffenden haben die Möglichkeit eine Zutrittsberechtigung anzufordern. Weiter gibt es erstaunlicherweise eine relativ grosse Anzahl weiterer zutrittsberechtigter Personen, wie Mitarbeitende des Parlaments und der Fraktionen sowie Alt-Parlamentarier und Alt-Parlamentarierinnen. Gemäss einer Erhebung von 2017 verfügten insgesamt 2584 Personen über Dauerausweise zu den nicht-öffentlichen Bereichen des Parlamentsgebäudes.

Die persönliche Meinungsbildung der Parlamentsmitglieder folgt nicht bestimmten Abläufen und ist komplex.

Um den Einfluss von Lobbyistinnen und Lobbyisten überhaupt nachzuweisen, müssten ihre Aktivitäten gemessen werden können. Das Messen von Lobbying-Aktivitäten nach wissenschaftlichen Standards ist jedoch sehr schwierig. Insbesondere der effektive Erfolg der Interessensvertretung lässt sich nur partiell bestimmen. Damit sind kausale Zusammenhänge nur schwierig nachvollziehbar. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus dem Abstimmungsverhalten der einzelnen Parlamentsmitglieder. Es ist ein Zusammenspiel der eigenen Partikularinteressen, der Fraktionsmeinung, der externen Einflüsse sowie weiteren Einflüssen, welche auf die Ratsmitglieder einwirken. Die persönliche Meinungsbildung der Parlamentsmitglieder folgt nicht bestimmten Abläufen und ist komplex.

Mit einer Analyse der öffentlichen Register der zutrittsberechtigten Personen auf ihre Interessensbindungen erreicht man jedoch eine Annäherung an die Lobbying-Aktivitäten. Eine Bachelorarbeit der ZHAW School of Management and Law von 2019 wertete die Listen der zutrittsberechtigten Personen mit Stand März 2019 in methodischer Anlehnung an eine Analyse der NZZ von 2014 für die 49. Legislaturperiode (2015–2019) aus und kam zu spannenden Ergebnissen, die hier zusammenfassend dargestellt werden.

Aus der Analyse der Listen der zutrittsberechtigten Personen geht hervor, dass nahezu alle über eine, teilweise mehrere Interessenbindungen verfügen, welche letztendlich auch in der Wandelhalle vertreten werden können. Die effektive Anzahl an Interessenbindungen ist teilweise um ein Vielfaches höher, als sie im aktuellen Register offiziell deklariert werden.

Zur Auswertung wurden die zutrittsberechtigten Personen jener Fraktion zugeordnet, welcher das Parlamentsmitglied angehört, das die Zutrittsberechtigung ausgestellt hatte. Daraus ergaben sich im Nationalrat für die von der SVP-Fraktion autorisierten Personen im Durchschnitt 2.37 Interessenbindungen pro zutrittsberechtigte Person. In der SP-Fraktion waren es 2.58, in der FDP-Fraktion 2.46, in der CVP-Fraktion 3.10, in der Grünen-Fraktion 2.17, in der GLP-Fraktion 2.54 und in der BDP-Fraktion 3.17 Interessenbindungen pro zutrittsberechtigte Person.

Unter den Experten herrscht Konsens darüber, dass die vorparlamentarische Phase für die Möglichkeit einer Einflussnahme am wichtigsten ist.

Aufgrund der beiden öffentlichen Register könnte zudem davon ausgegangen werden, dass sich nur teilweise externe Lobbyisten im nicht-öffentlichen Bereich des Bundeshauses aufhalten und die restlichen Personen lediglich als «Gäste» oder «persönliche Mitarbeiter» anwesend sind. Doch die Analyse zeigt, dass auch diese Personen häufig Interessen vertreten, womit sie sich im Parlamentsgebäude auch einbringen können – und das gemäss Aussagen von Experten auch häufig tun.

Ergänzend zur Auswertung der Daten haben wir fünf Experteninterviews geführt, um die Bedeutung des Zugangs zu den nicht-öffentlichen Bereichen des Parlamentsgebäudes abzuschätzen. Unter den Experten herrscht Konsens darüber, dass die vorparlamentarische Phase für die Möglichkeit einer Einflussnahme am wichtigsten ist. Mit dem Verlauf des politischen Entscheidungsprozesses nehmen die Einflussmöglichkeiten ab. Zudem kommt der Phase im Vorfeld und während der Beratung in der jeweiligen vorberatenden Kommission hohe Bedeutung zu, da die Kommissionsmitglieder in dieser Phase besonders auf Informationen angewiesen und zugleich für diese sehr empfänglich sind. Diese Erkenntnisse sind nicht neu.

Unter Fachleuten herrscht Einigkeit darüber, dass es sehr schwierig ist, während einer Session Parlamentsmitglieder noch umstimmen zu können.

Von Interesse ist jedoch die Verbindung dieser bekannten Tatsachen mit der Erkenntnis, dass es für erfolgreiches Lobbying relevant ist, wie lange ein politisches Geschäft bereits beraten wird. Bei neuen politischen Projekten ist eine frühe Einflussnahme zentral. Bei politischen Geschäften, die bereits lange im politischen Entscheidungsprozess sind, sowie bei wiederkehrenden Projekten kann hingegen auch eine Einflussnahme in einer späteren Phase wichtig sein. Ausserdem gewichten die Experten mehrheitlich ihren Einfluss auf die Kommissionsarbeit stärker als die Interessenvertretung während den Sessionen vor Ort. Es herrscht zudem Einigkeit darüber, dass es sehr schwierig ist, während einer Session Parlamentsmitglieder noch umstimmen zu können. Allenfalls kann bei knappen Abstimmungskonstellationen eine Einflussnahme im Parlamentsgebäude durchaus noch Erfolg haben. Ein solches Szenario ist allerdings sehr selten. Ein Lobbyist bzw. eine Lobbyistin, der bzw. die über politische Macht verfügt, kann zudem allenfalls noch einen «Deal» bewerkstelligen und einzelne Parlamentsmitglieder umstimmen. Für eine Agentur ist das allerdings kaum möglich, da diese selbst über keine politische Macht im engeren Sinn verfügt. Somit ist generell zu sagen, dass in Bezug auf eine laufende Session die Einflussmöglichkeiten der zutrittsberechtigten Lobbyisten gering sind.

Alle Experten heben hervor, dass ein Zutrittsbadge die organisatorischen Aspekte ihrer Lobbying-Aktivitäten vereinfacht. Der Zutritt zum Parlamentsgebäude und damit der Zugang zu den Parlamentsmitgliedern wird durch den Badge wesentlich vereinfacht. Zudem kann er auch als Verkaufsargument der Lobbyistinnen und Lobbyisten gegenüber ihren Klienten betrachtet werden. Der Zutrittsbadge darf allerdings nicht überbewertet werden, denn die Arbeit der Interessensvertretung kann auch gut ausserhalb des Parlamentsgebäudes erfolgen. Diese Aussagen gelten sowohl für das geltende «Götti»-System als auch im Falle einer Neuregelung des Zutrittsregimes für Lobbyistinnen und Lobbyisten.

Lobbyistinnen und Lobbyisten sind selten wegen der politischen Geschäfte einer laufenden Session im Bundeshaus, sondern bereits für die Gesetzesprojekte künftiger Sessionen.

Eine Expertin erachtet die Zutrittsmöglichkeit allerdings als sehr wichtig. Ein wesentlicher Vorteil, der ein Badge mit sich bringt, ist, dass Lobbyistinnen und Lobbyisten durch ihre persönlichen Kontakte einfacher und früher von geplanten politischen Geschäften und künftigen (Gesetzes)projekten erfahren, als wenn sie nicht unmittelbar vor Ort sind. Dies ist ein Vorteil, da sie mit diesem Wissen bereits sehr früh auf ein politisches Geschäft Einfluss nehmen können und sich allenfalls bereits Allianzen schmieden lassen.

Gestützt wird diese Aussage auch durch die von allen Experten geteilte Meinung, dass Lobbyistinnen und Lobbyisten selten wegen der politischen Geschäfte einer aktuellen Session, sondern bereits für die Gesetzesprojekte künftiger Sessionen im Parlamentsgebäude anwesend sind. Eine frühe Interaktion mit dem Ratsmitglied kann somit durchaus einen Einfluss auf den Entscheidungsprozess eines Parlamentsmitglieds haben. Wie gross dieser Einfluss auf ein Parlamentsmitglied ist, lässt sich aber nicht messen.

Die Bedeutung des Zutritts zu den nicht-öffentlichen Bereichen des Parlamentsgebäudes wird also insgesamt als weniger hoch eingestuft als man aufgrund der medialen Diskussionen rund um die Lobbying-Problematik hätte erwarten können. Der wichtigste Vorteil sehen die Experten im einfachen Informationsaustausch zwischen Parlamentsmitgliedern und den Lobbyistinnen und Lobbyisten. Die Experten sind sich allerdings einig darüber, dass die Informationen auch ausserhalb des Parlamentsgebäudes ausgetauscht werden könnten und dazu keine spezielle Zutrittsberechtigung benötigt wird.

Bei einer Verschärfung der Zutrittsbedingungen für Lobbyistinnen und Lobbyisten würde sich die Lobbying-Aktivitäten vom Parlamentsgebäude auf andere Kanäle, wie Gespräche in Restaurants oder Sitzungszimmern, verlagern. Allenfalls könnte es für die Lobbyistinnen und Lobbyisten aufwändiger und teurer werden, die Parlamentsmitglieder ausserhalb des Parlamentsgebäudes zu treffen. Die Auswirkungen der Änderungen in Bezug auf den politischen Entscheidungsprozess in der Schweiz wären allerdings gering. Denn das politische System der Schweiz ist so konzipiert, dass es für Anliegen aus Wirtschaft und Gesellschaft offen ist und die Parlamentsmitglieder auch durchaus zum einem Austausch bereit sind.