von Nick Lüthi

Die Analyse ist der neue Kommentar: Meinungsformate bei SRF im Wandel

Als journalistisches Format hat der Kommentar bei SRF ausgedient. Was aber nicht heisst, dass damit auch der Meinungsjournalismus auf dem Rückgang wäre. Im Gegenteil. Die sogenannten Analysen sind die neuen Kommentare. – Eine Analyse.

Wie viel Meinung darf es sein? So einfach die Antwort für private Medien ausfällt – so viel Meinung, wie es das Gesetz zulässt –, so kompliziert sieht es für öffentlich finanzierte Medien aus. Ganz grob gilt: je weniger desto besser. Im Sinne einer Abgrenzung und Arbeitsteilung überlässt der Service public das Geschäft mit der Meinung den Privaten; Kommentare und andere Meinungsbeiträge gehören in die Zeitung.

Wobei der Kommentar auch eine lange Geschichte in den elektronischen Medien hat, insbesondere im Fernsehen. In Deutschland hält sich der meinungsbetonte Aufsager in die Kamera bis heute im Programm. Das Schweizer Fernsehen SRF macht das nicht mehr und im nationalen Nachrichtenprogramm von Schweizer Radio SRF hörte man zuletzt vor vier Jahren einen Kommentar. Selbst nach den letzten Eidgenössischen Wahlen und der Nicht-Wiederwahl von Donald Trump als US-Präsident, zwei Ereignisse, die nach Lehrbuch klar kommentarwürdig gewesen wären, verzichtete SRF auf Kommentare.

Das heisst aber nicht, dass kommentierende Beiträge aus dem publizistischen Angebot von SRF verschwunden wären. Im Gegenteil: Via Internet fanden meinungsbetonte Formate prominent zurück und feiern seither eine Renaissance. Nur heissen sie nicht mehr Kommentare, sondern Analysen.

Seit zwei Jahren gibt es auf der Website SRF News eine eigene Rubrik. Der Fachbegriff für solche Beiträge heisst News-Analyse oder Einordnungskommentar. Nach internen Schulungsunterlagen von Radio SRF sollte eine kompetente Journalistin oder ein kompetenter Journalist dem interessierten Publikum erklären, «weshalb es zu einem Ereignis gekommen ist, welches die Zusammenhänge sind, die da eine Rolle spielen, und worauf das alles hinausläuft, mit welchen Folgen allenfalls zu rechnen ist». Das Format entwickelte sich bei SRF aus dem Radiojournalismus heraus:

Ein Redaktor befragt eine Korrespondentin und sie erklärt und bewertet ein aktuelles Ereignis. Das ist quasi die Urform der News-Analyse.

Im Vordergrund einer News-Analyse stünden «Argumente, die dargelegt und gegeneinander abgewogen werden». Daraus dürften zwar «Schlüsse gezogen werden», aber es gehe «nicht um persönliche Meinungen oder Ansichten». So definieren die kürzlich runderneuerten publizistischen Leitlinien von Schweizer Radio und Fernsehen die News-Analyse.

Klar davon abgegrenzt wird der Kommentar. Der steht zwar weiterhin im Repertoire der möglichen und zulässigen journalistischen Darstellungsformen, sei aber der Würdigung der «grossen Themen von grundsätzlicher Bedeutung aus dem In- und Ausland vorbehalten». In einem Kommentar seien auch «pointierte oder gar provokative Überlegungen» zulässig, die der Haltung der Autorin oder des Autors entspringen. Nicht zulässig seien aber Aufrufe oder Forderungen. So weit die Theorie.

In der Praxis gleichen die Analysen von SRF immer wieder dem, was die Leitlinien als Kommentar definieren – oder sie gehen sogar darüber hinaus.

Was das heisst, zeigt ein aktuelles Beispiel: Wenn im Titel steht, «Credit Suisse sollte ihr Geschäftsmodell überdenken», dann kann man das als Aufruf oder Forderung verstehen, wie sie in Kommentaren eigentlich nicht vorkommen sollten.

Das ist kein Einzelfall. Immer wieder finden sich SRF-Analysen, die in einer Zeitung als Kommentar gekennzeichnet würden. Sei es, wenn SRF vom Bundesrat ein klareres Auftreten gegenüber der Diktatur in Belarus fordert mit appellativen Formeln wie: «Es wäre angebracht, klar zu kommunizieren» oder «sollte man sich nicht länger einen Autokraten schönreden». Oder wenn die Besetzung des Bundesplatzes durch Klima-Jugendliche als Protestaktion charakterisiert wird, welche die Politik aushalten müsse. Auch einem Systemwechsel bei den Bundesratswahlen das Wort zu reden, ist mehr Kommentar als Analyse.

Dass solche meinungsbetonten Analysen als Kommentare wahrgenommen werden, zeigt auch die Einordnung der SDA:

In ihren Presseschauen ordnet die Nachrichtenagentur die SRF-Analysen regelmässig als Kommentare ein.

Wenn die Analysen in den letzten Jahren zu einem wichtigen Standbein des Online-Angebots von SRF geworden sind, dann rührt das zum einen daher, dass sie vergleichsweise schnell zu erstellen sind, schneller als ein Radio- oder TV-Beitrag. Ausserdem brauchen sie, im Gegensatz zu einem Kommentar, nicht den Segen der Chefredaktion. Zum anderen kommt das Format beim Publikum gut an. So zählen die Analysen zu den am besten geklickten Rubriken auf SRF News.

Die vielen Klicks dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass SRF hier die eigenen Regeln sehr grosszügig ausgelegt. Ehrlicher wäre es darum, als Kommentar zu deklarieren, was wie ein Kommentar daherkommt. Das würde aber die Debatte über die Grenzen des Meinungsjournalismus bei SRF befeuern. Mit dem unverfänglichen Begriff der Analyse geschieht das nicht.