von Heinrich Anker

«SRF 2024» – Gesellschaftspolitik ohne Mandat

Schweizer Radio und Fernsehen SRF verfolgt seine «Digital first»-Strategie mit technokratischem Enthusiasmus, ohne sich mit den Folgen für Gesellschaft, Kultur und Politik unseres Landes zu befassen. Das ist ein Problem.

Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit zählen gemeinhin zu den ersten Attributen, mit denen die Berichterstattung von Schweizer Radio und Fernsehen SRF in Verbindung gebracht wird. Bei der Kommunikation in eigener Sache nimmt man es damit aber nicht immer so genau. In der Broschüre «SRF Medientrends Deutschschweiz 2018» stellt SRF dem Nachrichtenflaggschiff «Tagesschau» mit 607‘000 ZuschauerInnen das «Echo der Zeit» mit 142‘000 HörerInnen gegenüber. In Tat und Wahrheit erreicht das «Echo» aber 422‘000 HörerInnen. Das weiss auch SRF. Aber: «Die Forderung, die Fehlleistung vom Netz zu nehmen, wurde (…) abgelehnt. Dies würde zu viel Aufsehen erregen. Und die Studie sei zu gross und zu wichtig.» Und tatsächlich: Noch heute steht die Studie mit den falschen Radiozahlen im Netz.

Offenbar unterschätzt SRF das Medium Radio in seiner publizistischen Bedeutung. Wie sonst lässt sich die mittlerweile unüberhörbare Schwächung der Radioinformation aus dem Studio Bern erklären, oder der Aderlass am Kultur-Standort Basel, der vornehmlich das Radio betrifft? Auch die geplante Streichung etablierter Sendungen wie «52 Beste Bücher» und die Verdrängung von «Zambo» – der einzigen valablen Mehrgenerationen-Sendung im Land – aus dem Radioprogramm. Fehlt der SRF-Spitze der nötige Sachverstand, dass das Medium Radio im Rahmen des Strategieprojekts «SRF 2024» derart geschwächt wird?

Nicht nur bei SRF stellen sich Fragen zur Verlässlichkeit der Daten und Prognosen, auf deren Grundlage das Unternehmen die Digitalisierung radikal vorwärts treiben: Auch die Generaldirektion der SRG liess sinngemäss verlauten, in den nächsten Jahren werde sich bei der Nutzung der elektronischen Medien – Radio und Fernsehen einerseits und Internet-Plattformen andererseits – ein Verhältnis von rund 50 zu 50 herausbilden. Was heisst: Die Hälfte des Angebots findet online statt. Den linearen Programmen bliebe die andere Hälfte. Aber entspricht das der tatsächlichen Nutzung oder prescht SRF hier präventiv in digitale Gefilde vor?

«Generell bleibt die Nutzung von Fernsehen, Radio und Kino erstaunlich stabil und auf hohem Niveau.»
Studie SRF 2018

Noch 2018 hielt SRF in einer Studie fest: «Trotzdem bleibt das TV-Gerät die erste Wahl um fernzusehen. Generell bleibt die Nutzung von Fernsehen, Radio und Kino erstaunlich stabil und auf hohem Niveau.» Das hat auch Netflix begriffen: In Frankreich lanciert die Videoplattform ein lineares (!) Programm – und taucht aus dem Online-Ozean auf in dem Moment, wo die SRG darin abtaucht.

Nun sieht sich der Service public gerne als Garant einer funktionierenden Demokratie. In einer Demokratie kommen als Subjekte nur die BürgerInnen als freie und verantwortliche Glieder der Gesellschaft in Frage. Es steckt jedoch seit Jahrzehnten (auch) in den Genen der Service-public-Medien, die Menschen nicht primär als mündige BürgerInnen zu betrachten und anzusprechen, sondern als KonsumentInnen, die mittels Emotionalisierung zum Medien-Konsum zu verführen sind. Diese Vorstellung reicht selbst bis tief in die wichtigsten Informationssendungen: Beim Themensetting und der Gewichtung der «Tagesschau»-Beiträge schlagen immer wieder «Infotainment» und «Infomotion» durch: Es kommt also immer wieder vor, dass die Verfügbarkeit von Filmmaterial über die Berichterstattung entscheidet und nicht die Wichtigkeit von Ereignissen; (Sport-)Unfälle werden beinahe voyeuristisch abgespielt, Soft News scheinen immer wieder ein unverzichtbares «Must» zu sein.

Nachrichten werden mit einem Musikteppich unterlegt; ein Kniff aus dem Privatradio, mit der die «Durchhörbarkeit» erhöht werden soll.

Es herrscht offenbar die Meinung vor, man müsse die Menschen mittels der Geschmacksverstärker «Unterhaltung» und «Emotionalisierung» zum Konsum von Nachrichten und Informationen überlisten, freiwillig würden sie diese nicht verfolgen. Auch die Informationssendungen des Radios sind vor diesem Missverständnis nicht gefeit: Nachrichten werden mit einem Musikteppich unterlegt; ein Kniff aus dem Privatradio, mit der die «Durchhörbarkeit» erhöht werden soll. Und selbst auf SRF 4 News werden neuerdings die HörerInnen geduzt. Gegenüber mündigen BürgerInnen ist das respektlos.

Dieses auf das Emotionale und Hedonistische verengte Bild des Menschen hat erhebliche Auswirkungen auf die Programmgestaltung: Zwecks Absatzsteigerung befragt man das Publikum mittels Umfragen und Gruppendiskussionen mehr oder weniger direkt, was es wünscht, oder versucht dies aus der Analyse von Big Data zu ergründen, und versorgt es mit dem entsprechenden «Content». Diese vordergründige Erhebung der Publikumswünsche ist jedoch oft «Fake», eingewickelt in das Allerweltsschlagwort von der «KonsumentInnen-Souveränität».

Wenn SRF die örtlich und zeitlich unabhängige Nutzung als «KonsumentInnen-Souveräntität» verkauft, zeugt das von einem Selbstverständnis, das die Menschen bloss als Marketing-Objekte sieht.

Fragt man das Publikum direkt, was es will, kann es bloss mit dem antworten, was es bereits kennt. Auf dieser Grundlage konzipierte Programme rennen bloss Moden, Strömungen und Hypes nach, die gerade im Schwange sind (wobei sich die Medien noch gegenseitig kopieren und hochschaukeln). KonsumentInnen-orientierte Medien sind Follower-Medien – dasselbe in Grün auf allen Kanälen. Das Resultat: Déjà-vus, Überdruss und gähnende Langeweile. Wenn SRF die örtlich und zeitlich unabhängige Nutzung als «KonsumentInnen-Souveräntität» verkauft, zeugt das von einem Selbstverständnis, das die Menschen bloss als Marketing-Objekte, d.h. als KonsumentInnen sieht, und nicht aus einer publizistischen Haltung heraus als BürgerInnen.

Privatwirtschaftliche Medien sind frei in der Wahl, wie sie die Menschen ansprechen; der gebührenfinanzierte Service public hat jedoch nur eine Option: die BürgerInnen als Glieder unserer demokratischen Gesellschaft anzusehen – schliesslich ist die wichtigste Aufgabe des medialen Service public, zu deren Zusammenhalt beizutragen.

Wie begegnet man den BürgerInnen aus einer publizistischen Haltung heraus? Man pfercht nicht 150 JournalistInnen in das Räderwerk eines zentralen Medienturms, sondern lässt sie ausschwärmen, ins pralle Leben eintauchen, lässt sie den Menschen zuhören, lässt sie im Dialog auf die Menschen eingehen, lässt die ReporterInnen zu verstehen versuchen, welche Anforderungen und Aufgaben des Lebens die BürgerInnen dieses Landes zu bewältigen haben und wie ihnen die Medien dabei helfen – dienen! – können. Was gibt es Spannenderes als das Leben selber? Was wäre innovativer, als ins Wurzelwerk der Gesellschaft einzutauchen, zu verstehen, was die Menschen beschäftigt und dies in den Medien aufzunehmen? Damit werden die Medien zu einem lebendigen Organismus, zu sensiblen Seismographen und Frühwarnern der Gesellschaft; dies macht sie lebensnah, spannend, interessant, lebendig, innovativ – und relevant. Solche Publizistik hat es nicht nötig, die Menschen via Emotionen zu instrumentalisieren – die Emotionen kommen ganz von alleine. Aber wie könnte man dickere und höhere Mauern zum wahren Leben bauen, als wenn man als SRF-ReporterIn die eigenen Beiträge zunächst durch das Nadelöhr des «Decision Desks» im neuen Newsroom hindurchprügeln und dann auch noch den Segen der internen Marktforschung der neu geschaffenen Abteilung «Audience» einholen muss?

Ohne einen tiefgreifenden internen Kulturwandel bleibt «SRF 2024» bloss alter Wein in neuen digitalen Schläuchen.

Mit «SRF 2024» droht sich das Deutschschweizer Radio und Fernsehen von den Menschen als BürgerInnen zu entkoppeln, denn für einen ehrlichen Dialog reichen Publikumsforschung, technische Vorkehrungen wie Kommentarforen, Chats, Call-ins und Communities bei weitem nicht – für einen profunden Austausch gibt es dabei viel zu viele selektive Zugangshürden. Und an diejenigen Milieus, die sich vollständig von Staat, Wissenschaft, Gesellschaft und teilweise auch von der Demokratie verabschiedet haben, kommt man auf diesem Wege sowieso nicht heran. «Demokratie für alle»? Wunschdenken!

Will SRF wirklich den BürgerInnen des Landes dienen und die Menschen nicht bloss als KonsumentInnen zwecks «Quote» instrumentalisieren, muss es konsequent den BürgerInnen als zur Verantwortung und zur Freiheit fähigen Menschen begegnen, die aktiv an der demokratischen Gesellschaft partizipieren. Aber schon nur die heutige unreflektierte inflationäre Verwendung des Begriffs «UserInnen» – Synonym für eine gesichtslose, blutleere Verbrauchermasse – zur Bezeichnung des Publikums zeigt, dass im Prinzip immer noch das alte Marketing- und Verkaufsdenken herrscht. Ohne einen tiefgreifenden internen Kulturwandel bleibt «SRF 2024» bloss alter Wein in neuen digitalen Schläuchen.

Je individualisierter, isolierter der Medienkonsum, desto heterogener unser gemeinsames Wissen und unsere Werthaltungen, desto schwächer der gesellschaftliche Zusammenhalt.

Demokratie heisst Selbstbestimmung. Auf den Plattformen von Facebook, Instagram und Youtube gibt SRF die Kontrolle über ihre Programminhalte ab: Die übermächtigen globalen Intermediäre verfolgen mit grösster Kälte wirtschaftliche und ideelle Eigeninteressen, denen sich die NutzerInnen ihrer Dienste unterwerfen müssen: Ihre Herrschaftsinstrumente sind Big Data, Algorithmen und neuerdings ganz offen Zensur, sprich: Willkür.

Social Media normiert und steuert unsere Gesellschaft in eine ganz bestimmte Richtung und beeinflusst ihren Zusammenhalt tiefgreifend: Je individualisierter, isolierter der Medienkonsum, desto heterogener unser gemeinsames Wissen und unsere Werthaltungen, desto schwächer der gesellschaftliche Zusammenhalt und desto schwieriger die demokratische Meinungsbildung. Sieht man dies bei SRF? Hat «SRF 2024» Antworten darauf? Zumal die Drittplattformen, die SRF exzessiv nutzt, alle US-amerikanischer Herkunft und Botschafter einer Gesellschaft sind, einer Kultur und eines Mediensystems, deren Versagen am 6. Januar 2021 beim Sturm aufs Capitol brutal manifest geworden ist.

Der Zwang, zur Nutzung von SRG-Inhalten auf Drittplattformen meine Daten preiszugeben, ist ein Eingriff in die Freiheitsrechte.

In ebendiese Welt zwingt uns SRF mit seiner radikalen Digital-first-Strategie. Was aber, wenn ich meine persönlichen Daten nicht preisgeben möchte? Dann komme ich an die SRF-Produktionen auf Facebook, Youtube und Instagram gar nicht heran. Dies widerspricht dem Kerngedanken des Service public diametral: Freier Zugang zu den von der Allgemeinheit finanzierten Inhalten für alle zwecks gesellschaftlichen Zusammenhalts. Entweder beuge ich mich dem Diktat der Plattformen und der SRF-Strategie und opfere meine Privatsphäre, oder ich bekomme für eine volle Medienabgabe nur die Hälfte der Leistung. Ist das dieser «Value for Money», den SRF dauernd propagiert? Wohl kaum: Der Zwang, zur Nutzung von SRG-Inhalten auf Drittplattformen meine Daten preiszugeben, ist ein Eingriff in die Freiheitsrechte und erst noch eine indirekte Gebührenerhöhung. Die Nutzung dieser Plattformen ist gratis; im Gegenzug verhilft die SRG den Plattformbetreibern zu unseren persönlichen Daten, welche für diese Geldwert haben. Nimmt SRF dies bewusst in Kauf? Oder hat man dies in der Euphorie schlicht nicht bedacht?

Der neue SRF-Newsroom im Studio Leutschenbach soll angeblich noch schnellere und vertieftere Information bieten. Echte Vertiefung setzt jedoch voraus, dass es entsprechende Gefässe gibt, die Vertiefung und Hintergrund ermöglichen. Sie sind nicht nur für das Publikum wichtig, sondern ebenso für die Programmschaffenden: Solche Formate ermöglichen es ihnen, sich selber weiterzubilden, neue Kontakte zu knüpfen, neue Perspektiven zu gewinnen und zu vermitteln. Zu solchen Gefässen beitragen zu dürfen, ist zudem für die JournalistInnen ein motivierendes Zeichen der Wertschätzung.

Unter den Bedingungen von «digital first» ist es nicht mehr möglich, die dramaturgischen Stärken der Medien Radio und TV auszuschöpfen.

Auch auf Qualität und Professionalität wirkt sich der neue Newsroom negativ aus: Redaktionsteams werden aufgelöst, obwohl sie eine wichtige Plattform des professionellen Erfahrungsaustauschs sind. Demgegenüber erfordert das Newsroom-Konzept neue Hierarchien und Koordinationsaufwand – Ressourcen, die für Substanz und Qualität des Programms fehlen.

«Digital first» verlangt von den Medienschaffenden, ihre Beiträge zunächst für die kürzere und schnellere Online-Publikation zu produzieren. Das reduziert ihre Ressourcen für die Erstellung der aufwändigeren Radio- und TV-Beiträge. Unter diesen Bedingungen ist es nicht mehr möglich, die dramaturgischen Stärken der Medien Radio und TV auszuschöpfen. Die totale Konvergenz von Online, Radio und TV ebnet die auditive und audiovisuelle Kultur ein und reduziert sie auf ein Mittelmass.

«SRF 2024» will das junge Publikum mit Kurzfutter auf den Social-Media-Plattformen für sich gewinnen. Das ist das althergebrachte Marketing-Denken der «Content»-Versorgung von KonsumentInnen und wird dem Service public keine Rosen bringen. Die Ansprache der Jungen kann nur aus einer publizistischen Haltung heraus gelingen: Also indem ihre Anliegen in den etablierten Radio- und TV-Informations- und Meinungsbildungsgefässen systematisch aufgegriffen und vertieft werden. Auf diese Weise bringen die Medien die Anliegen der Jungen in die Öffentlichkeit und die Jungen vor die Medien. Bisher mussten die Jungen viel zu oft Rabatz machen, damit sie die Medien – inklusive Service public – wahrnahmen und über sie berichteten. Auf diese Weise liefern sie die Jungen bloss ans Messer derjenigen, welche sich von ihren Aktionen provoziert fühlen, tun aber damit nichts für das Verständnis ihrer Anliegen.

Nur auf der Grundlage einer partizipativen Kultur bei SRF ist es möglich, in einen Austausch auf Augenhöhe mit den Jungen zu treten.

Wäre SRF nicht bloss an KonsumentInnen-, sondern an BürgerInnen-Nachwuchs interessiert, würde es den Jungen statt Goodies auf Facebook & Co. eine Internet-Plattform von und für Junge bereitstellen; RSI verfolgt diesbezüglich einen interessanten Ansatz. Aber vor dem «Content» wollen die Jungen etwas viel Wichtigeres: Sie wollen als gleichwertige BürgerInnen respektiert und nicht bloss als (Medien-)KonsumentInnen angesprochen werden. Dies ist das partizipatorische Anliegen der heutigen und kommenden Generationen. Damit sind wir wieder bei der Betriebskultur: Nur auf der Grundlage einer partizipativen Kultur bei SRF ist es möglich, in einen Austausch auf Augenhöhe mit den Jungen zu treten und ihr Vertrauen zu gewinnen. Andernfalls bleibt SRF bloss ein Content-Lieferant unter vielen.

Die Menschen in der Schweiz und in skandinavischen Ländern zählen sich zu den glücklichsten Menschen auf diesem Planeten. Dies hat viel mit den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen zu tun, und diese sind wiederum eng mit einem bis dato einigermassen gemeinschafts- und gesellschaftsstiftenden medialen Service public verbunden. Die Eruptionen in den USA, welche die Wiege der Demokratie beinahe zum Kippen gebracht hätten, sind untrennbar mit dem dortigen Mediensystem verbunden – einen starken, gemeinschaftsstiftenden Service public gibt es nicht. Will heissen: Mediensysteme sind aufs Engste mit Kultur – Grundstoff jeder Gesellschaft –, mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eines Landes verbunden.

Ziehen wir vor diesem Hintergrund Bilanz:

  • Die Digital-first-Strategie von «SRF 2024» wirft uns in den Strom von Social Media und Drittplattformen und lässt uns von diesem mitreissen. Aber schon aufgrund der Vereinzelung der Menschen – «SRF 2024» wirbt ja mit dem Versprechen der totalen KonsumentInnen-Souveränität – haben sie negative Konsequenzen für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für das, was man eine demokratische Öffentlichkeit nennt. In deren Schoss müss(t)en ein faktenbasierter politischer Diskurs und eine Meinungsbildung stattfinden können, die ihrerseits mittels Abstimmungen und Wahlen zu allgemeinverbindlichen Beschlüssen führen. Diesbezüglich sind Social Media dysfunktional.
  • Die grossen Social-Media-Plattformen befinden sich in den Händen von US-Konzernen. Diese verfolgen ihre eigene, amerikanisch geprägte wirtschaftliche und politische Agenda. Diese ist nicht wertfrei, sondern dem Zusammenhalt in unserem Land in vielem wesensfremd.
  • Die mit diesen Sozialen Medien verknüpfte Digital-Strategie «SRF 2024» widerspricht in wichtigen Punkten den eigenen Ansprüchen «Demokratie für alle», «Glaubwürdigkeit» und «Professionalität».

«Soziale Netzwerke sind ein systemisches Risiko für die Demokratie», warnt Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission im Zusammenhang mit geplanten Regulierungsmassnahmen gegen die US-Internetkonzerne. «SRF 2024» greift weit über das hinaus, was dem Service public an Programmautonomie zusteht: Das von der Allgemeinheit finanzierte Medienunternehmen betreibt in einem tiefgreifenden Sinne Gesellschaftspolitik. Das führt an eine Weggabelung: Wollen wir gemäss «SRF 2024» den Pfad Richtung totale KonsumentInnen-Souveränität einschlagen – zum Preis der Abhängigkeit von kommerziellen Konzerninteressen und einer möglichen Schädigung der Demokratie? Oder wollen wir einen Service public im Dienste von uns BürgerInnen, unserer gesellschaftlichen und kulturellen Identität und politischen Autonomie? Die Öffentlichkeit muss sich zu «SRF 2024» und «Digital first» äussern können, zumal die Leitung von Schweizer Radio und Fernsehen und der SRG weit weniger politisch legitimiert ist und sich (anders als die Mitglieder der demokratischen Instanzen) auch nicht einer Wiederwahl stellen muss.

Der digitale Wandel bedeutet nicht nur eine vermeintlich wertfreie technologische, sondern zugleich eine ausgeprägt gesellschaftlich-kulturelle Disruption: Er ist auch Ausdruck des Anspruchs der BürgerInnen auf Partizipation in allen Lebensbereichen. Um diesem Anspruch zu genügen, muss ihn die SRG auch in ihrer Unternehmensphilosophie und -kultur verankern und sich von ihrem hierarchisch-kontrollierenden Zentralismus verabschieden. Sonst wird sie ihrer Mission – Dienst an BürgerInnen und Gesellschaft – immer weniger gerecht.

Leserbeiträge

Laura Köppen 12. Februar 2021, 16:52

Sehr geehrter Herr Anker, gerne beziehe ich als Verantwortliche der Abteilung «Audience» von SRF Stellung zu Ihren Aussagen betreffend der SRF-Forschung. Sie schreiben über die Publikation «Medientrends Deutschschweiz 2018» der Markt- und Publikumsforschung von SRF. Sie schreiben, die in der Publikation gemachte Aussage, das «Echo der Zeit» werde täglich von 142’000 Personen gehört, sei falsch. Vielmehr liege die Hörerzahl bei 422’000 Personen. Die verwendete Messgrösse ist jedoch nicht falsch, wenn man die Zahlen von «Echo der Zeit» mit derjenigen der «Tagesschau» vergleichbar machen will. In der Radio-Branche werden die Hörerzahlen mit der Messgrösse Reichweite angegeben. Das heisst, auch jede Person, die nur kurz Radio hört, wird gezählt. In der TV-Branche werden die Quoten in Ratings angegeben. Das heisst, es wird angegeben, wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer im Schnitt über die ganze Sendezeit die Sendung gesehen haben. Diese Zahlen mit verschiedenen Messgrössen kann man nicht vergleichen, darum wurden für «Medientrends Deutschschweiz» diese Publikumszahlen vergleichbar und die Quellen und Rahmenbedingungen in der Publikation transparent gemacht. Die Resultate der Mediapulse AG bestätigen, dass Radio SRF 1 im Jahr 2017 von 18.00 bis 18.45 Uhr (Montag bis Freitag) durchschnittlich 142’000 Personen erreichte, die während mindestens der Hälfte der Dauer von 45 Minuten die Sendung «Echo der Zeit» hörten. Die Aussage ist also korrekt. Würde man die «Tagesschau» nach Messgrösse Reichweite, wie in der Radio-Branche üblich, ausweisen, käme man ebenfalls auf eine grössere Zahl, weil man dann jede Person zählen würde, die auch nur reingezappt hat. Auch möchte ich gerne darauf hinweisen, dass die zitierte Studie mit Aussagen zur Nutzung von Fernsehen, Radio und Kino nicht von SRF stammt. Die erwähnte Studie wird von der IGEM Interessengemeinschaft elektronische Medien durchgeführt (www.igem.ch). Die SRG SSR ist auf nationaler Ebene Mitglied dieser Interessengemeinschaft. Sie ist jedoch nicht aktiv an der zitierten Studie beteiligt. Beste Grüsse, Laura Köppen

Heinrich Anker 12. Februar 2021, 20:02

Sehr geehrte Frau Köppen

Danke für Ihre Rückmeldung. Gerne nehme ich dazu Stellung.

Die Tagesschau wird in der Prime time des Fernsehens ausgestrahlt. Ergo müssten Sie ihr zu Vergleichszwecken die Infosendung der Radio-Prime-Time gegenüberstellen: das Rendez-vous am Mittag. Die Tagesschau dauert 20 Min., das „Echo“ hingegen 45 Min. Aus dieser Sicht scheint mir der Rating-Vergleich nicht adäquat. Das «Echo» wird von 18.00-18.45 Uhr nicht allein von SRF 1 ausgestrahlt, zeitgleich müssten Sie auch die Ausstrahlung auf der Musikwelle und auf SRF 4 News von 18.00-18.45 Uhr mit einberechnen sowie die Ausstrahlung von 19.00 – 19.45 Uhr auf SRF DRS 2 Kultur und wiederum SRF 4 News. In der Zeit von 18.00-18.45 Uhr gräbt TV SRF dem «Echo» Publikum ab. Auch von daher ist der Vergleich von «Echo» und Tagesschau nicht adäquat. Dies auch deshalb, weil die Tagesschau vom nachfolgenden «Meteo» profitiert: Dessen Nutzung ist höher als diejenige der Tagesschau.

Die Rating-Philosophie ist eine genuine TV-Philosophie, ausgerichtet auf die Werbung (Kontaktchancen für die Werbespots). Radio SRF betreibt demgegenüber keine Werbung – die Rating-Methodik ist auch aus dieser Sicht für das werbefreie Medium Radio SRF nicht adäquat. Dies ist auch deshalb der Fall, weil die Rezeption von Radio und TV ganz andern Regeln folgen: Das TV basiert auf der Rezeption definierter Sendungen, das Radio ist vielmehr etwas wie ein Paternoster: Wer das Echo von 18 Uhr verpasst hat, weiss, wo er/sie es um 19 Uhr auch noch hören kann, und tagsüber gibt es auch regelmässig News am Radio. Ergo: Selbst wenn jemand nur kurz ins «Echo» hineinhören sollte – vieles erfahren die RadiohörerInnen auch tagsüber im Stunden- oder sogar Halbstundentakt. Das ist im TV überhaupt nicht der Fall. Ergo: Die Informationsleistung des Radios ist insgesamt ungleich höher als die des TV!

Sie kritisieren die Reichweite als Messgrösse, weil sie nicht erfasse, ob jemand nur kurze Zeit hineinhöre. Erstens könnten Sie (oder konnte man mindestens zu früheren Zeiten) mittels Radiocontrol Reichweiten von 3 Min. oder mehr definieren (wobei ich ehrlicherweise in Bezug auf Radiocontrol, dessen Parameter ich einst als Radioforscher definiert habe, nicht mehr up to date bin), und zweitens ist ja auch bei der Telecontrol-Messung nicht garantiert, dass alle Angemeldeten auch brav vor dem TV-Gerät sitzen – wer meldet sich schon dauernd an und ab…

Die Abstützung auf die Grössen Reichweiten und Marktanteile determinieren die gesamte Radioprogrammpolitik, das Rating determiniert die TV-Programmierung. Und die sind – siehe den vorangehenden Punkt – völlig verschieden. Ergo scheint es mir wenig valide, die Radionutzung in das Format des Ratings einzwängen zu wollen. Weshalb verfahren Sie zu Vergleichszwecken nicht umgekehrt?

Sie könnten für das TV die Reichweiten und Marktanteile ermitteln und diese mit denjenigen des Radios vergleichen! Die von Ihnen erwähnte IGEM-Studie habe ich unter folgendem Link gefunden: https://www.srf.ch/news/schweiz/studie-zum-medienkonsum-die-schweiz-ein-netflix-land Ich gehe deswegen davon aus, dass Sie keine sachlichen Vorbehalte dagegen haben. Unsere Diskussion geht auf einen Beitrag von Robert Ruoff in der Medienwoche vom 5. Juli 2018 zurück: «Die Chefredaktion des Radios sah sich in dieser Sache jedenfalls zu Krisensitzung mit den Redaktionsleitern des Radios und der Publikumsforschung veranlasst. Die Fehlleistung der Publikumsforschung wurde bestätigt. Die Forderung, die Fehlinformationen vom Netz zu nehmen, wurde hingegen abgelehnt. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Und die Studie sei zu gross und wichtig.» Ist diese Darstellung von SRF widerrufen worden oder möchten Sie sie an dieser Stelle widerrufen?

Mit freundlichen Grüssen, Heinrich Anker

Kurt Schmid 15. Februar 2021, 02:00

Ich stimme Herrn Anker voll und ganz zu.

Unser Haushalt hört Echo der Zeit immer erst um 19:00 auf SRF2 oder ausnahmsweise auf Musikwelle. Diese verschiedenen Termine müssen natürlich zwingend zusammengezählt werden.

Ich bin erstaunt, dass sich SRF erlaubt eine „Audience“ (was immer auch das sein mag) Abteilungsleiterin aus Deutschland anzustellen. Wir zahlen die Zwangsabgabe um ein Radio und Fernsehen zu erhalten, das unserem Kulturkreis entspricht. Es ist eine „kulturelle Aneignung“ wenn Personen aus anderen Kulturkreisen sich an fundamentalen Institutionen der ältesten Republik des Kontinents zu schaffen machen. Ich brauche kein staatliches „20 Minuten“ per Zwangsabo. Da genügt mir das Original.

Ich will kulturell an unser Land angepasstes Radio und Fernsehen mit Qualitätsinformationen. In dieser Beziehung war „Echo der Zeit“ bisher immer Vertrauenswürdig und Hochaktuell, aber leider hat man sich in letzter Zeit etwas zuviel auf deutsche Professoren und Quellen gestützt. Es gibt auch in unserem Land genügend gut informierte Personen.

Mit dieser neuen Ausrichtung konkurrenziert SRF die privaten Medienkanäle und vergrault gleichzeitig auch sein Stammpublikum. Am Ende droht ein europäisches oder, hoffentlich nicht, ein US Mittelmass.

Ein Ende mit Schrecken zeichnet sich am Horizont ab – eine Initiative die dem ganzen System den Schalter abdreht. Ich hoffe, auch nicht in der Schweiz sozialisierte Medienschaffende und Manager, realisieren dies bevor es zu spät ist. Die letzte Initiative hätte es fast geschafft. Seien sie gewarnt.

deleisi 18. Februar 2021, 21:26

Nun, Frau Köppen geht ja ausschliesslich auf statistische Punkte der Audience ein. Die Kultur der SRF-Audience scheint der SRF Audience also ziemlich egal zu sein.

Kurt Schmid 19. Februar 2021, 15:42

Genau, Sie treffen den Nagel auf den Kopf.

Dabei macht Frau Köppen nicht mal die Statistik richtig. Sie kennt ja die Kultur und die Vorlieben der Höher nicht. Was ist mit den Leuten die beim Autofahren Radio hören? Bei den vielen Autos in der Schweiz gibts das zwangsläufig auch sehr viele Hörer.

Im Auto kann ich keine Internet Channels googeln. Eventuell versuchen einen Podcast zu hören, was aber mit den heutigen Geräten sehr komplex ist. Da müsste man zuerst anhalten, Sie durch technisch ausgelegte Apps durchkämpfen um dann vielleicht 10 Minuten etwas zu hören – unrealistisch.