von Robert Ruoff

Für eine Medienpolitik mit Zukunft

Wir stehen an einem Wendepunkt. Alle Medien spielen neu im gleichen Medienraum. Gleichzeitig schwinden die Ressourcen für den Journalismus und es fehlt eine sinnvolle Regulierung. Es ist an der Zeit, eingehend darüber nachzudenken, wie das Schweizer Mediensystems aussehen soll. Ein Essay als Anregung zur Debatte.

Es gilt zuallererst und definitiv die Feststellung: «Alles ist digital, alles ist Multimedia.» «Alles» heisst an dieser Stelle: Alle grösseren Medienhäuser arbeiten im Internet, alle journalistische Tätigkeit erfolgt in einer zunehmend multimedialen Welt. Das ist die Wirklichkeit der Medienentwicklung. Sie löst die bisherigen Unterschiede und Gegensätze zwischen den Medienhäusern auf, weil in der Tendenz alle multimedial tätig sind. Und sie verändert grundlegend die Beziehung zwischen den Medienschaffenden und ihrem Produkt, und auch zwischen den Medienschaffenden und den Nutzenden: Alle können auch senden, nicht nur empfangen. Das ist die Voraussetzung für jede intelligente Medienpolitik.

Das bedeutet: Das Denken in fundamentalen Gegensätzen zwischen Print und elektronischen Medien ist überholt. Überholt ist auch das schlichte Denken im Gegensatz von «privat» und «Service public». Qualitätspublizistik für die gesellschaftliche Diskussion, die direktdemokratische Praxis und eine aktivierende Unterhaltung ist in einer relevanten Grössenordnung aus dem kleinen Schweizer Markt nicht mehr voll zu finanzieren. Qualitätsmedien benötigen öffentliche Mittel.

1. Immer mehr im Netz und multimedial. Das Medienschaffen hat seinen Ort zunehmend online. Die Digitalisierung und Plattformisierung der gesamten Medienwelt führt zu einer fundamentalen Veränderung des Verhaltens von Nutzerinnen und Nutzern. Das ist die Abwanderung von Print zu Online, vom zeitlich strukturierten Fliessprogramm zum Angebot auf den eigenen und fremden Plattformen – von Youtube bis Tiktok. Das Produkt gibt es unabhängig von Ort und Zeit der Nutzung.

2. Neue Welt, historischer Auftrag. In der Online-Welt der vielen Plattformen ist die einst monopolistisch starke SRG mit ihren Medien nur noch eine von vielen Anbieterinnen, die versuchen, mit den eigenen Inhalten in neuer Form am neuen Ort eine neue User-Bindung herzustellen. Der historische Service-public-Auftrag im Dienst des politischen Souveräns und der vielfältigen Gesellschaft bleibt aber bestehen.

3. Existenzgrundlage der Auftragserfüllung. Der Einsatz der digitalen Technologie und die Verlagerung des Angebots auf die eigenen und auch auf fremde Online-Plattformen ist für die bisherigen «Radio-Fernseh-Medien» des Service public ebenso überlebensnotwendig wie die Verlagerung der Druckerzeugnisse ins Netz. Wer dem öffentlich finanzierten Service public online wesentliche publizistische Leistungen untersagen oder das Angebot einschränken will, entzieht diesem Garanten der gesellschaftlichen (politischen, wirtschaftlichen und kulturellen) Vielfalt vielleicht sogar in voller Absicht die Existenzgrundlage. Es ist die Fortsetzung der «No Billag»-Politik mit anderen Mitteln.

4. Libertäre Medienpolitik. Eine solche Marginalisierung des Service public würde im Rahmen eines libertären Wirtschaftsmodells geschehen, zugunsten eines Oligopols oder gar Monopols auf dem privat-kapitalistischen Markt zur Verbreitung einer bevorzugten Meinung. Zielvorstellung ist der heilige libertäre Markt wie bei Google, Apple, Facebook, Amazon mit ihrem GAFA-System, in das wir uns schon ziemlich widerstandslos eingefügt haben. Wir bewegen uns damit in jenem «postindustriellen Kapitalismus», in dem – wie der Soziologie Richard Sennett sagt – «die Kapitalisten nicht nur die Maschinen beherrschen, sondern auch das technische Wissen und die Kommunikation». Und das sind am Ende des Tages auch die publizistisch-politischen Steuerungsinstrumente. (in: Der flexible Mensch. Einleitung, Berlin Verlag, Berlin 1998)

5. Oligarchische Medienstruktur. Diese oligarchischen Verhältnisse finden sich nicht nur global, sie finden sich auch im Kleinen des schweizerischen Mediensystems. Sie sind nicht Ausdruck eines «Marktversagens», wie manche meinen. Sie sind vielmehr Ausdruck eines funktionierenden Marktes, der nach den Regeln der Akkumulation und Konzentration («Konsolidierung») funktioniert. Die Zentralisierung auf dem Schweizer Medienmarkt ist eine geradezu lehrbuchmässige Folge dieser Gesetzmässigkeiten.

6. Doppelcharakter der Verlegerarbeit. Auf diesem Markt zeigt sich auch klar der Doppelcharakter der verlegerischen Tätigkeit. Als Unternehmer bewegt sich der Verleger auf dem kapitalistischen Markt, auf dem er sich mit einer maximalen Rendite für sich und die Shareholder bewähren muss. Geht er aber mit seinen publizistischen Erzeugnissen auf den Informations- und Meinungsmarkt – das Forum des gesellschaftlichen Austauschs – , so erzeugt und beeinflusst er damit Öffentlichkeit. Das heisst: Er wirkt mit am Aufbau und an der Gestaltung der Kultur und der Infrastruktur der direkten Demokratie. Er übernimmt damit auch eine Verantwortung für die Anwendung der ethischen und handwerklichen Regeln, die in diesem Raum gelten, und für die Ansprüche, die in diesem Raum gestellt werden. Und wenn er für seine Leistungen öffentliche Gelder in Anspruch nehmen will, muss er einen öffentlichen Auftrag erfüllen, (der selbstverständlich die Unabhängigkeit der publizistischen Tätigkeit respektieren muss). Und er muss sich der öffentlichen Diskussion über die publizistischen Leistungen seines Unternehmens stellen.

Ein Beispiel dafür zeigt sich gegenwärtig im Raum Bern: Die Redaktionen «Der Bund» und «Berner Zeitung» sollen ab 2022 zusammengelegt werden. Bereits Ende September hatte Tamedia-Verleger Pietro Supino zum 170-jährigen Geburtstag des «Bund» eine Erklärung abgegeben, die auf den Vorgang ein erhellendes Licht wirft: «Es ist für eine freie Gesellschaft wichtig, dass wir einen unabhängigen Journalismus und ein vielfältiges Medienangebot gerade im lokalen Kontext erhalten können.» Diesem Anspruch des Verlegers Supino kann der Unternehmer Supino allerdings nicht nachkommen.

7. Die Wirklichkeit des Medienmarktes. Die Zentralisierung ist kein Naturgesetz; sie ist das Ergebnis einer bestimmten Wirtschaftsweise. Die Verleger haben das Geschäftsmodell für ihre Medien selber zerlegt, indem sie das Inserategeschäft weitgehend aus dem redaktionellen Rahmen herausgelöst und zu einem jeweils eigenständigen Unternehmensteil gemacht haben. Und aus der privaten Unternehmerlogik verbieten sie sich, die publizistischen Angebote aus dem Ertrag der Anzeigenplattformen zu finanzieren. – Warum also sollte die Öffentlichkeit die Folgen dieser betriebswirtschaftlichen Entscheidungen mit öffentlichen Mitteln kompensieren? Als Unterfütterung privater Gewinne von Anteilseignern? Als Absicherung für veraltete Medienstrukturen der Print-Medien? Oder zur Aufrechterhaltung einer Systemkonkurrenz zwischen privat und öffentlich finanzierten Medienunternehmens?

8. Ansätze zu neuen Angeboten. Eine zukunftsfähige Medienpolitik muss investieren in Medien mit Zukunft, und das sind auch einige redaktionelle Online-Angebote, die sich unter anderem im Verband gleichen Namens zusammengeschlossen haben. Ihre Reichweite ist meist noch begrenzt.

Aber sie versuchen, in der Medienlandschaft eine «Biodiversität» zu erhalten oder wieder herzustellen, indem sie – zum Teil durchaus erfolgreich – in lokal-regionale oder politischen Leerstellen arbeiten, vernachlässigte Aspekte der nationalen oder internationalen Politik aufgreifen oder ganze Themenbereiche wie Kultur, Wissenschaft oder Medien abdecken, die im Zuge der Konzentration und der profitorientierten Rationalisierung bei grösseren Medienhäusern verloren gegangen sind.

Oder sie gehen zurück zu den Wurzeln des Journalismus, der aus klar erkennbaren Bedürfnissen und Interessen in der Gesellschaft entstanden ist, wie vor 240 Jahren die bürgerlich-intellektuelle «Zürcher Zeitung». Diese Publikationen versuchen heute wieder, um das publizistische Produkt herum eine aktive Community zu bilden, die sich um bestimmte – auch wechselnde – Themen versammelt («tsüri.ch»), oder den Abonnenten als «Verleger-innen» ein gewisses Mitspracherecht gewähren («Republik»).

9. Politischer Kampf um die Marktmacht. Die Reichweite der allermeisten «Medien mit Zukunft» ist heute noch vergleichsweise gering. Ihr Problem ist in der Regel die Skalierung des Geschäftsmodells, um die notwendige Grösse für das Bestehen auf dem Markt zu erreichen. Der Versuch des Bundesrats, diesen Publikationen mit einer auf zehn Jahre angelegten Förderung eine Wachstumschance zu geben, ist schon deshalb ein unverzichtbarer Bestandteil des Förderungspakets, weil ein Grossteil der vorgesehenen Masssnahmen überlebte Strukturen erhalten soll. Profitieren würden davon in hohem Mass die verbliebenen Schweizer Grossverlage und ihre gedruckten Zeitungen.

Nun sperrt sich offenbar eine in sich ziemlich widersprüchliche Koalition bürgerlicher Parteien von der SVP bis zur GLP zum wiederholten Mal gegen das Massnahmenpaket des Bundesrats – entgegen der ausdrücklichen Mehrheit des Nationalrats. Entgegen den übereinstimmenden Stellungnahmen von Experten unterschiedlicher Ausrichtung. Entgegen dem massiven Votum des Souveräns bei der «No-Billag»-Abstimmung und entgegen jüngeren Umfragen, bei denen die öffentliche Finanzierung der Medien deutliche Zustimmung gefunden hat.

Die Haltung dieser Koalition von medienpolitischen «Kompromissverweigerern» verschmilzt Elemente einer libertären oder konservativen oder technokratischen Ideologie. Und sie verbindet sich mit Interessen der Verleger von CH Media und Tamedia, denen die Millionen für die Zeitungszustellung noch immer nicht genügen. Und denen es missfällt, dass die kleinen lokal-regionalen Online-Anbieter wie «tsüri.ch», «Zentralplus» oder «Bajour» eine anteilmässig stärkere Anschubförderung erhalten soll als die Online-Angebote aus ihren ohnehin deutlich reichweiten- und einnahmenstärkeren Publikationen.

Dabei wäre die Förderung der Vielfalt auch und gerade im lokalen und regionalen Bereich für die direkte Demokratie besonders wichtig. Die Konzentrationsprozesse haben auch in den lokal-regionalen Bereichen stattgefunden, und die Vereinheitlichung der Inhalte durch Zentralredaktionen findet besonders dort statt. Für die Medienpolitik im neuen Medienraum ist deshalb der Kunstgriff gesucht, der die Bündelung der Kräfte für die Sicherung der Qualität mit der Stärkung der Vielfalt verbindet.

10. Degressive Finanzierung, progressive Vielfalt. Das bundesrätliche Konzept zur Medienförderung folgt zu Recht der Idee der Medienvielfalt für die direkte Demokratie, das heisst: Finanzielle Förderung gibt es nur für Medien, deren Journalismus von den Nutzerinnen und Nutzern mitfinanziert wird und nicht nur aus Werbung. Und es sollen die kleinen Online-Angebote verhältnismässig stärker gefördert werden als die ertragreicheren Produkte der Grossverlage, damit sie wachsen und zu einer starken Vielfalt beitragen können. Das meint das Wort von der «degressiven» Förderung – und das gilt bereits für die Online-Angebote selber. So soll das kleinere Stadtmagazin tsüri.ch einen Zuschuss von nochmals rund 80 Prozent der Erträge aus seiner Community erhalten, während die schon deutlich ertragsstärkere «Republik» mit vielleicht 10 bis 20 Prozent seiner Einnahmen Vorlieb nehmen müsste. Und für die Online-Plattformen der Grossverlage wäre der Prozentsatz nochmals deutlich geringer. Das mögen sie nicht, und sie sagen das auch.

Mit ihrer Verzögerungstaktik stützen die politischen Gegner der öffentlich geförderten Medienvielfalt in der Politik die Interessen der Grossverlage. Der Bundesrat hat die Corona-Nothilfe für die Presse bis Mitte 2021 verlängert, und er wird dann über die über eine weitere Verlängerung beraten. Aber die kleinen Online-Angebote kommen unter Druck, denn sie erhalten noch keine Förderung. Der Verband «Medien mit Zukunft» geht davon aus, dass die meisten Mitglieder diesen Druck bis etwa Anfang 2022 durchhalten können. Danach würden einige vor leeren Kassen stehen. Und Kenner der parlamentarischen Abläufe wollen nicht ausschliessen, dass unter den bestehenden Mehrheitsverhältnissen in der Medienkommission des Nationalrats (KVF-N) die Medienförderung erst 2023 in Kraft treten könnte. Damit könnte die Verzögerung bei kleineren Anbietern unter Umständen eine vernichtende Wirkung entfalten. Die Gefahr einer progressiveren Vielfalt durch eine degressive Förderung wäre gebannt.

Die Verhinderung von Medienvielfalt durch Medienpolitik wäre allerdings ein Grund mehr für die Einrichtung einer staats- und politikfernen Regulierungsbehörde für den gesamten Medienbereich.

11. Problemzone: kommerzieller Ertrag. Bei der Mischfinanzierung des Service public der SRG aus der Haushaltsabgabe und Werbeeinnahmen wirken strukturell die gleichen Prozesse wie bei den privat-kommerziellen Medienunternehmen. Unter den Bedingungen des globalisierten Informations- und Medienmarktes wandert die Werbung auch vom öffentlichen Rundfunk beschleunigt ab zu den globalen Internet-Plattformen.

Von diesem globalen Sog wird auch der Service public in seinen kommerziellen Ressourcen angegriffen, und dies in einer Phase, in der eine umfassende digitale Transformation vollzogen werden muss. In dieser Phase besteht bei der SRG eine dreifache Beanspruchung der Ressourcen: (1) durch die Erhaltung der Kern-Substanz des bestehenden Angebots für das alte Publikum, (2) durch den Umbau von den tradierten zu den neuen Strukturen und (3) durch den Aufbau neuer Strukturen und Angebote gemäss den Anforderungen sowohl der eigenen digitalen Plattformen als auch für die Präsenz auf Drittplattformen wie Youtube, Instagram und anderen, auf denen die eigenen, zahlenden Teilpublika sich neu versammeln.

12. Transformation als Destabilisierung. Das Publikum der SRG wird künftig etwa noch je zur Hälfte das traditionelle Radio- und Fernsehprogramm nutzen und das Online-Angebot auf eigenen und Drittplattformen. Das ist die Erwartung des SRG-Generaldirektors Gilles Marchand, und nach dieser Erwartung richten sich auch die Unternehmenseinheiten in den vier Sprachgebieten. Das gilt auch für das Transformationsprojekt «SRF 2024», mit dem das grösste Unternehmen der SRG in die Zukunft gehen will. Aber mit dieser Strategie destabilisiert der Service public sich selber, oder genauer: er destabilisiert seine Beziehungen zum Publikum, seine Beziehungen zur Belegschaft und seine Beziehungen zu den anderen Medienhäusern, die ja auch Kooperationspartner im gleichen Tätigkeitsfeld sein sollen.

SRF irritiert und frustriert das Kern-Publikum durch die angekündigte Streichung von Sendungen, wie «ECO», «52 beste Bücher» oder «Netz Natur», die bisher zur Identität des Service public von Schweizer Radio und Fernsehen gehörten. Und das geschieht ohne nähere Begründung mit zunächst nur sehr allgemeinen Ankündigungen künftiger Angebote: «ganzheitliche» Information in Wirtschaft, Politik, Kultur, heisst das in den Statements der SRF-Leitung. Was heisst das konkret für die Zukunft des Service public?

SRF destabilisiert auch die Beziehungen zur Belegschaft, indem das Unternehmen besonders kompromisslos die Praktiken des «flexiblen Kapitalismus» (Richard Sennett) übernimmt und für das kommende Jahr die Streichung von 211 Vollzeitstellen ankündigt – was um die zehn Prozent des SRF-Personals betrifft. Und dies auf einem Arbeitsmarkt, der seit Jahren durch Konzentration, Zentralisierung und Stellenabbau geprägt ist. Gleichzeitig will SRF 95 neue Stellen schaffen mit «neuen Berufsbildern und Kompetenzen». Seit den Sparübungen nach «No Billag» scheint nun also auch im Service-public-Unternehmen die Bereitschaft zu «Flexibilität» zu wachsen, das heisst, zu flexiblen Arbeitsverhältnissen. SRF hat es in den letzten zehn Jahren mit der sogenannten «Konvergenz» schlicht versäumt, den Qualifikationsmix beim SRF-Personal sanft und kontinuierlich auf die digitale Entwicklung umzustellen. Sonst würde sich der nun geplante forsche Personalumbau nicht aufdrängen, wenn er denn unvermeidlich ist.

Der frühere SRF-Direktor Rudolf Matter hat diese «Fluktuation» schon 2018 im Zusammenhang mit dem geplanten Umzug des Radiostudios Bern nach Zürich ausdrücklich in Kauf genommen. Er hat dabei kühl mit einem Abgang von bis zu 25 Prozent der Belegschaft gerechnet. – Richard Sennett fragt zu solchem Denken und Handeln: «Wie aber können langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Ökonomie lebt? Wie können Loyalitäten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die ständig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden?» (in: Der flexible Mensch, a.a.O.).

SRF destabilisiert schliesslich die Beziehung zu den privaten Medienhäusern der Schweiz, mit dem Anspruch, im Informationsbereich die Nummer Eins zu sein oder zu Lasten der privaten Konkurrenz darum zu kämpfen. Und die Strukturreformer verlangen von den Programmschaffenden die «Meinungsführerschaft» bei den Themen, welche die Menschen in der Schweiz bewegen. – Das ist, bei Lichte besehen, ein unnötig aggressiver Auftritt. SRF steht seit Jahren bei der Online-Nutzung auf einer Spitzenposition, und in Krisensituationen sind seine Angebote die erste Adresse, wie die Corona-Pandemie erneut gezeigt hat.

Aber die Wettbewerbslogik spielt: Nach der ehrgeizigen Ansage von Schweizer Radio und Fernsehen SRF haben sich die alten Fronten sofort wieder gebildet. Der «Tages-Anzeiger» sprach von «Staatsfernsehen» und erinnerte an die Bundesverfassung, die verlangt, «auf die Aufgabe der anderen Medien, vor allem der Presse, ist Rücksicht zu nehmen». Und in der NZZ notierte Rainer Stadler noch einmal, der Konflikt sei programmiert.

13. Kämpfe der Vergangenheit. Im Lichte medienpolitischer Vernunft sind das Kämpfe der Vergangenheit. Der Medienartikel in der Schweizerischen Bundesverfassung ist durch die Entwicklung schlicht überholt, insbesondere Artikel 93, Absatz 4. Beide Akteure, der konzessionierte Service public der SRG und die privaten Medienunternehmen bewegen sich zunehmend in einer gemeinsamen multimedialen Welt, und sie bedienen im Ganzen das gleiche nationale Territorium. Sie sind beide der gleichen globalen Konkurrenz ausgesetzt, die erhebliche Mittel aus dem Schweizer Medienmarkt abzieht. Rund drei Viertel der Erträge aus der Onlinewerbung gehen an die grossen Tech-Giganten, (Google, Facebook u.a.), ein relevanter Teil der TV-Werbung geht an ausländische Werbefenster, und der Bundesrat musste wegen des Rückgangs der kommerziellen Erträge ab 2021 eine Erhöhung des SRG-Anteils an der Haushaltabgabe um 50 Millionen Franken beschliessen. Diese Tendenz wird sich für die SRG auch ohne Corona fortsetzen.

Generell gilt: Die Werbeeinkünfte der Schweizer Medienunternehmen werden weiter zurückgehen, und die Qualitätspublizistik in der Schweiz kann aus dem kleinen Schweizer Markt nicht mehr (voll) finanziert werden. Es liegt im Interesse des zahlenden Publikums, sowie der öffentlich und der kommerziell finanzierten Medienhäuser, den wirtschaftlichen Kampf um Einkünfte durch eine noch klarere gegenseitige Abgrenzung voneinander so weit wie möglich zu reduzieren und im Gegenzug den publizistischen Wettbewerb zu stärken. Das heisst zum Beispiel, dass sich die SRG und ihre Unternehmenseinheiten mit Kurznachrichten in Textform konsequent zurückhalten und dafür auf der Grundlage ihrer Audio- und Videoproduktion ebenso konsequent auf lange Textformate setzen; etwa mit der vollständigen Wiedergabe von Texten auf der Basis von Hintergrund-Sendungen.

14. Duales Modell der Qualitätspublizistik. Ein konsequenter Abbau von Reibungsflächen entspannt die Beziehungen und erleichtert die Kooperation mit den privat-kommerziellen Medienunternehmen. Im technischen und im Ausbildungsbereich und auch bei gewissen Bereichen der Programmzusammenarbeit hat sie sich in den letzten Jahren bereits entwickelt.

Im wirtschaftlichen Bereich heisst das: Das Zusammenleben im neuen, multimedialen Medienraum wird erleichtert durch den Aufbau eines dualen Systems und durch die ökonomische Anerkennung der Tatsache, dass Qualitätspublizistik – als Element der publizistischen Infrastruktur der Demokratie – zwar unverzichtbar ist, aber in den heutigen Strukturen aus dem Markt nicht mehr finanzierbar. Duales Modell bedeutet, dass die SRG ganz auf Werbung verzichten muss, und dass dieser Verzicht durch einen entsprechenden Abgabenanteil kompensiert würde. Duales Modell heisst auch, dass sich die privat-kommerziellen Medienunternehmen öffnen für die direkte Medienförderung und die damit verbundenen, (formalen und quantitativen) Leistungsaufträge. Und Duales Modell bedeutet schliesslich, dass die Mischfinanzierung aus Abgabe und Werbung auf die Seite der Privat-Kommerziellen verschoben wird.

Werbeverzicht für die SRG bedeutet nicht nur, dass der kommerzielle Markt ganz den kommerziellen Medienunternehmen überlassen bleibt. Für den Service public ist er auch eine Qualitätssicherung: Die Jagd nach der Reichweite erledigt sich, und auch eine kommerzialisierte Programmstruktur wie die kleinteiligen Sendungselemente im linearen Fernsehprogramm zur Bereitstellung von Werbefenstern wird hinfällig. Das ist eine Wohltat für die Produktion von Programmschwerpunkten (Themenabende und ähnliches). Der Service public der SRG wird so vom kommerziellen Reichweitendenken und vom Zwang zu einer kommerzialisierten Programmstruktur befreit.

Auf der anderen Seite sehen die vom Bundesrat vorgeschlagenen Massnahmen zur Medienförderung ja bereits vor, dass die privat-kommerziellen Medienunternehmen einen angemessenen öffentlichen Beitrag erhalten sollen, um ihre Existenz und den publizistischen Wettbewerb zu sichern. Das erfolgt im Interesse einer Angebotskonkurrenz, wie sie bei Lokalradio und Regionalfernsehen bisher schon funktioniert dank öffentlicher Finanzierung, unter Gewährleistung der redaktionellen Unabhängigkeit.

15. Utopie? Oder Hirngespinste? – Wir sind doch schon auf dem Weg dahin. Die Werbeerträge bei der SRG werden weiter schrumpfen. Die audiovisuellen Angebote der Privaten werden zielbewusst zu Werbeträgern der Zukunft entwickelt. Die kommerziellen Medienhäuser arbeiten bis in die Feinstrukturen daran. Ob Tamedia/TX Group, NZZ oder CH Media: Alle setzen stark auf Video und Audio. Und nun haben die Verleger zugunsten der Medienförderung für ihre Online-Angebote den jahrzehntelangen Widerstand gegen eine direkte Medienförderung aufgegeben. Das sind ein paar kleine Zeichen für einen grösseren Richtungswechsel.

Und SRG-Generaldirektor Gilles Marchand hat schon im November 2019 gegenüber der MEDIENWOCHE auf die Frage nach einem Werbeverzicht der SRG geantwortet: «Ich bin offen für alle Diskussionen», und: «Was die SRG braucht, ist ein korrektes, berechenbares Budget.» Eine reine Abgabenfinanzierung würde «berechenbar», im Gegensatz zur Ungewissheit auf dem Werbemarkt. Und die Privaten sind in Zukunft nicht nur wegen der gleichen digitalen Technologie im gleichen multimedialen Raum wie die SRG; sie speisen sich künftig teilweise auch aus derselben öffentlichen Finanzquelle wie die SRG.

Es geht also nur noch darum, ein paar Rahmenbedingungen zu klären. Nach dem Motto: Der Teufel steckt im Detail. Aber die Marktentwicklung kann zusammen mit der Corona-Seuche der Politik helfen, sie durchzusetzen.

16. Öffentliches Geld gleich Leistungsauftrag. Zum Bezug öffentlicher Mittel gehört grundsätzlich eine Zweckbindung, also eine Leistungsvereinbarung. Es stellt sich allerdings die Frage, ob das scheinbar plausible Muster des Programmauftrags der Konzession für die privaten konzessionierten Radio- und Fernseh-Sender noch gelten kann.

Grundsätzlich lebt die gesellschaftspolitische Publizistik in der Schweiz nicht nur bei der wirtschaftlichen Organisation sondern auch beim inhaltlichen Angebot von einem dualen Modell. Beim Verfassungsartikel für Radios und Fernsehen haben sich Bundesrat und Parlament und dann das Volk für eine Programmautonomie im Rahmen eines Leistungsauftrags entschieden (Art. 93.2 BV). Das gleiche Ansatz wurde für die Konzessionierung und Gebührenfinanzierung privater Radio- und Fernsehstationen angewendet. Die quasi-Monopolstellung dieser Sender in ihren Konzessionsgebieten liess etwa die Forderung nach einer «Vielfalt an Meinungen und Interessen» und von «Personen beziehungsweise Personengruppen» als folgerichtig erscheinen. Mit diesem staatlichen Eingriff wird aber die Freiheit der Medien (Art. 17 BV) auf eine Autonomie im Rahmen einer Konzession reduziert, das heisst: es ist ein Eingriff in die Medienfreiheit der Presse.

Ein solcher Eingriff ist abzulehnen, und er ist auch nicht mehr notwendig. Er ist nicht mehr notwendig, weil aus der digitalen Technologie keine Monopol- oder Oligopolsituationen mehr erwachsen wie bei der früheren Frequenzknappheit des Rundfunks. Und die vorgesehene finanzielle Förderung der digitalen Verbreitungstechnik mit öffentlichen Geldern aus der Medienabgabe eliminiert oder reduziert entscheidend wirtschaftliche Nöte von dieser Seite.

17. Neuer Verfassungsrahmen. Es wäre deshalb nur folgerichtig, an dem historisch gewachsenen dualen publizistischen System festzuhalten, in dem der öffentlich finanzierte nationale Service public der SRG seine Programmautonomie im Rahmen eines Konzessionsauftrags mit Binnenvielfalt ausübt, während die gemischt finanzierten privatprivat-kommerziellen Anbieter ihre gesellschaftlich-politische Ausrichtung im Rahmen publizistischer Leitlinien auf der Basis der Medienfreiheit festlegen.

Der Leistungsauftrag für die Privaten müsste sich daher auf formale und quantitative Anforderungen (wie: Umfang der Informationsleistungen, redaktionellen Kapazitäten u.ä.) begrenzen. Umso wichtiger werden dabei die Bedingungen für die Gewährleistung der Qualität, der personellen Ausstattung und der Arbeitsbedingungen.

Und selbstverständlich können öffentliche Mittel nur an publizistisch tätige Unternehmen gehen, die sich auf die Einhaltung der ethischen und handwerklichen Standards (Pflichten und Rechte des Journalismus) verpflichten, sowie Entscheidungen der zuständigen Standesorganisation (Presserat) respektieren und einhalten. Verstösse können sanktioniert werden. Auf dieser Grundlage kommt auch die Selbstverwaltung und Eigenverantwortung der privat-kommerziellen Presse weiterhin zum Tragen.

Um so wichtiger ist es nun, dass die Vielfalt der unterschiedlichen Medienanbieter nicht in einem verfassungsrechtlichen Schnellschuss noch weiter eingeebnet wird, wie das die parlamentarische Initiative von alt Ständerat Filippo Lombardi (CVP/TI) und Ständerat Beat Rieder (CVP/VS) vorschlägt. In einem verfassungsrechtlichen Schnellschuss schlagen die beiden vor, die direkte Presseförderung für die private Presse einfach dadurch zu ermöglichen, dass der Artikel 93 der Bundesverfassung einfach zu einem Artikel über sämtliche «Medien» umfunktioniert wird. Mit dem gleichen Leistungsauftrag für alle – bis hin zur «Vielfalt der Meinungen» – und folgerichtig dann wohl auch der gleichen staatlichen Aufsicht unterstellt. Das ist nicht nur systemwidrig. Das ist, wie «Reporter ohne Grenzen Schweiz» zu Recht moniert, schlicht nicht möglich, «ohne die Pressefreiheit zu gefährden».

Ein neuer Verfassungsrahmen drängt sich für den neuen gemeinsamen Medienraum der Schweiz aus diesen und anderen Gründen jedenfalls auf.

18. Garantie für konstruktive Marktkräfte. Mit einer zügig beschlossenen vielfaltsorientierten Medienförderung kaufen sich Politik und Gesellschaft Zeit und Freiheit für praktische Erfahrung, für Denkarbeit und für wohlbegründete Entscheidungen für einen neuen Verfassungsrahmen. Der Bedarf für umfassende Medienkompetenz des Bundes ist offenkundig; die digitale Informationstechnologie hat nun einmal einen übergreifenden Lebensraum und damit auch einen gemeinsamen Medienraum erzeugt. Die Risiken der datengetriebenen technokratischen Organisation auch der Medien sind gewaltig, weil unsere Wirtschaftsweise nicht zum Pluralismus drängt. Und gerade auch im Mediensektor zeigt sich der Trend zum Oligopol wenn nicht gar zu monopolistischen Strukturen, wenn die Gemeinschaft nicht die Werte von Unabhängigkeit, Meinungsfreiheit, Meinungs- und Gestaltungsvielfalt und Demokratie institutionell absichert.

Der Bund soll deshalb zwar zuständig sein für die Rahmengesetzgebung, das heisst insbesondere für den verfassungsmässigen Rahmen der Medienentwicklung. Die Gestaltung und Regulierung des Medienraums und des Zusammenwirkens der publizistischen Anbieter soll aber einer möglichst staatsfernen, wirtschaftsunabhängigen und pluralistischen Institution übertragen werden.

Auch für die Qualitäts-Medien gilt, was der Mathematiker Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik und einer der Väter der heutigen Informationstechnologie im Jahr 1947 für die Wissenschaft sagte, nämlich: «dass wir eine Gesellschaft haben müssen, die auf menschliche Werte gegründet ist und nicht auf Kaufen und Verkaufen.» (in: Norbert Wiener: Kybernetik. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1963).

19. Qualitätsführerschaft. Der öffentlich finanzierte (werbefreie) Service public ist unter den gegebenen Marktbedingungen Garant der Unabhängigkeit von destruktiven Marktkräften sowie, durch die bei ihm institutionalisierte Binnenvielfalt, Garant des Fortbestands konstruktiver Marktkräfte. Er belebt das Forum der Meinungsfreiheit und damit der Meinungsvielfalt,, und es ist ihm durch Gesetz und Konzession ein besonderes Augenmerk auf die Sicherung der Qualität und die Berücksichtigung der Bedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen aufgetragen (jüngere und ältere Generationen, Diversität, Ethnien, Migranten, Behinderte, Weltanschauungen/Religionen).

Der Service public hat deshalb aber keinen Auftrag zu einer «Meinungsführerschaft». Meinungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit und Handlungsfreiheit bilden für alle eine qualifizierte Dreiheit; Service-public-Medien sollen dafür Informationsvielfalt sowie Entscheidungs- und Handlungsoptionen anbieten.

20. Offen für die Gesellschaft. Service public bedeutet Qualitätsführerschaft in sachgerechter Substanz, Relevanz und attraktiver Vermittlungsleistung. Er bedeutet nicht in erster Linie das Abarbeiten einer parteipolitischen Agenda, sondern zumindest in gleichem Mass das Aufarbeiten der drängenden Probleme der Gesellschaft, der aktuellen Herausforderungen und Zukunftsprobleme, das Herausarbeiten von Handlungsoptionen für das Volk als Souverän, und die transparente Konfrontation der Entscheidungsträger mit den Interessen der Bevölkerung und ihrer Gruppierungen.

Das gilt nicht zuletzt für Themen, die von Volksvertretern und den Machthabenden aus irgendwelchen Gründen aus der öffentlichen Debatte verdrängt werden. Der Grundauftrag des Service public heisst nicht: «to win, to dominate!» Der Grundauftrag bleibt: «to inform, to educate, to entertain.»

Update: Bei den Abschnitten von 16. bis 20. handelt es sich um eine überarbeitete, präzisierte und aktualisierte, Fassung, die von der ursprünglich publizierten Version in einigen Punkten abweicht.