von Eva Hirschi

RTS-Enthüllungen: Irgendwann musste es raus

Die Fälle von sexueller Belästigung beim Westschweizer Fernsehen RTS waren in der Medienbranche schon lange bekannt. Warum wird erst jetzt darüber berichtet? Und: Geht «Le Temps» zu weit mit dem unfreiwilligen Outing von Darius Rochebin?

Überrascht von den Fällen von Mobbing, Sexismus und sexueller Übergriffe bei Radio Télévision Suisse RTS war eigentlich nur das Publikum – hinter den Kulissen wussten viele Bescheid. Seit Jahren kursierten Gerüchte über Starmoderator Darius Rochebin, aber auch über andere RTS-Kader. Und das längst nicht nur auf den Gängen des Westschweizer Fernsehens in Genf – fast die ganze Medienbranche in der Romandie schien davon gewusst zu haben. «Von den Gerüchten über Darius Rochebin wusste ich schon, als ich mit dem Journalismus überhaupt erst begann», sagt ein RTS-Journalist mit knapp zehn Jahren Berufserfahrung gegenüber der MEDIENWOCHE.

In einem Artikel auf fünf Seiten hat die Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» Ende Oktober zahlreiche Fälle sexueller Belästigungen und Übergriffe durch drei RTS-Angestellte aufgedeckt, wovon sich einige vor fast zwanzig Jahren ereignet haben. Für diesen Artikel hat das Rechercheteam von «Le Temps» gemäss eigenen Angaben mehrere Monate lang recherchiert und mit rund 30 Zeugen gesprochen.

Nebst zwei anonymisierten Kaderleuten adressieren sich die Vorwürfe auch an den beliebten Starmoderatoren Darius Rochebin, der diesen Sommer von der RTS an den französischen Sender LCI in Paris gewechselt hat. Ihm wird zusätzlich vorgeworfen, falsche Facebook-Accounts verwendet zu haben, um als «Studentin» mit jungen Männern in Kontakt zu treten und diese zu einem späteren Zeitpunkt zu treffen. Die Verwendung der falschen Facebook-Accounts durch Rochebin wurde bereits 2017 dem RTS-Direktoren Pascal Crittin gemeldet.

Es blieb jedoch bei einem Hinweis auf die Social-Media-Regeln des Hauses. Zahlreiche RTS-Angestellte sowie die Gewerkschaft SSM werfen der RTS-Direktion mangelnde Verantwortung und ungenügende Instrumente zum Schutz für Opfer von sexuellen Übergriffen und Mobbing vor.


Wie kommt es also, dass diese Verfehlungen und Übergriffe durch den Enthüllungsartikel von «Le Temps» ausgerechnet jetzt publik wurden? Die Chefredaktion der Westschweizer Zeitung, weist in ihrem Editorial zur Recherche darauf hin, dass in der Vergangenheit «alles Mögliche getan wurde, um inakzeptables Verhalten unter dem Deckel zu halten». Ausserdem hätten die Recherchen mehrere Monate gedauert. Eine Erklärung für den Zeitpunkt der Veröffentlichung liegt in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahre. «Das muss man im Kontext der #MeToo-Debatte und des Frauenstreiks anschauen, die zu einem gesellschaftspolitischen Wandel geführt haben. Früher wurden sexuelle Belästigungen kaum irgendwo ernst genommen», sagt Géraldine Savary, zukünftige Chefredaktorin des Westschweizer Frauenmagazins «Femina». «Dass gerade drei junge Medienschaffende darüber recherchiert haben, zeigt auch, dass dieses Thema die jüngere Generation besonders beschäftigt.»

Die Journalistin und ehemalige SP-Ständerätin aus dem Kanton Waadt findet die Publikation dieses Artikels auch deshalb wichtig, weil damit ein strukturelles Problem aufgezeigt werde: Die männlich dominierte Hierarchie der RTS verhindere oft – man kennt es aus anderen Unternehmen –, dass gegen Fälle sexueller Belästigung etwas unternommen werde. «Solche Männer verhalten sich wie eine Fussballmannschaft und schützen sich gegenseitig», sagt Savary. «Nur weil – oder gerade weil – die RTS Service public anbietet, darf sie aber von solcher Kritik nicht verschont bleiben.»

Ein naheliegender Grund für den Zeitpunkt der Publikation: Darius Rochebin hatte im Juli bekannt gegeben, die RTS zu verlassen und zum Nachrichtensender LCI nach Paris zu wechseln. Im Sommer füllten zahlreiche Porträts und Reportagen zu Rochebins Abgang die Westschweizer Medien – fast alle durchaus positiv. Die drei Journalistinnen und Journalisten von «Le Temps» sowie der Chefredaktor Stéphane Benoit-Godet wollten sich gegenüber der MEDIENWOCHE nicht äussern.

Obwohl die Gerüchte schon seit Jahren zirkulierten, fehlten der RTS-Direktion angeblich die Belege.

Die glorifizierende Berichterstattung über Starmoderator Rochebin soll bei einigen Opfern Wut ausgelöst haben. Nun waren sie bereit, mit den Medien zu sprechen – neben «Le Temps» recherchierten auch die beiden Genfer Tageszeitungen «Tribune de Genève» und «Le Courrier» gemeinsam zu diesem Fall und publizierten kurz nach «Le Temps» ihre Recherchen. Auch zeigten die Betroffenen die Nachrichten von den falschen Facebook-Accounts, die Darius Rochebin für die Kontaktaufnahme mit ihnen verwendet hatte, mit anzüglichen Nachrichten oder Fragen zu sexuellen Vorlieben. Denn obwohl die Gerüchte schon seit Jahren zirkulierten und der Fall der falschen Facebook-Accounts von Rochebin der RTS seit 2017 bekannt war, fehlten der RTS-Direktion angeblich die Belege.

Simone Rau, Reporterin beim Recherchedesk von «Tamedia», hat letztes Jahr grossflächig zu sexueller Belästigung und Sexismus in der Schweizer Medienbranche recherchiert. In einer anonymen Umfrage berichteten 244 Journalistinnen und 34 Journalisten, dass sie sexueller Belästigungen oder Übergriffen bei der Arbeit ausgesetzt waren. Simone Rau und ihr Team stellten in der Umfrage fest: Nur die wenigsten Betroffenen melden die Vorfälle. «Juristische Klagen gibt es bei sexuellen Belästigungen selten, das zeigt auch unsere Recherche. Denn oft finden sie in einer Grauzone statt. Die Opfer sind sich nicht sicher, wie gravierend ihr Fall ist.»

Die Recherchen von «Le Temps» zeigen auch, dass die vorhandenen Strukturen von RTS zur Bekämpfung solcher Fälle offensichtlich versagt haben.

Sexuelle Übergriffe und Belästigungen in der Medienbranche würden besonders häufig von Vorgesetzten begangen, und die belästigten Frauen und Männer seien oft junge Berufseinsteigerinnen und Berufseinsteiger, die sich häufig nicht trauten, die Fälle zu melden, sagt Rau. «Und auch wenn die Vorfälle strafrechtlich relevant wären: Es handelt sich dabei in den allermeisten Fällen um Vier-Augen-Delikte, und da stellt sich immer auch die Frage nach der Beweisbarkeit», so Rau. Genau darin liegt das Problem: Fehlen Beweise, wird die Schuld an solchen Fällen häufig den Betroffenen überwiesen – sie hätten auf rechtlichem Weg reagieren sollen. Dabei sollte es erst gar nicht so weit kommen müssen. Dass die vorhandenen Strukturen von RTS zur Bekämpfung solcher Fälle offensichtlich versagt haben, zeigt der Artikel von «Le Temps».

In der Tat handelte es sich auch im Fall von RTS mehrheitlich um junge Journalistinnen und Journalisten oder um Studierende, die in den Journalismus einsteigen wollten, die von Belästigungen und Übergriffen berichten. «Gerade in diesen Konstellationen melden die wenigsten Belästigten die Vorfälle – was soll man schon gegen den Chef ausrichten? Im Falle von RTS: Gegen einen Star?», sagt Rau.

Die Namensnennung im Fall von Darius Rochebin stösst auf Kritik. Gar von «medialem Meuchelmord» ist die Rede.

Dennoch gibt es auch Kritik am Enthüllungsartikel von «Le Temps» – wenn auch hauptsächlich von älteren Männern, sei dies auf Social Media oder etwa im Artikel von Peter Rothenbühler in der «Weltwoche». Insbesondere die Namensnennung im Fall von Darius Rochebin, dem bekanntesten und beliebtesten Journalisten der Romandie, stösst auf Kritik. Gar von «medialem Meuchelmord» ist die Rede. Doch bei Darius Rochebin handle es sich ganz klar um eine Person des öffentlichen Interesses, sagt die ehemalige Politikerin Géraldine Savary: «Rochebin war sich seiner Rolle sehr bewusst. Er stellte sein Privatleben zur Schau und liess sich beispielsweise mit seiner Frau und seinen Kindern fotografieren.»

Auch der Jurist und Journalist Dominique Strebel, der an der Journalistenschule MAZ in Luzern Medienethik unterrichtet, sieht die Namensnennung gerechtfertigt. Dass es sich um eine Person des öffentlichen Interesses handle, reiche als Argument allein allerdings noch nicht: «Die entscheidende Frage ist, ob am Eingriff in sein Privatleben ein berechtigtes öffentliches Interesse in Zusammenhang mit seiner Funktion besteht. Das ist nur gegeben, wenn der Vorwurf einen Zusammenhang mit dem Grund hat, weshalb die Person eine öffentliche Person ist», sagt Strebel. Bei Rochebin sei dies gegeben: «Der begründete Verdacht beruht offenbar auf einer Ausnutzung seiner Machtposition, seiner mangelnden Integrität und Haltung, sowie der Verwendung einer falschen Identität auf Facebook, was den journalistischen Standards widerspricht, für die er eine Vorbildfunktion innehatte. Dieser Zusammenhang begründet das öffentliche Interesse, das gegenüber dem Eingriff in die Privatsphäre überwiegt», sagt Strebel.

«Vielleicht hätte es gereicht, von den betroffenen Personen ohne Nennung des Geschlechts zu sprechen.»
Géraldine Savary, designierte Chefredaktorin «Femina»

Etwas komplizierter sei die Frage, ob das unfreiwillige Outing des verheirateten Vaters zweier Töchter gerechtfertigt war. Seine mutmassliche Bi- oder Homosexualität war bis anhin öffentlich nicht bekannt. Dieses unfreiwillige Outing wird von einigen Medienbeobachtern stark kritisiert. Dominique Strebel sieht das öffentliche Interesse nur dann als gegeben, sollte der Verweis auf seine sexuelle Orientierung im Artikel eine sachlich wichtige Information darstellen, etwa, wenn der Artikel aufzeigen wolle, dass von sexueller Belästigung nicht nur Frauen, sondern auch Männer betroffen sind. Ist dieser Verweis jedoch kein sachlich wichtiges Element und wird eher beiläufig erwähnt, sei die Publikation dieser Information unverhältnismässig, so Strebel. Im Artikel von «Le Temps» war dies nicht der Fall. Géraldine Savary sagt dazu: «Vielleicht hätte es gereicht, von den betroffenen Personen ohne Nennung des Geschlechts zu sprechen.»

Auch bei «Le Temps» war man sich längst nicht einig gewesen über die Offenlegung dieser Recherche, anscheinend sprachen sich einige Redaktionsmitglieder gegen die Publikation aus. Fest steht, dass der Artikel einiges ins Rollen gebracht hat: Die zwei im Artikel anonym erwähnten Kaderleute hat die RTS mittlerweile suspendiert, eine externe Untersuchung wurde eingeleitet. Auch sei eine Hotline eröffnet worden, wo Fälle von sexueller Belästigung gemeldet werden können – auch solche, die schon länger zurückliegen. «Anscheinend ist der Ansturm enorm, es soll bis zu drei Wochen Wartezeit geben, bis man einen Termin erhält», sagt ein RTS-Journalist gegenüber der MEDIENWOCHE.

Und der Starmoderator? Beim französischen Sender LCI wurde Darius Rochebin vorübergehend suspendiert, er sei zurzeit bei seiner Familie in der Schweiz – ob er zu einem späteren Zeitpunkt zu LCI zurückkehren wird, ist noch unklar. Die französische Politik-Journalistin Elizabeth Martichoux springt für ihn ein, damit Rochebin sich um die Angelegenheit kümmern kann, denn er hat angekündigt, Anzeige gegen «Le Temps» zu erstatten. Zu den Vorwürfen liess Rochebin über seinen Genfer Anwalt ausrichten: «Ich habe nie eine nicht einvernehmliche oder unrechtmässige Beziehung gehabt.» Ob dem Moderator juristisch etwas vorgeworfen werden kann, ist unklar. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Bild: iStockphoto/Montage: Marco Leisi