Coronavirus: «Abstand halten» gilt besonders für die öffentlich-rechtlichen Medien
In ausserordentlichen Lagen wie der Coronakrise stehen öffentlich-rechtliche Medien in einer besonderen Verantwortung. Für ihre Berichterstattung bedeutet das eine doppelte Gratwanderung: Das richtige Mass finden zwischen Alarmismus und Verharmlosung, sowie die angemessene Distanz wahren zu den Gesundheitsbehörden.
Das Coronavirus Covid-19 stellt für Medien eine besondere Herausforderung dar. Fast stündlich ändert sich die Gefährdungslage, werden neue Fälle gemeldet, gibt es neue Warnungen und Entwarnungen und neue Einschätzungen von Fachleuten. Hinzu kommen Fake-News, die via Social Media massenhaft geteilt werden.
Da fällt es selbst grossen Redaktionen mit erfahrenem Personal nicht leicht, den Überblick zu behalten. Wie soll man über das Virus berichten? Wie bildet man die Gefahrenlage angemessen ab, ohne zu verharmlosen, aber auch ohne zu überschiessen? Wann ist Corona ein Aufmacher? Oder setzt man andere Brennpunkte des Weltgeschehens, aktuell die Flüchtlingskrise, auf die Agenda?
Eine besondere Verantwortung in Krisenlagen tragen die Service-public-Medien, weil sie beim Publikum eine grosse Glaubwürdigkeit geniessen. In Krisenzeiten schalten die Menschen das Radio oder Fernsehen ein. Der gesetzliche Auftrag umfasst auch die Verbreitung von Verhaltensanweisungen an die Bevölkerung in besonderen Lagen – die öffentlichen Sender als «Krisenmedien».
Der besondere Auftrag zieht eine besondere Verantwortung nach sich. Auch wenn man das Thema gross fährt, soll keine Panik geschürt werden. SRF-Chefredaktor Tristan Brenn spricht in dem Zusammenhang von einer «Gratwanderung»: «Wir haben einerseits eine Informationspflicht in diesem wichtigen Thema. Auf der anderen Seite müssen wir das Augenmass wahren. Es gibt auch andere wichtige Themen, über die wir berichten müssen. Letztendlich entscheidet aber nicht die Menge an Beiträgen über die Qualität unserer Berichterstattung, sondern ob es gelingt, ein differenziertes Bild über das Coronavirus zu vermitteln.» SRF publiziere nur «Inhalte von vertrauenswürdigen Quellen, von Spezialisten, Virologen und der Weltgesundheitsorganisation» sowie von Korrespondenten vor Ort, betont Brenn.
Wenn man sich die News-Site von SRF anschaut, fällt eine angenehme Nüchternheit auf. Die Seite macht mit dem US-Wahlkampf auf, das Coronavirus wird in einer eigenen Rubrik mit einem Live-Ticker zu aktuellen Entwicklungen behandelt. Von Alarmismus keine Spur. Stattdessen geht die Redaktion der Frage nach, wie das Virus die Arbeitswelt im Tessin verändert oder veröffentlicht ein Interview mit einer Kinderpsychologin, die erklärt, wie man Kindern die Angst nimmt. Das Wissensmagazin «Einstein» hat eine sehr instruktive Dokumentation («Viren – Der unsichtbare Feind») über die Genese vergangener Epidemien wie Ebola und SARS gesendet. Und im «Club» diskutierten Fachleute über die Folgen der Epidemie. Sie taten das in einer so ruhigen und sachlichen Tonlage, dass man sich zwischendurch sogar etwas mehr Pepp gewünscht hätte.
Dass das ZDF eine Doppelfolge «Traumschiff» ausstrahlte, zeugt angesichts der festgesetzten Kreuzfahrtschiffe von wenig Fingerspitzengefühl.
Die ARD hat am Montagabend ihr Programm kurzfristig geändert und ein zweistündiges «Hart aber fair extra» gesendet. Der Anspruch an eine informative Diskussion konnte die Sendung grosso modo einlösen. So klärte die Expertenrunde darüber auf, was das Coronavirus von anderen Erregern unterscheidet, warum es noch keinen Impfstoff gibt und ob man sich als Mensch zweimal anstecken kann. Die Teilnehmer diskutierten ebenso unaufgeregt wie sachlich, was in den regulären «Hart aber fair»-Sendungen bekanntlich nicht immer der Fall ist. Dass das ZDF dann am Dienstagabend eine Doppelfolge «Traumschiff» ausstrahlte, zeugt angesichts der festgesetzten Kreuzfahrtschiffe von wenig Fingerspitzengefühl bei der Programmierung.
Auch die Website der deutschen «Tagesschau» berichtet sachlich über die Epidemie – im Gegensatz zu bild.de, wo seit Tagen ein Liveticker läuft und mit alarmistischen Meldungen in gelber Schrift und grossen Buchstaben, die offenbar eine rassistisch grundierte «gelbe Gefahr» heraufbeschwören soll, organisierte Panikmache betrieben wird. Auch das ZDF und Deutschlandradio informieren sachlich und ausgewogen über die Auswirkungen des Coronavirus.
Man kann nicht jede hysterische Übertreibung mit sachlicher Information kontern.
Auch wenn der öffentlich-rechtliche Rundfunk seinen Informationsauftrag im vorliegenden Fall erfüllt, scheint das wenig zu helfen gegen die Fake-News-Flut und Corona-Hysterie. Denn: Ihnen fehlt schlicht das Arsenal. Man kann nicht jede hysterische Übertreibung mit sachlicher Information kontern. In dem Zusammenhang passt auch die Beobachtung von Lothar Müller, der jüngst in der «Süddeutsche Zeitung» («Die Seuchen-Reporter») darauf hingewiesen hat, dass Infektionskrankheiten Gesellschaften bereits erfassen, bevor die Erreger da sind. Falschnachrichten und Verschwörungstheorien verbreiten sich schneller als seriöse Informationen.
Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen schreibt in seinem neuen Buch «Die Kunst des Miteinander-Redens»: «In der Phase der Netzutopien waren wir uns sicher, dass mehr Information unvermeidlich zu mehr Mündigkeit führt. Heute müssen wir anerkennen: Mehr Information macht uns nicht automatisch mündiger, sondern erhöht die Chancen effektiver Desinformation. Und je gefährlicher und bedrohlicher die Situation erscheint, desto anfälliger wird der Mensch für jede Menge Scheingewissheiten und Fälschungen, die die eigenen Vorurteile bestätigen.»
«Im Strudel der Ad-hoc-Berichte möchte man sofort Bescheid wissen, sei es aus Angst oder Anteilnahme, sei es aus Neugierde oder Sensationslust.»
Bernhard Pörksen
Auf Anfrage der Medienwoche präzisiert er: «Es gibt in Zeiten der informationellen Unübersichtlichkeit alles gleichzeitig – die verantwortungslose Panikmache, die Bagatellisierung, die seriös begründete Warnung.» Pörksen hält fest, «dass die hochnervöse Mediengesellschaft der Gegenwart kein kommunikatives Register besitzt, um in ausreichend reflektierter Weise mit jener Form der diffus-bedrohlichen Ungewissheit umzugehen, die unvermeidlich immer dann auftritt, wenn etwas unerwartet Schreckliches passiert – und man im Strudel der Ad-hoc-Berichte sofort Bescheid wissen möchte, sei es aus Angst oder Anteilnahme, sei es aus Neugierde oder Sensationslust.»
Die öffentlich-rechtlichen Medien müssen zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung navigieren und dabei sicherstellen, dass sie mit ihren faktengestützten Analysen Gehör finden. Ein anspruchsvoller Balanceakt in einer digitalen Öffentlichkeit, wo Liveticker und Tweets die Erregungsspirale immer weiter anheizen. Gleichzeitig müssen die Sender Sorge tragen, dass sie in aussergewöhnlichen Lagen wie der aktuellen Virus-Epidemie nicht als Sprachrohr der Behörden fungieren – und so das «Staatssender»-Vorurteil bestätigen.