Corona-Statistiken auf dem Prüfstand: Was uns Schweizer Medien servieren
In den Medienberichten zur Corona-Pandemie spielen Zahlen eine zentrale Rolle. Kaum ein Bericht, der sich nicht auf eine Statistik abstützt oder damit argumentiert. Nicht selten zeigt ein zweiter Blick elementare Mängel im Umgang mit dem Zahlenmaterial. Wir haben Beispiele von Corona-Statistiken in verschiedenen Medien unter die Lupe genommen.
«Ich studiere Statistik seit über 40 Jahren und verstehe sie immer noch nicht. Die Leichtigkeit, mit der Nicht-Statistiker sie meistern, ist erstaunlich.» Der ironische Kommentar des Biostatistikers Stephen Senn bringt die Problematik des medialen Umgangs mit statistischen Kennzahlen wunderbar auf den Punkt: Hochkomplexe statistische Zusammenhänge werden gerne auf knackige Schlagzeilen und einfach wirkende Empfehlungen verdichtet; Unsicherheiten bleiben unerwähnt oder werden aufgebauscht; unbewiesene Vermutungen verwandeln sich in gesicherte Kausalzusammenhänge.
Erstaunlich ist das nicht. Statistische Informationen verständlich und korrekt zu vermitteln, ist eine Kunst, die mathematisches Können, fachspezifisches Wissen und gestalterisches Geschick verlangt. Die Gefahr, über statistische Fallstricke zu stolpern, ist deshalb gross. Das gilt für unsinnige Vergleiche von Terror- mit Unfalltoten genauso wie für Berichte über den «Durchschnittsschweizer».
Sobald in Medienberichten statistische Kennzahlen ins Spiel kommen, ist Vorsicht geboten. Das zeigt auch die gegenwärtige Berichterstattung zu COVID-19, die besonders anfällig für statistische Stolpersteine ist, weil Infektions- und Todeszahlen sowie epidemiologische Modellierungen eine derart grosse Bedeutung in der öffentlichen Diskussion einnehmen. Viele Journalisten sind sich dessen bewusst. Die «Republik» veröffentlichte beispielsweise eine Erklärung, wie sie mit wissenschaftlichen Informationen rund um COVID-19 umgehen. In der NZZ erschien ein Artikel, der die bisweilen intransparenten Berechnungen und Modelle von Medien und Forschungseinrichtungen zum Schätzen der genesenen Patienten kritisierte. Und auch im Wissen-Teil des «Tages-Anzeigers» erschien ein Artikel über die Herausforderungen beim Lesen von Corona-Statistiken.
Darauf aufbauend möchte ich einige Punkte ausführen, auf die es zu achten gilt, wenn Medien Statistiken verwenden – illustriert anhand positiver und negativer Beispiele im Zusammenhang mit der aktuellen Corona-Berichterstattung. Beispiele, die weder für die Medienlandschaft als Ganzes, noch für die erwähnten Publikationen repräsentativ sind.
Es handelt sich also nicht um eine systematische Analyse der Qualität von Statistiken in Schweizer Medien. Das würde sowohl meine zeitlichen Ressourcen wie auch meine wissenschaftliche Kompetenz übersteigen, weshalb ich diese Aufgabe Experten wie jenen vom Forschungszentrum «Öffentlichkeit und Gesellschaft» der Universität Zürich mit ihrem Jahrbuch «Qualität der Medien» überlasse.
Die nachfolgenden Beispiele dienen lediglich als Illustration zu den Fragen, die ich aufwerfe. Diese Unterscheidung zwischen Anschauungsbeispielen einerseits und repräsentativen Aussagen andererseits ist dann auch bereits die erste wichtige Lektion, die es beim Umgang mit statistischen Informationen zu verinnerlichen gilt: Ein illustratives Beispiel ist keine repräsentative Untersuchung, eine Anekdote kein Beweis.
Tücken im Umgang mit Statistiken:
- wie viele Mikrogramm Feinstaub normalerweise in der Luft zirkulieren;
- über welchen Zeitraum eine erhöhte Konzentration gegeben sein muss, um zu schaden;
- welchen Schwankungen die Feinstaubbelastung normalerweise unterliegt;
- wie stark der Einfluss anderer Risikofaktoren auf das Sterberisiko durch COVID-19 ist.
- Zufällige Schwankungen: Besonders bei kleinen Stichproben ist Vorsicht bei der Interpretation geboten, da die berechneten Kennzahlen stärker um den tatsächlichen Wert schwanken als bei grossen Stichproben. Aus diesem Grund sollte nie über eine einzelne Studie berichtet werden, ohne diese in den Kontext mit andern Untersuchungen des gleichen Themas zu setzen. Noch besser wäre es, sich auf systematische Zusammenfassungen der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema zu stützen.
- Systematische Verzerrungen: In der Schweiz wurden hauptsächlich Risikopatienten und Menschen mit einem schweren Krankheitsverlauf auf SARS-CoV-2 getestet. Die getesteten Personen stellen also keine zufällige Auswahl der Gesamtbevölkerung dar. Repräsentative Untersuchungen wie jene der Universität Genf versuchen, diese Verzerrungen zu beheben.
- Wissenschaftliche Unklarheiten: SARS-CoV-2 wird seit weniger als 6 Monaten wissenschaftlich untersucht. Die wissenschaftliche Forschung bewegt sich deshalb in vielerlei Hinsicht auf unbekanntem Gebiet. Die involvierten Wissenschaftler müssen laufend dazulernen und alte Hypothesen mit neuen Daten abgleichen. Demgegenüber wird etwa der Zusammenhang von CO2 auf die globalen Durchschnittstemperaturen schon seit Jahrzehnten untersucht – entsprechend besser abgestützt sind die entsprechenden wissenschaftlichen Ergebnisse.
- Menschliche Fehler: Auch Wissenschaftler sind nur Menschen und können Fehler begehen. Aus diesem Grund ist es entscheidend, dass wissenschaftliche Publikationen kritisch von anderen Fachleuten begutachtet werden («Peer Review»). Das ist noch keine Garantie, dass alle Fehler erkannt wurden, aber Veröffentlichungen, die noch nicht von anderen Fachleuten begutachtet wurden, sollten sehr vorsichtig ausgelegt werden. Im Zusammenhang mit COVID-19 sollten Medienschaffende das ganz besonders berücksichtigen. Aufgrund des Zeitdrucks werden viele neue Ergebnisse als sogenannte «Pre-Prints» veröffentlicht und damit meist ohne vorangehende Überprüfung durch andere Forschende. Mit allergrösster Vorsicht zu geniessen sind Publikationen, bei denen die Forschenden sich zuerst mittels einer Medienmitteilungen an die Öffentlichkeit wenden, also bevor andere Wissenschaftler überhaupt die Möglichkeit hatten, die Ergebnisse zu überprüfen. Aufgrund des gesteigerten Zeitdrucks gehört dieses «science by press release» oder «science by press conference» bei der Forschung zu COVID-19 fast schon zur Normalität. Ein Beispiel dafür ist die Pressemitteilung der Universität Genf zu den ersten Ergebnissen ihrer Antikörperstudie. Die Medienmitteilung mit den Resultaten wurde bereits am 22. April veröffentlicht, der Pre-Print mit den detaillierten Angaben zur Methodik und zur Erhebung der Daten erst am 6. Mai. Immerhin teilte die Studienleiterin Silvia Stringhini auf Twitter das Studienprotokoll noch am Tag der Medienmitteilung und wies durchaus selbstkritisch auf die Schwierigkeit hin, den enormen politischen Druck nach zügigen Resultaten in Einklang zu bringen mit solider und seriöser Überprüfung der Daten.
Statistiken sollten Erkenntnisse schaffen, nicht Meinungen bestätigen. Das unterscheidet einen seriösen Umgang mit statistischen Kennzahlen von einem unseriösen. Wenn der Schluss am Anfang der Geschichte steht und die Statistik lediglich dazu dienen soll, den eigenen Argumenten mehr Gewicht zu geben, dann kann man gleich auf sie verzichten. Dasselbe gilt im Übrigen für Expertenmeinungen: Wer nur Experten befragt, die den eigenen Schluss stützen, macht es sich zu einfach.
Statistiken so aufzubereiten, dass sie aussagekräftig, verständlich und dennoch korrekt sind, ist eine Kunst. Und weil ich weiss, wie schwierig es ist, diese hohen Anforderungen zu erfüllen, ist es mir wichtig zu betonen: Die oben besprochenen Beispiele allein lassen keine Aussage über die Expertise ihrer Urheber zu. Viele der diskutierten Fehler kenne ich aus eigener Erfahrung und einige davon begehe auch ich, wenn ich unter Zeitdruck stehe. Insofern kann ich verstehen, dass nicht alles, was aus der Perspektive eines statistischen Erbsenzählers wünschenswert ist, auch umsetzbar ist – insbesondere aufgrund des enormen Zeitdrucks, dem Journalistinnen und Journalisten in der Regel ausgesetzt sind.
Die perfekte Statistik gibt es nicht. Was in einer Situation nützlich und informativ ist, kann im nächsten Fall komplett in die Irre führen.
Dennoch erachte ich es als eine entscheidende redaktionelle Aufgabe, komplexe statistische und wissenschaftliche Informationen sauber und verständlich aufzubereiten. Denn einige Menschen schliessen aus der Existenz bestimmter Unsicherheiten fälschlicherweise auf die Abwesenheit jedweder Gewissheit – und nehmen dies als Ausrede, um ihre eigene Meinung gleichberechtigt neben eine saubere Analyse der vorhandenen, wenn auch mit Unsicherheiten behafteten, Informationen zu stellen. Umso wichtiger ist es, dass Medienhäuser ihren Angestellten genügend Zeit und Ressourcen zur Verfügung stellen, um dem entgegenhalten zu können.
Und schliesslich ist es wichtig zu erwähnen, dass es «die» perfekte Statistik nicht gibt. Was in einer Situation nützlich und informativ ist, kann im nächsten Fall komplett in die Irre führen. Das ist kein Aufruf zur Beliebigkeit, sondern zur Berücksichtigung des Kontexts, in dem eine Statistik verwendet wird. Statistiken sind wie Worte: Richtig und umsichtig eingesetzt können sie den Horizont erweitern. Wer sie fahrlässig verwendet, führt in die Irre, statt Klarheit zu schaffen.
Heiner Motschi 16. Mai 2020, 06:41
Sehr erhellend von A bis Z, danke. – Diese Einsichten muss man auch auf die Klimadebatte übertragen, wenn denn das überhaupt noch eine Debatte ist und nicht ein simples Niederschreien.
Theo Schmidt 18. Mai 2020, 15:17
Bei der Klimaerwärmung geht es mehr um Messungen als um Statistik. Ausserdem geht es dort um ein sehr träges System, während die Coronakrise sehr rasch stattfindet und sich wegen der vielen teils kaum bekannten Faktoren mathematisch nur sehr grob modellieren lässt.