SRF dezimiert «Kontext»: die Zerstückelung des Service public
Mit seinem Programmabbau geht SRF inzwischen an die Substanz des Service public, aktuell beim «Kontext» von SRF 2 Kultur. Das einst führende Wortprogramm des Kultursenders reformiert SRF fast bis zur Unkenntlichkeit. Ein Podcast soll das jüngere Publikum erreichen, das SRF in den letzten neun Jahren mit dem Radioprogramm nicht gefunden hat.
Die Etikette bleibt, aber der Inhalt ändert sich. «Kontext» dauert künftig nur noch eine halbe Stunde. Und anstelle von fünf Radiosendungen pro Woche werden nur noch zwei Podcasts produziert. Heute steht im Sendungsbeschrieb: «‹Kontext› ist die tägliche Hintergrundsendung zu Themen der Kunst, der Kultur, zu Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft, Religion und Politik. Eine Stunde lang täglich setzt ‹Kontext› einen Akzent gegen die kurzatmige, schnell konsumierte Berichterstattung – hintergründig, mutig und überraschend.» Diesen Text wird die Redaktion in spätestens vier Wochen entfernen müssen, auch wenn der Name «Kontext» bleiben wird.
Künftig kommt «Kontext» als «Kulturpodcast von Radio SRF mit starken Protagonist:innen und scharfen Analysen» daher. Das steht im «Feinkonzept» für das neue Format, das der MEDIENWOCHE vorliegt. Damit will SRF mit weniger Ressourcen ein Zielpublikum unter 45 ansprechen, «welches primär auf den digitalen Audiokanälen zu finden ist.» Auf Anfrage der MEDIENWOCHE bestätigt Barbara Gysi, publizistische Leiterin Radio SRF 2 Kultur, die Umgestaltung des «Kontext» im Zuge des unternehmensweiten Sparprogramms.
Die inhaltliche Ausrichtung des neuen «Kontext» wirkt reichlich nebulös. In dem «Feinkonzept» ist von einem sehr breiten Kulturbegriff die Rede, «der nicht nur das von Menschen gemachte, sondern auch das menschliche Zusammenleben in all seinen Facetten einschliesst». Dieser zur Beliebigkeit tendierenden Offenheit steht eine starre Quote gegenüber. 50 Prozent der Protagonist:innen im Podcast müssen Kulturschaffende sein.
Die Verantwortlichen für die Programmentwicklung folgen zudem den bekannten dramaturgischen Mustern, wie sie etwa von der «Arena» oder anderen Diskussionssendungen bekannt sind:
Da ist viel von «Konflikten», «Bruchlinien» und «Spannungsfeldern» die Rede, die wohl eine publikumswirksame Dramaturgie erzeugen sollen.
Bisher war die Radiosendung «Kontext» bekannt für Rubriken wie «Künste im Gespräch» oder das «Sachbuch-Trio», deren Inhalt sich erst beim Reinhören wirklich entpuppt – Wundertüten im Programm. Oder elitäre Angebote wie die Stunde über Marcel Prousts anspruchsvollen Roman über «Die Suche nach der verlorenen Zeit», der wohl in einigen Bücherregalen ungelesen verstaubt (eine schöne Sendung übrigens). Es sind populäre Themen wie «Der Mensch ist, was er isst» oder das Tandem-Gespräch zwischen der lesbischen Pfarrerin Priscilla Schwendimann und dem Medienpionier und Manager Roger Schawinski. Und dann wieder Angebote für Minderheiten in der Kunst- und Kultur-Minderheit, wie: «Das Probespiel» über das Vorspielen bei der Bewerbung als Mitglied eines Orchesters oder die «Kunst des Übersetzens» von literarischen Werken.
Es sind tolerante Menschen, die Radio SRF 2 Kultur und dabei manchmal auch «Kontext» hören, nach dem Motto:
«Wenn es mir nicht gefällt, schalte ich eben wieder ab.»
Sie schalten dann auch mal wieder ein, sagt eine qualitative Studie, die SRF im April dieses Jahres durchgeführt hat. Aus den 20 befragten Personen kristallisierten sich zwei Typen heraus. Der eine sucht Kulturinhalte, die aber nicht allzu lang dauern sollten, und der andere – das ist die Mehrheit – schätzt klassische Musik.
Mit «schöner», eingängiger Musik erreicht SRF 2 Kultur am ehesten noch ein Publikum. Aber es gilt: Das Angebot in der gegenwärtigen Form hat keine Kraft mehr. Von 2009 bis 2019 sank der Marktanteil auf tiefem Niveau von 4.2 Prozent weiter auf 2.9 Prozent, wo er sich auch aktuell befindet. Das ist ein Zehntel des Werts von Radio SRF 1. Und die Hörerinnen und Hörer von SRF 2 Kultur «werden von Jahr zu Jahr älter und es kommen keine Jungen dazu. Über 75 Prozent der Nutzung ist auf Personen im Alter von 60+ zurückzuführen (46 Prozent auf über 70-Jährige).»
Diese Entwicklung muss für Nathalie Wappler, Direktorin von Schweizer Radio und Fernsehen, wie ein Déjà-vu wirken. Sie stand schon einmal vor der gleichen Situation, vor fast zehn Jahren als Abteilungsleiterin Kultur. Das damalige Führungsteam der SRG mit Generaldirektor Roger de Weck und den regionalen Direktoren Rudolf Matter in der Deutsch- und Gilles Marchand in der Westschweiz hatte sich entschlossen, Radio, Fernsehen und Online organisatorisch zusammenzuführen.
Und Nathalie Wappler ergriff als neue Abteilungsleiterin Kultur des konvergenten Schweizer Radio und Fernsehen die Initiative. Es war 2012 eine grosse Idee, mit dem Übergang von DRS 2 zu SRF 2 Kultur das Angebot zu einem multimedialen Gesamtpaket umzugestalten. Mehr als das:
Es war eine Revolution, oder zumindest ein «Befreiungsschlag», wie Wappler den damaligen Entwicklungsschritt nannte.
DRS 2 war bis dahin vor allem ein Klassik-Sender, am Vormittag vor allem mit einer langen Barockmusik-Strecke. Die zwei Stunden mehr oder minder konventioneller Interpretationen von Monteverdi bis Bach waren für ein begrenztes, meist älteres Publikum ein fester Treffpunkt. Wapplers Entwurf hatte da in mancher Hinsicht emanzipatorische Züge. Sie wollte einen breiteren, offeneren Kulturbegriff im Programmschaffen verankern. Sie hatte dazu die Führung drei Frauen übergeben, die mit einer Mischung aus bestehenden Formaten – «Diskothek», «Klangfenster», aber auch «Echo der Zeit» – und neuen Elementen wie dem «Easy Listening Jazz» und den Wort-Sendungen «Kontext» und «Reflexe» ein breiteres und auch jüngeres Publikum erreichen wollten. Dazu beitragen sollte auch ein jüngeres Musikprogramm fernab der Klassik, wie der Videoclip zeigt, mit dem SRF damals die neue Zielgruppe ansprechen wollte:
Das neue Konzept brachte zwar einen messbaren, aber auf Dauer doch begrenzten Zuwachs. Gleichzeitig verlor der Sender einen Teil seiner älteren Zuhörerschaft – und nicht den gewünschten Zuwachs bei den Jungen. Und es gab selbstverständlich Opposition im kulturkonservativen Milieu der Kulturredaktionen im früheren Basler Radiostudio auf dem Bruderholz, sowie teilweise scharfe Kritik von etablierten Kulturjournalisten ausserhalb der SRG.
Drei Jahre nach dem «Befreiungsschlag» musste Wappler bereits zurückbuchstabieren. Anfang 2015 integrierte sie die Wortsendung «Reflexe» in «Kontext», was auch schon später im gleichen Jahr legte sie die Abteilungen «Aktualität und Debatte» sowie «Musik» zusammen und wechselte die Programmleitung aus; grössere multimediale Entwicklungsschritte fanden nicht mehr statt. 2016 wurde Wappler dann als Programmdirektorin des Mitteldeutschen Rundfunks MDR gewählt. Im März 2019 übernahm sie schliesslich die Aufgabe als Direktorin von Schweizer Radio und Fernsehen SRF.
Das neue Konzept und die in der Abteilung Kultur vollzogene Konvergenz brachte nicht den gewünschten Erfolg und dem Radio keinen Auftrieb. Die Konvergenz hat eigentlich gar nie wirklich begonnen, wenn sie denn mehr sein soll als das gleichzeitige Nebeneinander von Radio, Fernsehen und Online unter einer gemeinsamen Führung. SRF 2 Kultur ist in dieser Phase gescheitert mit dem – viel zu kurzen – Versuch, multimedial so zu operieren, dass Fernsehen, Radio und Online ihre Leistungen gegenseitig verstärken konnten.
Man hat es unter anderem versäumt, einen neuen Personalmix zu schaffen. Es hätte für die grosse Umwälzung eine bessere Mischung der Generationen gebraucht, eine Mischung der Geschlechter, eine Mischung der Kulturen, eine Mischung der Bildungswege, und selbstverständlich eine Mischung der Medienprofis für Radio, Fernsehen und Online.
Es gab bei SRF offenbar zu wenig Kapazität und Kompetenz, um die multimediale Entwicklung entschlossen voranzutreiben. Radio blieb Radio, Fernsehen blieb Fernsehen und Online entwickelte sich daneben recht eigenständig.
Wenn man die «Kennzahlen, Erkenntnisse und Empfehlungen» der internen Markt- und Publikumsforschung vom April 2020 zur Kenntnis nimmt, kann man mit sehr kühler Sachlichkeit eigentlich nur feststellen:
SRF 2 hat als Kulturradio abgewirtschaftet. Eine Verjüngung des Publikums, wie sie sich die Verantwortlichen 2012 zum Ziel gesetzt hatte, fand nicht statt.
SRF 2 Kultur bleibt damit der Seniorensender, dem als Radio kein Entwicklungspotenzial mehr zugestanden wird. Schon heute gleicht das Programm bisweilen einer lieblos abgespulten Playlist. Wenn ein Beitrag zeitlich nicht aufgeht, läuft machmal über Minuten ein Jingle bis zum erreichen der Nachrichten. SRF will nur noch jene Sendezeiten aktiv bewirtschaften, die etwas bessere Beachtung finden beim Publikum. Randzeiten ab acht Uhr Abends und am Wochenende werden mit Konserven, respektive mit der Programmübernahme von Radio Swiss Classic, bespielt.
Dass «Kontext» in seiner bisherigen Form keinen Platz mehr hat, überrascht wenig. Folgt man den Forschungszahlen, ist die Kürzung der Sendung von einer Stunde auf 30 Minuten daher folgerichtig. Programmleiterin Barbara Gysi hält fest, dass «stündige Sendungen nicht mehr in den Tagesablauf der Hörerinnen und Hörer passen». Die Kürzung ist aber ein einschneidender Verlust an Substanz.
Es wird zwar weiterhin eine wochentägliche Radiosendung geben, die «Kontext» heisst. Allerdings wird nur noch für Dienstag und Freitag eine neue Folge produziert und die auch nicht als Radiosendung, sondern als Podcast, der dann ins lineare Programm zurückgespielt wird. An den übrigen Wochentagen übernimmt SRF 2 Kultur in der Rubrik «Kontext» Sendungen und Podcasts, die bereits für andere Kanäle und Plattformen produziert wurden.
Von den bisher 246 «Kontext»-Sendungen pro Jahr verbleiben damit gerade noch deren 104. Dafür hätten die Sendungsmacher:innen mehr Zeit als bisher, betont eine Verantwortliche, um eine der neuen Podcast-Folgen zu produzieren. Die werden auch weiterhin von den Redaktionen «Kultur und Gesellschaft», «Literatur», «Musik» und «Religion» produziert. Aus ihrer bisherigen «Lieferpflicht» entlassen wird dagegen die Wissenschaftsredaktion. Produzierte sie bisher pro Jahr 20 Sendungen, so will man sie künftig nur noch «gezielt als Expert:innen in den ‹Kontext› einbinden können»:
Damit folgt SRF dem Trend der privaten Medien und baut den Wissenschaftsjournalismus ab.
Dabei ist es nun gerade die (Natur)-Wissenschaft, einschliesslich der Medizin, die heute im Zentrum steht, und die auch in absehbarer Zukunft eine vielleicht umstrittene aber auch klärende Rolle spielen muss und wird. Nicht nur in Pandemien, Klima, Landwirtschaft, und Biodiversität, sondern auch in sozialen und individualpsychologischen Fragen. Der Verzicht auf eine kontinuierliche Berichterstattung aus und zu den Wissenschaften bedeutet eine substanzielle Schwächung des «Kontext» und des Angebots von SRF insgesamt. Und der Bedarf an einem Format, das die Grenzen der vertieften und hintergründigen Verständigung überwindet, bleibt bestehen.
Mit Blick auf den «Kontext»-Abbau bleibt das Bild, dass SRF sein Kulturradio in den Palliativmodus versetzt und unter Spardruck und ohne Gewissheit auf Erfolg mit einer Podcast-Strategie im digitalen Nebel stochert.
Update 18.7.: In der aktuellen Version wurde der Hinweis ergänzt, dass die Sendungsmacher:innen mehr Zeit haben als bisher, um eine Folge des «Kontext»-Podcasts zu erstellen.
Jürg-Peter Lienhard 26. August 2021, 16:12
Sehr gut präsentierte Kritik an der SRF-Leitung Kulturradio. Der «Kontext» war das eigentliche Flaggschiff der Sendung, zumal sie zwei Mal pro Tag ausgestrahlt wurde, so dass man sie zeitnah abends «fertighören» konnte, falls man arbeiten musste. Dann gab es immer ganz toll recherchierte und präsentierte Sendungen zu neuer Musik und neuen Komponisten, die fast eher einer Uni-Präsentation glichen, aber gerade darum den Blick auf das heutige Musikschaffen ermöglichten. Da hat die Radio-Direktion es verpasst, ein interessantes radiophones Gefäss zu entwickeln, das sich an die intelligentere, kulturaffinere und interessierfähigere Hörerschaft richtet – im Sinne eines (beispielsweise) Feuilletons in den Qualitätszeitungen. An ein Publikum, das keinen seichten Quatsch oder Hörerspiele wie auf SRF 1 hören will. Und sich dafür eines der besprochenen Bücher oder CDs kauft. Mir kommt diese Direktion vor, wie jemand, der gerne schwimmen wollte, aber sicherheitshalber doch noch mit einem Bein am Ufer stehenbleibt. Sie hat angst, die «heilige» Klassik zu vergraulen, schafft aber Riesen-Distanz zu den Publikums-Segmenten. Jeder Programmtag sollte wie das Blick-Plakätchen die Neugier der Hörer wecken: «Was hänn die denn hitt kaibs wieder im Programm…»
Christina Grischott 24. Dezember 2021, 01:37
Für Menschen wie mich, die gern Musik hören – gern Klassik, muss aber nicht das Einzige sein, Hauptsache gute Musik! -, die neben dem Echo der Zeit oder „International“ (ich hoffe, da wird nicht als nächstes gespart) aber auch andere gesprochene Hintergrunds-Sendungen hören wollen, um sich zu informieren, den Horizont zu erweitern, sich inspirieren zu lassen … und für die entspechend Sendungen wie 52 beste Bücher und auch ganz besonders meine absolute Lieblingssendung „Kontext“ den harten, schon fast zum Grundbedürfnis gewordenen Kern des Radioprogramms bilde(te)n, ist der aktuelle Abbau extrem traurig und frustrierend. Der Artikel bestätigt meinen Eindruck: SRF2 wird so langsam immer substanzloser und konventioneller. Sehr, sehr schade! Ich hoffe sehr, dass dieser Salamitaktik-Abbau nochmals überdacht wird. Es kann doch nicht stimmen, dass nur die über 60-70-Jährigen an Sendungen mit etwas Tiefe interessiert sind?! (Zu diesen gehöre ich jedenfalls nicht). Eine „qualitative Umfrage mit 20 Personen“ scheint mir für solche weitreichenden Ausrichtungs-Entscheidungen (wie die Aufhebung der regelmässigen Wissenschaftsredaktion bzw. Wissenschaftssendungen) auch ziemlich wenig tragfähig.
Ein Risiko scheint mir, dass durch diesen Abbau ein Teil der bisher treuen SRF-2-HörerInnen abtrünnig wird. In Deutschland z.B. gibts auch interessante Sendungen … Allerdings würde ich persönlich viel lieber weiterhin wissen, dass ich mit SRF2 gut bedient bin.
Ana Bless 04. September 2022, 17:59
Auf den Pukt gebracht! Genau so ist es…Danke!!