von Marko Ković

Armut am TV: Die perverse «Reality» der Privatsender

Vermeintliche Sozialreportagen, in denen das Leben von Hartz-IV-Empfängern beleuchtet wird, boomen. In erster Linie geht es in solchen Formaten darum, Menschen am Rande der Gesellschaft als faule, undisziplinierte, dumme Schmarotzer hinzustellen. Das ist nicht nur entmenschlichend, sondern auch ideologisch verzerrt. Marko Kovic und Christian Caspar diskutieren in ihrem Podcast «Das Monokel» über Empathielosigkeit als Geschäftsmodell.


Wenn von Armut die Rede ist, denken wir vielleicht spontan an Menschen in Entwicklungsländern, die ihr Dasein in elenden Verhältnissen fristen. Doch auch in reichen westlichen Ländern leben Millionen von Menschen in prekären materiellen Verhältnissen. Gemäss Bundesamt für Statistik sind in der Schweiz rund 14 Prozent der Bevölkerung armutsgefährdet. Eurostat, das statistische Amt der europäischen Union, schätzt diesen Wert für die Schweiz mit 17 Prozent etwas höher ein – auf ein ähnliches Niveau wie Österreich mit ebenfalls rund 17 Prozent und Deutschland mit rund 19 Prozent.Armut ist also auch bei uns eine soziale Realität. Es ist entsprechend wichtig, dass wir als Gesellschaft das Problem erkennen und benennen, den Betroffenen eine Stimme geben und die Ursachen kritisch unter die Lupe nehmen. Das ist auch und vornehmlich eine Aufgabe des Journalismus.

Um Debatten anzuregen, eignet sich besonders gut die kritische Sozialreportage. In Bild und Ton vermittelt zu kriegen, wie Menschen in materieller Entbehrung leben, kann für die Problematik sensibilisieren und Empathie mit den Betroffenen aufbauen.

Medienformate, die sich mit Armut befassen, können aber auch genau das Gegenteil bewirken – wie im Falle der Armuts-Reality-Sendungen im deutschen Privatfernsehen. Armut wird dort als persönliche und verachtenswerte Verfehlung inszeniert.

Auf Sendern wie RTL, RTL 2, Pro 7, oder Sat.1 boomen derzeit Reality-TV-Formate, wie «Die Schmarotzer sind zurück: Marcus und Jessica getrennt?? Armes Deutschland», «Tag für Tag Benz-Baracken. Hartz und Herzlich», oder «Hartes Pflaster: Sozialer Brennpunkt Offenbach». Sie geben vor, den den Lebensalltag von Menschen zu dokumentieren, die von Arbeitslosengeld leben. Doch das Ziel dieser Formate ist nicht, den Betroffenen und ihrer Situation mit Empathie und Wohlwollen zu begegnen. Stattdessen geht es darum, die Betroffenen als faul, undiszipliniert, irrational, und als Sozialschmarotzer zu inszenieren.

Das zeigt der deutsche Medienwissenschaftler Bernd Gäbler in der Studie «Armutszeugnis: Wie das Fernsehen die Unterschicht vorführt». Im Armuts-Reality-TV sind die Armen keine Opfer, sondern Täter: Nicht nur sind sie selber schuld an ihrer Situation – sie liegen dem rechtschaffenen Teil der Bevölkerung auch ungeniert auf der Tasche. Je stärker sich das Publikum darob empört, ekelt und aufregt, desto höher die Einschaltquoten.

Solche Formate sind in mehrfacher Hinsicht problematisch:

Erstens geben sie den Lebensalltag der Protagonistinnen und Protagonisten nicht angemessen wieder. Sie inszenieren und dramatisieren mit filmischen Mitteln wie Montage, Musik, Voiceover und Schnitt das Bild der faulen Sozialschmarotzer. Wenn zum Beispiel eine Protagonistin erwähnt, sie habe es gerne sauber, dann im Film aber ein Schnitt zu einer Küchenschabe gemacht wird, ist das eine emotionale Manipulation am Zuschauer.

Zweitens fokussiert Armuts-Reality-TV auf die angebliche Eigenverantwortung der Betroffenen und ignoriert komplett die strukturellen Faktoren hinter Armut. Die Prämisse: Wer arm ist, hat es wortwörtlich nicht verdient, ein lebenswertes Leben zu leben. Mit Fleiss und Disziplin kann es jede und jeder schaffen.

Drittens trägt Armuts-Reality-TV zur gesellschaftlichen Entsolidarisierung bei. Bei solchen Formaten geht es darum, die Schwachen und Machtlosen blosszustellen. Ein empathischer, solidarischer Blick würde aber offenbaren, dass die meisten Menschen, die von Lohnarbeit leben, oft nur einen kleinen Schritt von einschneidender materieller Entbehrung entfernt sind – und dass es gar nicht so einfach ist, aus der Armut den Weg zurück in die «Normalität» zu finden.

Leserbeiträge

Heinz Becker 16. Oktober 2020, 12:08

„Wer arm ist, hat es wortwörtlich nicht verdient, ein lebenswertes Leben zu leben.“

Ich würde die schwarze Pädagogik dahinter kausal genau andersrum sehen: Wer asozial und faul ist, kann auch nur arbeitslos und damit arm sein. Es ist ein voyeuristisches Aufdecken des vermeintlichen „karmischen“ Umfelds, was in solchen Pseudo-Sozialreportagen stattfindet. Die Meta-Komponente, dass die Leute so hilflos und unbedarft sind, dass sie für ein paar Hundert Euro ein Reporterteam ihren Lebensalltag nach einem Drehbuch verzerrt darstellen lassen, verbietet eine ernsthafte Beschäftigung mit solchen Formaten ohnehin.