von Benjamin von Wyl

50 Jahre Schwarzenbach-Initiative: Als die SP-Zeitungen mit dem Feuer spielten

Am 7. Juni 1970 stimmten die Schweizer Männer über die Schwarzenbach-Initiative ab. Eine zweifelhafte Rolle spielte die damals noch starke sozialdemokratische Presse. Die SP-Zeitungen empfahlen zwar, das ausländerfeindliche Begehren abzulehnen. Das taten sie aber, indem sie rassistische Ressentiments noch verstärkten, wie ein Blick ins Archiv zeigt.

War es Überzeugung oder war es Angst vor der eigenen Basis? Der Grund für die Linie der sozialdemokratischen AZ-Zeitungen in den Monaten vor der Schwarzenbach-Abstimmung bleibt offen. Aber klar ist: Im Einsatz gegen die Initiative, deren Annahme 300’000 bis 400’000 Menschen ohne Schweizer Pass gezwungen hätte, das Land zu verlassen, blieb im AZ-Verbund die Menschlichkeit immer wieder auf der Strecke.

Ein halbes Jahr vor der Abstimmung startete das Kopfblattsystem: Zehn sozialdemokratische Zeitungen aus allen Deutschschweizer Regionen erschienen neu mit einheitlichem Mantelteil und erreichten eine Gesamtauflage von 68’000 Exemplaren. «Wir sind die fünftgrösste Zeitung der Deutschschweiz», freute sich Chefredaktor Helmut Hubacher, der bereits damals für die SP im Nationalrat sass.

Zwei Jahre später scheiterte dieser AZ-Verbund – aus finanziellen Gründen. An mangelnder Toleranz gegenüber Anzeigekunden kann es nicht gelegen haben: Noch kurz vor der Abstimmung druckten die AZ-Zeitungen grosse Inserate von Schwarzenbachs Nationaler Aktion.

Die sozialdemokratischen Zeitungen haben im Abstimmungskampf an niedrige Instinkte appelliert und Ressentiments legitimiert.

Das knappe Nein zur fremdenfeindlichen Initiative blieb für Hubacher, der bald nach dem AZ-Flop zum SP-Präsidenten aufstieg, prägend. Zuletzt im November 2019 sprach der mittlerweile 94-Jährige mit der Weltwoche über Schwarzenbach und dessen Folgen für die Sozialdemokratie.

Nach Schwarzenbachs Tod 1994 verfasste Hubacher in der Vor-Köppel-Weltwoche einen Nachruf. «Der Abstimmungskampf war unerhört aufwühlend, schürte den Fremdenhass, es wurde an niedrige Instinkte appelliert, die Ausländer waren die Sündenböcke der Nation.» Die «demokratische Linke» und «die Gewerkschaften» hätten für «ihre solidarische Haltung und für ihr Einstehen zugunsten fremder Menschen einen hohen politischen Preis entrichtet», so bilanzierte Hubacher 24 Jahre nach der Abstimmung in der Weltwoche.

Der Gang ins Zeitungsarchiv zeigt: Die Zeitungen des AZ-Verbunds selbst haben im Abstimmungskampf an niedrige Instinkte appelliert und Ressentiments legitimiert. Die Berichterstattung zum Thema startete bereits im Januar 1970 mit einem Leitartikel des frischgebackenen Super-Chefredaktors. Hubacher zeichnete die breite Sympathie für die «Schwarzenbach-Initiative» bei der gewerkschaftlichen Basis nach. In Emmenbrücke sei etwa ein Gewerkschaftssekretär, der gegen die Initiative sprach, ausgebuht worden. Gemäss diesem seien die Leute keine Fremdenhasser. Sie hätten nichts gegen «den einzelnen Italiener», zitiert ihn Hubacher anonym. Weiter: «Aber es ist ihnen verleidet, im Tram, in den Restaurants, im Spital, beim Tanz, in der Eisenbahn und sonst noch an vielen Orten unter zu vielen Ausländern sein zu müssen.» Auf jede Einordnung dieser rassistischen Aussage auf der Titelseite verzichtete Hubacher.

Hubacher überzeugte den SP-Parteivorstand von der Nein-Parole mit der Aussage: «Fremdarbeiter sind nicht unsere Neger.»

Die fremdenfeindlichen Überzeugungen nahm man offensichtlich in Kauf – in der Hoffnung, die Leser würden Nein stimmen. Die Fremdenfeindlichkeit kam auch nicht von irgendwo: Lange haben die Gewerkschaften sie politisch genutzt. In einem AZ-Beitrag betonte SP-Nationalrat und Gewerkschafter Ernst Wüthrich, dass die Gewerkschaften den «Ausländerstopp» bereits seit 1957 fordern, dass es ihnen dabei nicht bloss «um lohnpolitische Ziele» gehe – und dass er nun vom Bund erwarte, «die Flut zurückzustauen, ohne jemandem weh zu tun.» Das Vokabular unterscheidet sich nicht von der heutigen SVP.

Hubacher wiederum überzeugte den SP-Parteivorstand von der Nein-Parole mit der Rede «Fremdarbeiter sind nicht unsere Neger», die zum 1. Mai in allen AZ-Zeitungen nachgedruckt worden ist. Darin zitierte Hubacher zwar auch Max Frischs berühmte Aussage «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Gleichzeitig sagte er aber unmissverständlich: «Das Überfremdungsproblem als solches besteht. Nur so ist die Resonanz der Initiative zu erklären.»

Heute, nach populistischen Erfolgen in ganz Europa, wirkt diese Logik durchschaubar. Nur noch Rechtspopulisten argumentieren, dass ein Problem allein deshalb real sei, weil ein Ressentiment existiert. Vor 50 Jahren sah dies aber auch die sozialdemokratische Presse so. Bei der 1.-Mai-Rede in Schaffhausen habe ein SP-Stadtrat gemäss AZ-Reporter «in völliger Hochhaltung der Objektivität» dargelegt, dass es Überfremdung gebe. Parallel zu dieser Legitimierung von rassistischen Reflexen schrieb ab und an auch ein Autor darüber, dass der rechte Kampfbegriff «Überfremdung» bloss ein Fantasma sei oder erinnerte an die Sympathien für Hitler und Mussolini, die Schwarzenbach in einem Leserbrief in den «Basler Nachrichten» äusserte.

In Artikeln schrieben Gewerkschaftsfunktionäre darüber, dass die Ausländer von den Unternehmern jahrelang «gehätschelt» worden seien.

«Schweizer Bürger, die (…) in zwei Weltkriegen hunderte von Diensttagen für das Vaterland geopfert haben» würden «wegen der Überfremdung aus ihren Wohnungen vertrieben», schreibt W. Müller 1970 in einem AZ-Leserbrief. Ein Hans Kindermann habe lange mit Italienern zusammengearbeitet – «auch mit Assimilierten». Keiner könne sich über ihn beklagen. «Aber was ich an Hinterhältigkeiten erfahren habe, geht auf keine Kuhhaut.»

Ebenfalls übel lesen sich manche Inserate, die für ein Nein warben. Man liest da: «Die Ausländer schaffen Probleme, gewiss.» Weiter würden die Ausländer hier halt nicht nur arbeiten, sondern auch wohnen: «Man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben.»

In Artikeln schrieben Gewerkschaftsfunktionäre darüber, dass die Ausländer von den Unternehmern jahrelang «gehätschelt» worden seien und dass die Bevorzugung in «immer groteskerem Liebeswerben» ausgeartet sei. In Milchbüechli-Rechnungen führten AZ-Redaktoren aus, dass bei Annahme der Schwarzenbach-Initiative Unternehmen zusammenbrechen würden. Sie mündeten dann in Aussagen wie: «Diese Bemerkung soll aber kein Freipass sein zu weiterem Wursteln in der Fremdarbeiterpolitik.»

Im Kontrast dazu beinahe nüchtern liest sich der einzige AZ-Artikel, der die «Schwarzenbach-Initiative» zur Annahme empfahl. Verfasser war James Schwarzenbach persönlich. Die sozialdemokratische Presse räumte dem Faschismus-Bewunderer eine Carte Blanche ein. «Jeder Dritte in der Industrie Beschäftigte ist ein Fremdarbeiter. (…) Kein Land Europas kennt ein solches Verhältnis und kein anderes Volk würde eine solche Überfremdung dulden.» Auf einer Dreiviertel Seite stellt Schwarzenbach seine aberwitzigen Modellrechnungen vor – mit anderen Zahlen, als sie sonst in der AZ zu lesen waren, aber auch ohne Begriffe wie «Flut» oder «Ausländerstopp». Schwarzenbach formulierte seine Position weniger ressentimentgeladen als manch sozialdemokratischer Journalist.

Von «solidarischer Haltung», für die die SP laut Hubacher seit damals einen hohen Preis zahle, spürt man bei der historischen AZ-Lektüre wenig. Die sozialdemokratische Presse hatte im Abstimmungskampf 1970 eine Linie gefahren, die Fremdenfeindlichkeit in Kauf nahm, legitimierte oder verstärkte – in der Hoffnung, dass die Schweizer Männer die Initiative an der Urne ablehnten.

Natürlich war Schwarzenbachs Nüchternheit in der AZ taktisch. Nicht alle, die Ja stimmen, sollten sich als Rassisten fühlen. Das wollte auch die AZ nicht: Am Tag, nachdem die Initiative mit 54 Prozent abgelehnt wurde, hiess es auf der Titelseite über entschiedene Nein-Werbung: «Dümmer ging’s nicht mehr: Wer Ja stimmte, wurde als Faschist plakatiert.»

Leserbeiträge

Gernegross 05. Juni 2020, 08:51

Tatsächlich ist es noch heute so, dass man als Schweizerin mit Migrationshintergrund in der 3. (!!!) Generation noch wegen der klaren ethnischen Unterschiede beim Wählen bös angeschaut wird. Wer schon beim Wahrnehmen seiner politischen Rechte unwillkommen ist, wird sich auch kaum politisch engagieren (es sei denn man bringt die Wählerstärke von Schweizern mit Migrationshintergrund aus der eigenen Community mit). Es ist Zeit, dass sich die Schweiz daran gewöhnt, dass es SchweizerInnen aller Ethnien gibt, und dass diese auch bleiben werden. Ob nun Schwarzenbach oder die heutige SVP: Rassismus bleibt Rassismus, und Herrn Hubachers Relativierungsversuche demaskieren, dass selbst heute noch Leute in der SP sind, welche eingebürgerte Schweizer nicht in der Politik sehen wollen. Auch in der Schweizer Medienlandschaft werden kaum Leute mit Migrationshintergrund gleichwertig zu ihrer gesellschaftlichen Proportion abgebildet. 25%+ sind AusländerInnen, noch mehr sind SchweizerInnen mit einem ausländischen Elternteil, selbst Roger Federer. Bald sind das 50% der Bevölkerung, die medial nicht zu Wort kommen, sondern wenn dann nur in einer People Story in der SI voller fremdenfeindlicher Klischees. Ob Forschung, Sport, Wirtschaft, Gesundheit oder soziale Arbeit: in manchen Branchen sind 70% der Arbeitnehmer Ausländer oder Eingebürgerte. Niemand schreibt über sie in der Zeitung ausser bei Verbrechen oder wenn sie einen wissenschaftlichen Preis oder im Sport gewinnen.