von Marko Ković

4chan: Wo Hass und Hetze als lustige Online-Spielerei daherkommen

Moderne Verschwörungstheorien von Pizzagate bis QAnon, totale Entmenschlichung des politischen Gegners, Normalisierung von Faschismus: Die Website 4chan ist die Startrampe des aktuellen politischen Moments. Warum, diskutieren Christian Caspar und Marko Ković in der neuen Folge unseres Podcasts «Das Monokel».

In den letzten Jahren wurde viel über den schädlichen Einfluss von Social-Media-Plattformen für unsere politische Kultur geschrieben: Facebook, YouTube, Reddit, Twitter & Co. polarisierten und leisteten politischer Radikalisierung Vorschub. Bizarre Lügen, absurde Verschwörungstheorien und gefährliche Desinformation erreichten ungefiltert und unhinterfragt Millionenpublika. Der ungezügelte Diskurs sei eine Gefahr für die Demokratie.

Es stimmt zwar, dass der politische Diskurs auf Social Media bisweilen irrwitzige und gefährliche Züge annimmt. Doch die grossen Socia-Media-Plattformen sind oft nur Verstärker und Multiplikatoren von Ideen und Inhalten, die ihren Ursprung nicht selten in anderen, weniger bekannten Ecken des Internets haben. Eine der wichtigstes dieser obskuren Plattformen, welche die politische Kultur im Westen beeinflusst, ist 4chan: Oberflächlich betrachtet ein unscheinbares, minimalistisch gestaltetes Diskussionsforum.

Die Geschichte von 4chan beginnt je nach Auslegung mit einer respektvollen Hommage oder einer dreisten Kopie: Am 1. Oktober 2003 ging das Diskussionsforum 4chan.org online. Im Wesentlichen sah die Website aus wie ein Klon des japanischen Imageboards Futaba Channel. Der Name 4chan ist eine Anspielung auf 2chan, den umgangssprachlichen Namen für Futaba Channel («Futaba» bedeutet in etwa so viel wie «zwei Blätter»), und 4chan nutzte den gleichen Software-Quellcode wie Futaba Channel. Sogar das Layout und Design waren praktisch identisch.

4chan war kein Produkt einer grossen Internetfirma und kein Kind der Dotcom-Jahre. Die Website 4chan war ein kleines Hobbyprojekt des damals erst 15-jährigen Schülers Christoph Poole. Das Online-Forum «Something Awful», in dem Poole häufig mitdiskutierte, hatte für seinen Geschmack zu viele Regeln. Er sehnte sich nach einem Ort, wo er sich mit Gleichgesinnten ungefiltert und ungestört austauschen konnte. Nicht unbedingt, weil sich der junge Poole gross um Dinge wie Meinungsfreiheit und Zensur kümmerte. Er war schlicht ein Anime- und Manga-Nerd und wollte einen japanisch angehauchten Ort schaffen, der weitere Nerds anzieht.

Obwohl 4chan um Welten weniger Nutzerinnen und Nutzer zählt als die grossen Social-Media-Plattformen, erfreut sich die Website bis heute ganz ansehnlicher Beliebtheit in der Nische.

Zu Beginn fokussierte 4chan darum auf Unterforen, sogenannte Boards, rund um Anime und Manga (inklusive Boards für Anime- und Manga-Pornografie). Mit der Zeit erstellte Poole, der bis 2015 der alleinige Administrator von 4chan war, weitere Boards mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten, von Fitness über Literatur bis hin zu einem Board für paranormale Phänomene, wie Gespenster und Nahtoderfahrungen.

Obwohl 4chan um Welten weniger Nutzerinnen und Nutzer zählt als die grossen Social-Media-Plattformen, erfreut sich die Website bis heute ganz ansehnlicher Beliebtheit in der Nische, die sie sich selber geschaffen hat. Gemäss eigenen Angaben hat 4chan über 20 Millionen Besucherinnen und Besucher pro Monat und generiert jeden Tag über 900’000 neue Forumseinträge. Die Erträge aus Bannerwerbung (zumeist für Pornoseiten) scheinen ausreichend zu sein, um 4chan nachhaltig zu betreiben.

So weit, so unspektakulär. 4chan ist ein gut besuchtes Online-Forum, aber das alleine erklärt nicht, warum 4chan für die politische Kultur westlicher Länder von grosser Bedeutung sein soll. Es gibt schliesslich schier endlos viele Diskussionsforen im Internet.

Bei 4chan braucht es keine Anmeldung. Ein «Gespräch» starten oder bei einer Diskussion mitreden kann jede und jeder sofort, ganz ohne Registrierung, und zwar komplett anonym.

Der Schlüssel zu 4chans grossem Einfluss ist der niederschwellige Zugang. Bei normalen Diskussionsforen müssen sich Nutzerinnen und Nutzer registrieren und können erst danach Diskussionen starten oder bei bestehenden Diskussionen mitreden. Bei 4chan braucht es keine Anmeldung. Ein «Gespräch» starten oder bei einer Diskussion mitreden kann jede und jeder sofort, ganz ohne Registrierung, und zwar komplett anonym. Die Nutzerinnen und Nutzer sprechen sich darum gegenseitig als «Anon» oder «Anonymous» an; das ist der Benutzername, der standardmässig bei allen Nutzerinnen und Nutzern angezeigt wird. Um eine Diskussion bei 4chan zu starten, ist es zudem nötig, ein Bild zu posten. Das ist der Grund, warum 4chan als ein sogenanntes Imageboard gilt.

Bereits diese zwei Komponenten, die Anonymität und der Zwang zum Einsatz von Bildern, machen 4chan zu einer eigenen Gattung unter den Social-Media-Plattformen: Die Diskussionen auf 4chan sind oft kreativ, vielfältig und schaffen trotz, oder gerade wegen der Anonymität ein besonderes Gefühl der Gemeinschaft. Im Vordergrund stehen, anders als auf den meisten Social-Media-Plattformen, nicht konkrete User als wiedererkennbare Personen, sondern nur ihre Beiträge in Text und Bild, die unmittelbar Reaktionen provozieren. In der Anonymität fallen typische soziale Anreize, wie es sie auf Facebook und Co. gibt, gänzlich weg. Wenn ein User eine beliebte Diskussion startet, gibt es keine Likes und keine Retweets, die den User als Person in den Vordergrund stellen und ihm so etwas wie Prominenz verschaffen. Auf 4chan gibt es nur die anonyme Masse, alles ist vergänglich, und der Mühe einziger Lohn sind die unmittelbaren Reaktionen anderer anonymer Nutzerinnen und Nutzer. Es geht ausschliesslich um das möglichst sinnliche, möglichst aufregende Hier und Jetzt.

Viele Memes erblicken auf 4chan das Licht der Welt und finden ihren Weg anschliessend auf gängigere Social-Media-Plattformen.

Diese besonderen Bedingungen des anonymen Diskutierens in Kombination mit dem Fokus auf Bilder haben die Kulturtechnik der Memes hervorgebracht. Das, was wir heute überall im Netz sehen – mehr oder weniger lustige Bilder als Meinungen und Reaktionen – hatte seinen Ursprung in den sarkastischen, mit Bildern gespickten Diskussionen der 4chan-Unterforen. Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte, und ein Meme kann packender und unmittelbarer sein als tausend Zeilen Text. Auch heute noch ist 4chan eine der wichtigsten Quellen von Memes im gesamten Internet: Viele Memes erblicken auf 4chan das Licht der Welt und finden ihren Weg anschliessend auf gängigere Social-Media-Plattformen, wo sie ein viel grösseres Publikum finden.

Eine weitere zentrale Komponente von 4chan ist die strukturell bedingte brutale Aufmerksamkeitsökonomie der Diskussionen. Neue Diskussionen werden laufend gestartet, und die neuen Diskussionen verdrängen chronologisch die bestehenden. In der Folge sind die meisten neu gestarteten Diskussionen nur für wenige Sekunden auf der Frontseite des jeweiligen Unterforums sichtbar, und nach nur rund fünf Minuten sind sie gar komplett verschwunden, weil sie von der nie endenden Welle an neuen Diskussionen weggespült werden. Diskussionen bei 4chan sind nämlich ein Nullsummenspiel: Wird eine Diskussion genug weit nach hinten gedrückt, rutscht sie bald ins digitale Nirvana, weil die Anzahl der angezeigten und damit abrufbaren Diskussionen fix ist. Archivfunktionen oder dergleichen gibt es keine.

Wer nicht die Grenzen der Menschlichkeit überschreitet, geht auf 4chan unter.

In diesem gnadenlosen Verdrängungskampf kann nur obenauf schwimmen, wer möglichst viele Reaktionen provoziert; Diskussionen, die viele Antworten generieren, bleiben länger sichtbar. Um aufzufallen und Reaktionen zu zeitigen, müssen Diskussionen darum möglichst provokativ und krass sein, möglichst Tabus brechen und nicht zuletzt die 4chan-Massen möglichst gut unterhalten.

Wer sachlich und ausgewogen diskutieren will, hat bereits verloren. Wüster Rassismus, verrückte Verschwörungstheorien, Hass auf Andersdenkende sind die natürliche Konsequenz dieses darwinistischen Kampfes um Aufmerksamkeit. Wer nicht die Grenzen der Menschlichkeit überschreitet, geht unter. 4chan ist, wie es Andrew Marantz im Titel seines Buches «Antisocial: Online Extremists, Techno-Utopians, and the Hijacking of the American Conversation» auf den Punkt bringt, im Grunde antisozial: Die Vernetzung auf 4chan führt nicht zur Steigerung eines wie auch immer gearteten Gemeinwohls, sondern verkommt (auch strukturbedingt) zum Ausdruck kollektiver Verachtung aller Menschen, die anders denken und anders aussehen.

Die Geister, die er rief, wurden mit der Zeit sogar dem 4chan-Gründer Christophe Poole zu viel.

Der toxische Cocktail der 4chan-Aufmerksamkeitsökonomie – auf 4chan kann und muss man Tabus brechen, um gesehen zu werden – ist der vielleicht entscheidende Faktor, der 4chan von einem Diskussionsforum für Anime-Nerds zu einem Nährboden für politischen Wahnsinn hat mutieren lassen. Die Geister, die er rief, wurden mit der Zeit sogar dem 4chan-Gründer Christophe Poole zu viel. Nachdem er realisierte, dass 4chan nicht mehr in halbwegs vernünftige Bahnen gelenkt werden kann, verkaufte Poole 4chan 2015 an Hiroyuki Nishimura, den Gründer des Textboards 2channel. (2channel, ein rein textbasiertes japanisches Diskussionsforum, war die Inspiration für Futaba Channel und damit indirekt auch für 4chan.)

Wäre 4chan lediglich ein toxisches Kuriosum, dessen extreme Inhalte auf 4chan beschränkt sind, wäre die Angelegenheit vielleicht als Online-Randphänomen akademisch interessant, aber für die breitere Gesellschaft nicht so wichtig. Wie aber nicht zuletzt das Beispiel von Memes als sarkastische Kulturtechnik zeigt, schwappt 4chan auch in das breitere Internet und damit in die breitere Gesellschaft über. Das ist der zentrale Mechanismus, über den 4chan zu einem weltweit bedeutenden Phänomen geworden ist: Auf 4chan entstehen extremistische Inhalte, die zuerst nur ein begrenztes Publikum erreichen, sich aber auf anderen Social-Media-Plattformen verbreiten wie ein Lauffeuer.

Fragwürdige Aktionen und Bewegungen, die von 4chan aus ihren Siegeszug starten, gibt es zuhauf.

Im Bereich des Politischen geschieht diese Weiterverbreitung von 4chan-Inhalten auf zwei Arten; eine eher offensichtliche und eine eher subtile. Offensichtlich und unmittelbar spürbar sind einschneidende Ereignisse, Bewegungen und «Skandale», die ihren Ursprung auf 4chan haben. Eher subtil hingegen ist die Verbreitung des diskursiven Stils von 4chan in die breitere Öffentlichkeit hinein.

Zunächst zu der eher offensichtlichen Art, wie Inhalte von 4chan in die Gesellschaft überschwappen. Fragwürdige Aktionen und Bewegungen, die von 4chan aus ihren Siegeszug starten, gibt es zuhauf: Die Hacker-Bewegung «Anonymous» wurde um 2004 herum auf 4chan ins Leben gerufen; der Aktienkurs von Apple ist 2008 eingebrochen, nachdem auf 4chan ein Gerücht über den Tod von Steve Jobs in die Welt gesetzt wurde; 2014 wurden unter dem Namen «The Fappening» gehackte Nacktfotos unter anderem von Hollywood-Schauspielerinnen auf 4chan veröffentlicht.

Ein explosiver Moment, mit dem 4chan in den politischen Alltag sickerte, ist die QAnon-Verschwörungstheorie.

Ab den 2010er Jahren häufen sich aber stärker politische Bewegungen mit dezidiert reakionär-faschistoidem Drall, die auf 4chan aufkeimen und dann über andere Plattformen gross werden. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte «Gamergate»-Bewegung von 2014. «Gamergate» war ein Sturm des Online-Hasses gegen Videospiel-Programmiererinnen und -Journalistinnen. Der Mob griff diese Frauen in der Videospielbranche an, weil sie eine angeblich zu feministische und zu progressive Sicht der Dinge hatten und über Videospiele andere Leute manipulieren wollten. Obwohl «Gamergate» mit Videospielen ein Thema ansprach, das nicht im Zentrum der allgemeinen politischen Aufmerksamkeit steht, wurde damit eine bedenkliche reaktionäre Sicht massentauglich: Die westliche Kultur stehe unter Beschuss von «Social Justice Warriors», in dem Fall den Frauen in der Game-Branche, die mit ihrer Ideologie alles, was den Westen gross gemacht hat, zerstören wollen.

Ein anderer und noch explosiverer Moment, mit dem 4chan in den politischen Alltag sickerte, ist die QAnon-Verschwörungstheorie. Im Oktober 2017 meldete sich ein angeblicher Insider der Trump-Regierung auf 4chan zu Wort und verkündete, dass Donald Trump, ein angebliches politisches Genie, die USA von der «pädophilen Elite der Demokraten», dem «Deep State und Hollywood» in einem «grossen Sturm» säubern werde. Der QAnon-Verschwörungswahn gipfelte im Sturm auf das US-Kapitol vom 6. Januar 2021, bei dem QAnon-Anhängerinnen und -Anhänger Trump unter die Arme greifen und den ersehnten grossen Sturm selber herbeiführen wollten. Daraus wurde zwar nichts (Trump hat das Weisse Haus sang- und klanglos verlassen), aber QAnon ist längst zu einem religionsähnlichen Weltbild metastasiert, dass auch nach Trumps Abgang weiter wuchert.

Hass und Hetze kommen auf 4chan nicht bedrohlich oder aggressiv daher, sondern sind immer in eine dicke Schicht Sarkasmus gepackt.

Diese Beispiele sind offensichtliche und krasse Ereignisse, die auf 4chan ihren Anfang hatten, über andere Social-Media-Plattformen ein grösseres Publikum fanden, dadurch letztlich in die physische Realität übergeschwappt sind und grossen Schaden angerichtet haben. Doch der vielleicht noch wichtigere Einfluss von 4chan auf den politischen Diskurs in den USA und anderen westlichen Ländern ist subtiler: Der diskursive Habitus auf 4chan verharmlost reaktionäre bis faschistische Überzeugungen, indem er sie in einen Mantel des Sarkasmus verpackt und so für ein grosses Publikum als «normal» erscheinen lässt. Die Infektion des Politischen durch diesen Habitus ist kein lauter Knall, sondern ein steter Tropfen.

Humor ist das vielleicht zentrale Merkmal des politischen Extremismus auf 4chan: Der Rassismus, der Antisemitismus, der Faschismus und ganz allgemein der Hass auf alles Fremde, der auf 4chan an der Tagesordnung ist, kommt nicht bedrohlich oder aggressiv daher, sondern ist immer in eine dicke Schicht Sarkasmus gepackt. Auf 4chan hat man nicht das Gefühl, unter gefährlichen Neonazis zu sein. Im Gegenteil: Alles ist bunt, überall sind lustige Memes und alles wird mit einem Augenzwinkern gepostet. Die Stimmung ist nicht primär von offenkundigem Hass und Groll geprägt, sondern hat eher einen Hauch «positiver», lustiger Gegenkultur.

Wer die faschistischen Memes auf 4chan anschaut, hat nicht das Gefühl, ein rückwärtsgewandter Nazi zu sein.

Die Autorin und Forscherin Angela Nagle beschreibt dieses Phänomen in ihrem Buch «Kill All Normies» als eine Übernahme der ehemals linken Politik der Grenzüberschreitung («Transgression») durch reaktionär-faschistoide Kreise. Wer die faschistischen Memes auf 4chan anschaut, hat nicht das Gefühl, ein rückwärtsgewandter Nazi zu sein, sondern versteht sich als Teil einer mutigen Bewegung, die sich gegen das sklerotische Establishment stemmt. Das Ganze ist ein sarkastischer Protest gegen den Status Quo des angeblichen linken politischen Mainstreams; es geht nur darum, den Mainstream zu kritisieren.

All das ist am Anfang vielleicht nicht ganz so ernst gemeint und es schwingt viel rein provokatives «Shitposting» mit. Doch wenn das Pendel nur in eine Richtung schwingt, wird es mit der Zeit zu einer konkreten ideologischen Brille. Wenn sich Abertausende von Nutzern in einem permanenten Sog reaktionär-verschwörungstheoretisch-faschistoider Memes befinden, bestätigen sie sich gegenseitig in dieser Weltsicht. Vordergründig mag alles sarkastisch sein, aber der unter der Sarkasmus-Patina lauernde ideologische Kern setzt sich immer tiefer in den Köpfen der Nutzer fest.

«Pepe the Frog», eine harmlose Comic-Figur, die in SS-Uniform «Feels good» verkündet, avancierte auf 4chan zum Maskottchen der Alt-Right.

Mit diesem besonderen Mix – extremistische Überzeugungen verpackt in sarkastische Memes – schafft 4chan, was Generationen faschistischer Gruppierungen misslungen ist: Hass wird massentauglich. Die «Memefizierung» von Hass ist eine Art Filter, der Hass normalisiert und damit für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich macht. Die meisten Menschen würden beispielsweise nie aktiv einer offen rassistischen Gruppierung beitreten oder ihre Inhalte konsumieren. Doch die moralische Hemmschwelle, über ein «lustiges» Meme zu lachen, in dem «Pepe the Frog», eine harmlose Comic-Figur, die auf 4chan zum Maskottchen der Alt-Right avancierte, in SS-Uniform «Feels good» verkündet, ist viel tiefer. Und wenn das jemand kritisiert, ist das auch nur wieder Wasser auf die Mühlen der reaktionären Radikalisierung: Da sind sie wieder, die Political Correctness, der Feminismus, die Linken, die alles zensieren wollen, was nicht genehm ist.

Der Autor Dale Beran zeichnet in seinem Buch «It Came from Something Awful» nach, wie die 4chan-Kultur des humorvoll-sarkastischen Hasses dazu beigetragen hat, Donald Trump ins Amt des Präsidenten zu befördern. Die reaktionäre 4chan-Kultur, so Beran, macht Menschen zu einer Art quasi-nihilistischen Trollen, die Grenzen immer weiter ausloten und immer weiter Tabus brechen. Alles ist erlaubt, weil ja alles nur ein Scherz ist; wer sich aufregt und etwas kritisiert, ist einfach Teil des Problems. Dann gilt es erst recht, dagegenzuhalten. Eine seriöse politische Diskussion mit Kritikern und politischen Gegnerinnen wird natürlich gar nicht angestrebt. Mit «Normies» zu sprechen, die die «rote Pille» nicht genommen haben und die Realität nicht sehen, wie sie tatsächlich ist, bringt gar nichts. Es gilt, alle und alles pauschal abzulehnen.

4chan ist zwar ausschliesslich englischsprachig, aber die kulturellen Wellen, die 4chan geschlagen hat, sind auch bei uns zu spüren.

Die ideologischen Versatzstücke der 4chan-Weltsicht sind auch im deutschsprachigen Raum angekommen. Zwar hat 4chan in unseren Breitengraden vergleichsweise wenig Resonanz (4chan ist ausschliesslich englischsprachig), aber die kulturellen Wellen, die 4chan geschlagen hat, sind auch bei uns zu spüren. Verschwörungstheorien wie QAnon oder «The Great Replacement» haben auch bei uns viele Menschen in ihren Bann gezogen; hasserfüllte «lustige» Memes werden auch bei uns rege auf Social-Media-Plattformen geteilt; reaktionäre und inhaltsfreie Angriffe auf Feminismus, auf «Genderwahn», auf «Social Justice Warriors», auf Transgender-Menschen, auf linken «Moralismus», auf «Kulturmarxismus» sind auch bei uns Teil des politischen Diskurses.

Dabei geht es gar nicht darum, fundierte inhaltliche Kritik zu formulieren und in ein Gespräch zu treten. Die Andersdenkenden werden stattdessen einfach dämonisiert und ihre Kritik pauschal abgelehnt. Kein Tabubruch geht zu weit, weil ja alles eigentlich nur ein nicht ganz ernst gemeinter Scherz ist – die «Linken» haben einfach keinen Humor und wollen mit der Zensurkeule durchgreifen. Quod erat demonstrandum – was zu beweisen war.

Auch wenn 4chan als Plattform über Nacht verschwinden würde, dürfte deren Erbe noch lange nachwirken.

Das ist, im Kern, der Effekt von 4chan auf den politischen Diskurs: Alles verkommt zu einer Art provokativem Getrolle, das mittels Humor und Sarkasmus reaktionäre bis faschistische Überzeugungen salonfähig macht.

Kann diese Büchse der Pandora wieder geschlossen werden? Auch wenn 4chan als Plattform über Nacht verschwinden würde, dürfte deren Erbe noch lange nachwirken. Vielleicht würde damit die Quelle so manch einer wirren Verschwörungstheorie und vieler rassistischer Memes versiegen, aber der übergeordnete Schaden – der sarkastisch-hasserfüllte, möchtegern-transgressive politische Blick auf die Welt – ist bereits angerichtet. Die meisten Menschen, die heute die sarkastische 4chan-Hassbrille tragen, haben nie von 4chan gehört. Darüber hinaus zeigt nicht zuletzt die Website 8chan, (der kleine hässliche Bruder von 4chan; eine Kopie der Kopie, wo es nochmals einen ganzen Zacken rassistischer zu- und hergeht), dass sich die 4chan-Meute bei Bedarf einfach eine neue Plattform sucht. Feels bad, man.