von Adrian Lobe

Wenn die Algorithmen auf Konsens programmiert sind

Soziale Netzwerke müssen Gesellschaften nicht spalten, sondern können zu einer gesitteten Debatte beitragen. Das zeigt eine neue Generation von Plattformen sowie ein Demokratieexperiment in Taiwan.

Vor genau zehn Jahren begann der Arabische Frühling. Die Aufstände, die über Blogs und soziale Netzwerke orchestriert wurden, gingen auch als «Facebook-Revolution» in die Geschichte ein. Internetplattformen würden helfen, autoritäre Herrscher aus ihren Palästen zu jagen und die freie Rede in die Welt zu tragen, dachte man damals.

Heute weiss man, dass das eine Illusion war. Facebook gilt als Spaltwerkzeug, dessen Algorithmen das Potenzial haben, Demokratien zu unterminieren und Gesellschaften zu polarisieren. Der Brexit oder die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten wäre ohne die zweifelhafte Rolle der Netzwerkunternehmen wohl nicht möglich gewesen.

Doch es gibt Menschen, die das Internet als Demokratisierungswerkzeug noch nicht ganz abgeschrieben haben. Zum Beispiel der Facebook-Investor Marc Bodnick, der im vergangenen Jahr die Social-Network-App Telepath gegründet hat. Die Plattform soll ein Hybrid aus Twitter und dem Internetforum Reddit sein, nur viel netter und freundlicher. Die Idee: Algorithmen sollen die Menschen nicht spalten, sondern zusammenführen.

Das Motto von Telepath lautet: «Be Kind». Sei nett.

Im Gegensatz zu etablierten sozialen Netzwerken kann man sich bei Telepath nicht einfach mit einer gültigen E-Mail-Adresse anmelden. Man benötigt eine Handy-Nummer, an die nach dem Download der App ein Zugangscode verschickt wird. Dann kann man sich auf eine Warteliste setzen lassen, ehe man von Gründer Marc Bodnick per SMS höchstpersönlich eingeladen wird, der Betaversion mit seinem Klarnamen beizutreten. In ein paar Schritten ist das Profil konfiguriert. Das Motto lautet: «Be Kind». Sei nett. Von der Benutzeroberfläche ähnelt Telepath dem grossen Bruder Facebook: Es gibt einen Newsfeed, Kommentare sowie einen «Gefällt mir»-Button. Das war es dann aber auch schon mit den Gemeinsamkeiten.

Telepath ist in so ziemlich jeder Hinsicht ein Anti-Facebook: Die Plattform ist werbefrei, statt Algorithmen und externer Vertragsarbeiter kuratieren angestellte Moderatoren die Beiträge, Posts werden nach 30 Tagen gelöscht. Die Mitglieder können verschiedene Gruppen wie zum Beispiel «US-Politik», «Coronavirus» oder «Gardening» beitreten. Dort werden dann, gestützt auf Artikel oder Tweets, politische Themen wie etwa die Impfstrategie oder ganz unpolitische Dinge wie Zimmerpflanzen diskutiert. Und das erstaunlich gesittet.

Die Diskussionskultur hebt sich wohltuend vom Gelärme und Gepoltere auf Facebook oder Twitter ab.

So debattiert die Community anlässlich einer Kundgebung von Evangelikalen in Los Angeles, die sich ohne Masken versammelt hatten, inwieweit Religionsfreiheit Lockerungen beim Infektionsschutz erlaubt. Von Pöbeleien oder Hate Speech keine Spur. Auch Gründer Bodnick mischt sich hin und wieder mit eigenen Beiträgen in die Debatte ein. Die Diskussionskultur hebt sich wohltuend vom Gelärme und Gepoltere auf Facebook oder Twitter ab. Ein gelungenes Lehrbeispiel für öffentliches Räsonnement im Netz.

Man hat ja schon einige Social-Media-Apps kommen und gehen sehen. Wie Path, Ello, Secret oder Google+, die sich grosse Ziele steckten, es aber nicht schafften, eine kritische Masse an Nutzern zu aggregieren und zum Teil wieder abgeschaltet werden mussten. Doch seit Facebook durch diverse Datenskandale in Misskredit und unter verstärkten politischen Druck geraten ist, sind einige vielsprechende Plattformen an den Start gegangen, die sich als «bessere» und «freundlichere» Alternative zu den etablierten Netzwerken inszenieren – etwa das soziale Netzwerk Twelv, das mit dem Slogan «No likes, no drama» wirbt und den Like-Button abgeschafft hat.

In einer ersten Finanzierungsrunde erhielt Telepath mehrere Millionen Dollar Startkapital.

Telepath verfolgt mit dem Versprechen eines «emissionsärmeren» Diskursklimas einen ähnlichen Öko-Ansatz (weniger Massenkultur, dafür mehr Qualität bei Inhalten und Moderation), und wenn man die Berichte liest, könnte die Plattform einiges reissen. Der im Silicon Valley bestens vernetzte Gründer Bodnick, dessen Schwägerin die Facebook-Managerin Sheryl Sandberg ist, hat sich starke Partner mit an Bord geholt. In einer ersten Finanzierungsrunde erhielt Telepath mehrere Millionen Dollar Startkapital. An prominenten Namen und Influencern mangelt es auch nicht auf der Plattform selbst: So ist unter anderem Spotify-Mitgründer Daniel Ek mit einem eigenen Profil auf Telepath angemeldet.

Für den Anfang ist das nicht schlecht. Das Problem ist nur, dass die Diskussionen auf Telepath auffällig einseitig sind: Es dominieren linksliberale Stimmen und Quellen. Auf Impfgegner oder Trump-Anhängern stösst man in den Kommentarspalten ebenso wenig wie auf «Fox News»-Beiträge. Hinzu kommt die geringe Beteiligung: Die Foren haben meist nur ein paar Hundert Mitglieder. So wirkt Telepath zuweilen wie ein Salon, den nur geladene Gäste betreten dürfen und wo man sich seiner eigenen Werte vergewissert. Mit Parler gibt es ja bereits eine Plattform, die sich als «Free-Speech»-Alternative zu Facebook und Twitter zu profilieren versucht und zu der im vergangenen Jahr reihenweise konservative Nutzer übergelaufen sind. Telepath könnte die Balkanisierung der sozialen Netzwerklandschaft weiter vorantreiben.

Wie elitär darf Öffentlichkeit sein, um die Debattenkultur zu wahren?

Diese Abschottungstendenzen, die sich seit geraumer Zeit beobachten lassen, berühren die Frage, wie sich Öffentlichkeit als «Sphäre der zum Publikum versammelten Privatleute» (Jürgen Habermas) im digitalen Raum konstituieren soll. Lässt man alle, also auch Holocaustleugner und Hetzer, auf dem Forum diskutieren und riskiert damit ein vergiftetes Meinungsklima (ein Weg, den Facebook lange beschritt)? Oder fasst man das Publikum enger, auf die Gefahr hin, dass man Teile der Gesellschaft ausschliesst? Wenn ja – wo zieht man die Grenze? Wie elitär darf Öffentlichkeit sein, um die Debattenkultur zu wahren? Anders gefragt: Wie weit darf man die Debattenkultur verrohen lassen, bis die Öffentlichkeit sich selbst zerlegt? Auf diese Fragen hat man in den westlichen Demokratien bislang keine Antwort gefunden.

Wie es funktionieren könnte, zeigt das Beispiel Taiwan. Der ostasiatische Inselstaat gilt nicht erst seit der erfolgreichen Pandemiebekämpfung als Labor in Sachen digitaler Demokratie, auf das westliche Staatenlenker mit grossem Interesse schauen. 2014 wurde dort ein Demokratieexperiment gestartet, das mithilfe von Open-Source-Software eine neue Form der Bürgerbeteiligung institutionalisierte.

Aus Protest gegen ein Handelsabkommen mit China hatten Mitglieder der sogenannten Sonnenblumenbewegung, darunter viele Studenten und Bürgerinitiativen, drei Wochen das Parlament in Taipeh besetzt. Die Regierung beauftragte daraufhin das Hackerkollektiv g0v (sprich: gov-zero) unter der Ägide der späteren Digitalministerin Audrey Tang mit der Entwicklung einer digitalen Plattform, um die Kommunikation mit den jungen Wählern zu verbessern.

Die Demokratie, so die Diagnose der anarcho-libertären Hacker, sei zu träge. Darum schufen sie die Plattform vTaiwan.

Für die Hacker-Aktivisten bestand die Krise des politischen Systems in einem Informationsproblem: Über Wahlen, wie sie in Demokratien alle paar Jahre stattfinden, würden nicht ausreichend Informationen von den Wählern an die Regierung fliessen. Auch basisdemokratische Elemente wie etwa Referenden seien als Kommunikationskanal in der Frequenz nicht hinreichend geeignet, um der Regierung zu vermitteln, was «Volkes Wille» ist. Zudem würden Volksabstimmungen die Wähler spalten. Die Demokratie, so die Diagnose der anarcho-libertären Hacker, sei zu träge: Sie halte mit den dynamischen Meinungsbildungsprozessen im Netz nicht mehr Schritt. Also schufen die Software-Aktivisten eine digitale Plattform namens vTaiwan, die die politischen Präferenzen der Wähler besser abbildet.

Das System funktioniert so: Jeder Teilnehmer kann einen Kommentar oder politischen Vorschlag einbringen, über den die Community abstimmt. Die Beiträge können nicht kommentiert werden; es gibt lediglich die Optionen «agree» (stimme zu), «disagree» (stimme nicht zu) oder «pass/unsure» (passe/unsicher). Dadurch wird Trolling und Hate Speech schon vom Design her ausgeschlossen.

Die Algorithmen helfen die Gemeinsamkeiten hervorzuheben, nicht die Unterschiede. «Engagement» ist hier nicht destruktiv, sondern konstruktiv.

Mithilfe von Machine-Learning-Algorithmen werden diese Voten dann geclustert und als grobes Stimmungsbild in einer interaktiven Karte visualisiert. Im Gegensatz zu Facebook, das durch algorithmische Feedbackloops Emotionalität und Polarisierung provoziert, ist vTaiwan auf Konsens programmiert: Man sieht nicht nur, in welchen Positionen man auseinanderliegt, sondern auch, worin man übereinstimmt. Und man stellt plötzlich fest, dass es politische Schnittmengen zwischen Bürgern gibt, die der Facebook-Algorithmus längst auseinanderdividiert hätte. Das Deliberationswerkzeug, das auf der US-Plattform pol.is basiert, hebt die Gemeinsamkeiten, nicht die Unterschiede hervor. «Engagement» ist hier nicht destruktiv, sondern konstruktiv.

vTaiwan hat sich mittlerweile in mehreren Abstimmungen, etwa bei der Regulierung des Fahrdiensts Uber, als wirkungsvolles Partizipationswerkzeug bewährt, das die Responsivität und Legitimität des politischen Systems erhöht. Zahlreiche Gesetze aus verschiedensten Politikfeldern wurden in der informellen Kammer initiiert. Colin Megill, der Gründer von pol.is, ist überzeugt, dass sich mithilfe Künstlicher Intelligenz ein besseres Diskussionsklima schaffen lässt.

Der gepflegte Diskurs im digitalen Salon dürfte daher erstmal eine Nische bleiben.

Die Plattformen Telepath und vTaiwan machen deutlich, dass die Frage der Diskurskultur auch eine Frage des Designs bzw. der Programmierung ist. Der Hass wird ja nicht bloss auf Plattformen abgeladen, sondern durch eine obskure algorithmische Mechanik befeuert. Insofern lassen sich die Weichen durchaus auch in Richtung weniger Polarisierung stellen. Algorithmen sind ja lediglich Werkzeuge: So wie sie Schaden anrichten können, können sie auch Nutzen stiften.

Das Problem ist nur, dass sich mit Hass und Verschwörungstheorien im Netz weiter viel Geld verdienen lässt. Youtube-Videos über angebliche Chemtrails erreichen ein Millionenpublikum, selbst wenn die Clips von Content-Moderatoren schamvoll versteckt werden. Ob kleinere Netzwerke auf Dauer gegen diese aufmerksamkeitsökonomische Logik ankommen und sich seriöse Debatten monetarisieren lassen, ist fraglich, zumal Telepath auf Werbung verzichten will. Der gepflegte Diskurs im digitalen Salon dürfte daher erstmal eine Nische bleiben – zumindest auf dem privaten Markt. Doch der Erfolg von vTaiwan macht Hoffnung, dass die Demokratisierung durch digitale Technologien voranschreitet.