von Nick Lüthi

Medienforscher Russ-Mohl: «Bei solchem Journalismus bin ich etwas ratlos»

Mitte April hat der Berliner Medienforscher Stephan Russ-Mohl eine Textsammlung zusammengestellt mit aktuellen Beiträgen aus der Medien- und Kommunikationswissenschaft zur Berichterstattung in der Frühphase der Corona-Krise. Die darin enthaltene Medienkritik kam nicht überall gut an. Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt Russ-Mohl, welche Mängel er im Journalismus sieht und wo die Schwächen der Medienwissenschaften liegen.

MEDIENWOCHE:

Herr Russ-Mohl, was war für Sie bisher das Glanzstück der Corona-Berichterstattung?

Stephan Russ-Mohl:

Es gab natürlich eine ganz Reihe von Glanzstücken. Bei Gabor Steingart habe ich einiges gefunden, was ich bemerkenswert fand, obwohl ich ihn für jemanden halte, der sein Fähnchen sehr schnell im Winde dreht. Das ändert nichts daran, dass einzelne seiner «Morning Briefings» einfach brillant sind und interessante Daten zusammentragen. Was ich auch toll fand, ist ein Stück von Christian Mensch im St. Galler Tagblatt. Er zeigt darin sehr differenziert auf, was im System Journalismus nicht mehr funktioniert, ohne die Einzelleistungen in Frage zu stellen, die ja Journalisten derzeit unter sehr schwierigen Bedingungen erbringen.



MEDIENWOCHE:

Und wann haben Sie sich über die Corona-Berichterstattung geärgert?

Russ-Mohl:

Am meisten ärgert mich die Corona-Monomanie, die Ausschliesslichkeit, mit der sich ganz viele Nachrichtenmedien dem Thema gewidmet haben. Was mich auch ärgert, ist die Zahlenfixiertheit vieler Medien. Ich finde es nicht richtig, dass wir tagtäglich mit neuen Todesziffern und Infiziertenziffern aus aller Welt bombardiert werden. Wenn diese Zahlen nicht sauber eingeordnet werden, dann kann das Angst auslösen.

MEDIENWOCHE:

Vor einer Woche haben Sie ein Dossier zusammengestellt mit aktuellen Beiträgen aus der Medienforschung, die sich kritisch zur Corona-Berichterstattung äussern. Die Artikelsammlung hat im deutschsprachigen Raum weite Kreise gezogen und wurde auch auf Redaktionen gelesen. Was gab den Anstoss zu dieser Aktion?

Russ-Mohl:

Es ist eine Reaktion auf die Schockstarre, wie ich sie in der Frühphase der Corona-Berichterstattung wahrgenommen habe. Kritik war da nicht besonders gefragt. Das war auch meine persönliche Erfahrung. Ich habe probiert, mich einzubringen, aber es hat nicht geklappt. Bei einem Nachrichtenmagazin und bei einer angesehenen Tageszeitung erhielt ich einen Korb, ebenso bei drei Fachmagazinen. Im Dossier habe ich nun sehr bewusst Fragen formuliert, weil ich kein Statement vom hohen Lehrstuhl herab geben wollte. Es sind Fragen, die die Journalisten gemeinsam mit uns Medienforschern beantworten müssten.

MEDIENWOCHE:

Wie Sie, kritisieren auch viele Ihrer Kollegen die Berichterstattung in der frühen Corona-Phase. Ist das, was Sie und Ihre Kollegen «Panikmache» nennen, nicht einfach Ausdruck davon, dass sich niemand nachträglich dem Vorwurf aussetzen will, nicht stark genug vor den möglicherweise gravierenden Folgen der Pandemie gewarnt zu haben?

Russ-Mohl:

Auch wenn man das damit erklären mag, bleibt die Frage, ob manche Medien – mit dem Erkenntnisstand von heute – überreagiert haben. Anstatt Leichentransporte in Bergamo zu zeigen, hätten sie besser etwas aktiver recherchiert, ob sich das Virus nicht auch mit geringeren Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens erfolgreich bekämpfen liesse. Das hätte aber eben geschehen müssen, bevor die Massnahmen beschlossen wurden. Jetzt ist es zu spät. Jetzt sind wir eingesperrt und müssen schauen, wie wir wieder rauskommen und niemand weiss, wie das gelingen kann. Das einzige, was wir relativ sicher wissen: dass der Staat, wenn er weiterhin mit Milliarden um sich wirft, irgendwann pleite sein wird.

MEDIENWOCHE:

Eine andere Kritik betrifft die Gleichförmigkeit der Berichterstattung. Woran machen Sie das fest?

Russ-Mohl:

Anfänglich kamen sehr wenige Experten zu Wort, obwohl wir inzwischen wissen, dass das Spektrum auch unter den Virologen und Epidemiologen deutlich grösser war. Viele Medien in Deutschland und auch in der Schweiz hingen am Tropf der Regierungs-PR. Da hätte ich mir in der ersten Phase eben mehr Vielfalt gewünscht.

MEDIENWOCHE:

Wie hat sich in Ihrer Wahrnehmung die Berichterstattung nach der ersten «Schockstarre» weiterentwickelt?

Russ-Mohl:

Wir sind nun glücklicherweise in der Phase angekommen, wo wir allmählich begreifen, was mit diesem Shutdown angerichtet wurde und welche Folgeprobleme auf uns zukommen. Am Anfang herrschte zwar nicht gerade Begeisterung, aber doch ein grosses Verständnis in den Medien, dass diese Massnahmen zwingend notwendig und alternativlos sind. Eine Frage oder These, die mich seither umtreibt: Haben die Medien möglicherweise durch ihre sehr einseitige Berichterstattung den Shutdown mit herbeigesendet und mit herbeigeschrieben? Über die wirkliche Gefährlichkeit des Virus tappen wir alle noch im Dunkeln, ausser dass wir wissen, dass es viele Tote gegeben hat. Ich würde mir eigentlich von allen Akteuren mehr Demut wünschen. Es gibt Dinge, die sind eben nicht machbar und steuerbar. Und wenn sich Politiker hinstellen und den Eindruck erwecken, dass sie alles im Griff hätten, dann müsste ein Aufschrei der Journalisten durchs Land gehen.

MEDIENWOCHE:

Sie sprechen oft von «den» Medien, verallgemeinern also. Inwiefern darf – oder soll – sich die Medienwissenschaft der Mittel des Journalismus bedienen? Ist Vereinfachung, Zuspitzung oder Polemik einer Debatte zuträglich?

Russ-Mohl:

Manchmal geht es ohne Zuspitzen in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit nicht und manchmal ist es aber sehr wichtig, dass man mässigend und moderierend versucht Stellung zu beziehen, statt noch weiter zuzuspitzen. Das kann man nur im konkreten Fall entscheiden. Ich würde für mich zumindest in Anspruch nehmen, dass ich das eigentlich regelmässig versuche abzuwägen, zumal ich ja in beiden Welten zuhause bin, in der Forschung und im Journalismus.

MEDIENWOCHE:

Wenn der emeritierte Professor Claus Eurich, von dem Sie auch einen Beitrag in Ihr Dossier aufgenommen haben, die Medien pauschal der «Panikverliebtheit» bezichtigt und sie ebenso pauschal als «Bevormundungsmaschine» tituliert, was ist das anderes als Polemik?

Russ-Mohl:

Ich habe diesen Text in meine Sammlung aufgenommen, weil ich auch die Vielfalt der Medienwissenschaften aufzeigen will. Ich selber würde mich von dem Statement von Herrn Eurich eher distanzieren. Fragen zu formulieren halte ich für zielführender als einfache Antworten parat zu haben.

MEDIENWOCHE:

Das Dossier hat eine heftige Reaktion ausgelöst. Der frühere Herausgeber der FAZ, Werner D’Inka, empfindet die Kritik der Medienwissenschaft als ignorant, ungerechtfertigt und pauschalisierend. Verstehen Sie, dass dieser Eindruck entstehen kann?

Russ-Mohl:

Ich habe sehr wohl Verständnis für diese Reaktion, weil ich ja selber mit einem Bein im Journalismus drin war und auch als Medienwissenschaftler immer einen sehr intensiven Kontakt zur Praxis pflegte. Für mich sieht dieser Kommentar nach einer Stressreaktion aus. Selbst wenn Werner D’Inka inzwischen pensioniert ist, ist er noch nah genug am redaktionellen Geschehen dran, dass er aus nächster Nähe mitgekriegt haben muss, wie schwierig die letzten Wochen waren und einfach nicht genau hingeguckt hat. Dann sollte er aber auch nicht schreiben.

MEDIENWOCHE:

Viele Medienschaffende empfanden D’Inkas Einlassung als Balsam auf ihre Seelen: Endlich sagt es wieder einmal einer, dass diese Forscher keine Ahnung haben vom Journalismus!

Russ-Mohl:

Wenn man nur seinen Kommentar liest und den Kontext nicht kennt, ist man schnell auf D’Inkas Seite. Aber was macht man mit Journalismus, der nur kommentiert, ohne vorher darzustellen, was die Basis des Kommentars ist? Da bin ich etwas ratlos. Aber es ist leider symptomatisch für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Journalismus. Der Journalismus ist wohl die einzige Profession, von der die zugehörige Wissenschaft nicht ernstgenommen wird. Ich frage mich, ob man weiterhin zu einem Arzt gehen würde, der einem ins Gesicht sagt, er interessiere sich überhaupt nicht für die medizinische Forschung. Wenn du in der Redaktion sagst, du interessierst dich nicht für Medien- und Journalismusforschung, dann klopfen dir die Kolleginnen und Kollegen auf die Schulter.

MEDIENWOCHE:

Die wissenschaftliche Medienkritik ist oft recht kalkulierbar und gleichförmig, das sieht man auch an den Beiträgen in Ihrem Dossier, die in den grossen Linien alle in die gleiche Richtung zielen. Mal abgesehen vom Unterschied in der Tonalität gibt es keine dissidenten Meinungen. Beobachten wir hier einen wissenschaftlichen Mainstream?

Russ-Mohl:

Es gibt sehr wohl einen gewissen wissenschaftlichen Mainstream, dem ich mich übrigens sehr oft nicht zugehörig fühle, weil ich versuche, auch mit der Brille von Ökonomen und Verhaltensökonomen auf den Journalismus zu gucken. Den Mainstream sollte man identifizieren und kenntlich machen. Im Umgang mit Corona würde ich aber differenzieren wollen. Es ist schlicht zu früh, um Genaues sagen zu können. Die Forschung hat jetzt gerade erst angefangen, und die Ergebnisse werden wir erst in ein paar Monaten oder sogar erst Jahren sehen. Erst dann können wir beurteilen, ob die Forschung bestimmte Themen ausgeklammert hat.

MEDIENWOCHE:

Die Kritik aus den Medienwissenschaften fokussiert auf die Schwächen der Corona-Berichterstattung. Positive Entwicklungen, wie etwa die starke Rolle des Datenjournalismus, werden hingegen kaum gewürdigt. So entsteht ein verzerrtes Bild der Realität.

Russ-Mohl:

Da muss ich jetzt selbstkritisch eingestehen, dass das tatsächlich ein Mangel ist. Natürlich hat Corona auch tolle kreative Leistungen im Journalismus hervorgebracht. Neben dem Datenjournalismus denke ich etwa auch an Korrespondentenberichte aus Ländern, wo es schwierig ist zu berichten. Es ist ja eigentlich erstaunlich, was immer noch geleistet wird, wenn man um die finanziellen Nöte des Journalismus weiss. Das soll man nicht kleinreden.

Leserbeiträge

Robert Weingart 24. April 2020, 09:25

Im Nachhinein ist man gscheiter, so in etwa ein Sprichwort. In der Schweiz haben die Medien mit Ausnahme von 20 Minuten meiner Meinung nach relativ verantwortungsbewusst berichtet. Aus dem Elfenbeinturm lässt es sich halt besser kritisieren, gell Herr Russ-Mohl.