von Benjamin von Wyl

Vermischung von Bericht und Kommentar als Entlassungsgrund?

Weiterhin bleibt unklar, warum Tamedia einen Reporter des «Tages-Anzeigers» entlassen hat. Auch ein Schreiben der Chefredaktion als Reaktion auf den internen Protest liefert keine plausiblen Erklärungen.

Am vergangenen Dienstag wehrten sich grosse Teile der «Tages-Anzeiger»-Redaktion mit einem Protestschreiben an die Chefredaktion gegen die Entlassung eines Kollegen. Ende Januar veröffentlichte der junge Reporter das Porträt einer Stadtzürcher FDP-Politikerin, das sexistische und vor allem antisemitische Stereotypen enthielt. Nach Kritik der Porträtierten und empörten Reaktionen haben der Autor und die Chefredaktion öffentlich um Entschuldigung gebeten.

Das antisemitische Porträt sei bloss Anlass für die Entlassung und nicht die Ursache gewesen.

Doch nun, da die schweizweite Medienabstimmung und die Stadtzürcher Wahlen vorbei sind, hat man den Reporter trotzdem entlassen. Warum? Darüber herrscht bis heute keine Klarheit. Das antisemitische Porträt, das neben dem Autor auch vier weitere Mitglieder der Tagi-Redaktion gelesen und zur Publikation freigegeben haben, sei bloss Anlass für die Entlassung und nicht die Ursache gewesen: Vielmehr habe sich der Entlassene mit einem anderen Artikel beim Verleger persönlich unbeliebt gemacht, schrieb die «Republik». Der Verleger habe sich empört gezeigt über eine Recherche zur «Baugarten-Stiftung», einer reichen Institution, die in Zürich viel Hochkultur unterstützt. Falls das zutrifft, wäre nicht nur der Vorgang, dass der Verleger einen Journalisten entlässt, bemerkenswert. Sondern auch, dass nur der Lokalreporter gehen muss – und nicht auch seine Vorgesetzten, die genauso, ja sogar noch stärker, die Verantwortung dafür tragen, was veröffentlicht wird und was nicht.

Offiziell hörten alle Medien, die nach den Gründen für die Entlassung fragten, von Co-Chefredaktor Mario Stäuble und Superchefredaktor Arthur Rutishauser am 16. Februar, dass es «wiederholt unterschiedliche Auffassungen über Qualität im Journalismus» gegeben habe. Und weiter: «Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu Personalfragen nicht weiter äussern können. Die Qualität unseres Journalismus ist für Tamedia von höchster Priorität. Die Grundlagen dazu sind im Handbuch ‹Qualität in den Medien› festgehalten und den Redaktionsmitgliedern über alle Stufen hinweg bestens bekannt. Wir werden die jüngsten Ereignisse zum Anlass nehmen, unsere internen Kontrollmechanismen weiter zu verbessern und die Kultur des Gegenlesens zu stärken, insbesondere im Hinblick auf sensible Sachthemen.» Der Entlassene, der in seiner kurzen Karriere bereits mehr Preise gewonnen hat als Chef Stäuble und ähnlich viele wie Superchef Rutishauser, soll schlampig arbeiten?

Die Chefs geloben, dass man vorhabe, antisemitische Denkmuster kritisch zu reflektieren und zu überwinden.

Was es genau auf sich hat mit der «unterschiedlichen Auffassungen über Qualität im Journalismus» ist inzwischen ein bisschen klarer geworden. Und es zeigt sich, dass der Artikel über die Baugarten-Stiftung tatsächlich eine Rolle spielt. Der MEDIENWOCHE liegt die Antwort von Stäuble und Rutishauser vor, mit der sie auf das Protestschreiben der «Tages-Anzeiger»-Redaktion reagieren. Die Chefs geloben, dass man vorhabe, antisemitische Denkmuster kritisch zu reflektieren und zu überwinden. Zum missratenen Porträt der Stadtzürcher Politikerin schreiben sie, es gehe «nebst gleich mehreren unbeabsichtigten antisemitischen Klischees auch um journalistisches Handwerk». «Mehrere Redaktoren» hätten den Text vor der Publikation gelesen, «ohne die Notbremse zu ziehen».

Aber ins Detail gehen sie zum Artikel über die «Baugarten-Stiftung». Die Stiftung sei als Thema für die Berichterstattung «interessant und relevant». Die Recherche dazu halte «in grossen Teilen unseren Ansprüchen stand». Doch anscheinend passt den Chefs der Ton nicht, den der nun entlassene Journalist angeschlagen hat. Der sei polemisch. Als Beleg nennen sie die Bezeichnung der Stiftung als «Perpetuum Mobile, das den Spass des Zürcher Bürgertums finanziert». Wobei diese Formulierung im Original mit einem Fragezeichen versehen ist. Der Autor fragt sich, ob man die Stiftung so bezeichnen dürfe.

Derselbe Mario Stäuble, der heute den Artikel für unvollständig hält, hatte ihn einst abgesegnet und für publikationsreif befunden.

Solche Polemik verletze die Trennung von «Sachberichterstattung» und Kommentar. Der Text hätte in der am 24. November 2021 publizierten Form nicht erscheinen dürfen, befinden Rutishauser und Stäuble. «Man hätte die fraglichen Stellen überarbeiten und die Recherche vervollständigen müssen – zum Beispiel mit einer Experten-Einschätzung zur Frage, welche Standards sich solche Stiftungen auferlegen, und ob die Baugarten diese erfüllt.» Doch derselbe Mario Stäuble, der heute den Artikel für unvollständig hält, hatte ihn einst abgesegnet und für publikationsreif befunden.

Unterstützen Sie unabhängigen und kritischen Medienjournalismus. Werden Sie jetzt Gönner/in.

Journalismus braucht Herzblut, Zeit – und Geld. Mit einem Gönner-Abo helfen Sie, unseren unabhängigen Medienjournalismus nachhaltig zu finanzieren. Ihr Beitrag fliesst ausschliesslich in die redaktionelle und journalistische Arbeit der MEDIENWOCHE.

[rml_read_more]

Stäuble schreibt über sich in der dritten Person: «Er trägt damit die Verantwortung dafür, dass der Text so publiziert worden ist. Zu diesem Fehler steht er.» Entlassen wurde aber der Reporter und nicht der Chef, der die finale Verantwortung trägt. Hingegen habe der nun Entlassene in mehreren Gesprächen antraben müssen, auch bei Res Strehle «als Verantwortlicher für Qualitätssicherung.»

Dass die Formulierung «Spass fürs Zürcher Bürgertum» niemanden in seiner Ehre verletzt, wissen die Chefredaktoren.

Der Text über die «Baugarten»-Stiftung enthielt in der Oberzeile das wertende Adjektiv «Geheimnisvoll» und ein Zwischentitel enthielt die rhetorische Frage «Klüngel?». Darüber hinaus bündelt der Artikel des Entlassenen eine Unmenge an Fakten über eine Stiftung, die vielen Leser:innen bisher unbekannt war.

Tamedia-Qualitätsbeauftragter Res Strehle, der auch schon spitz formuliert hat, Superchefredaktor Arthur Rutishauser, der 2021 die antisemitische «Brunnenvergifter»-Metapher verwendete und Chefredaktor Mario Stäuble, der den «Baugarten»-Artikel gelesen hat, wissen allesamt, dass Fakten aufbereitet und in eine lesenswerte Form gebracht werden müssen. Dass die Formulierung «Spass fürs Zürcher Bürgertum» niemanden in seiner Ehre verletzt, wissen sie auch. Schön, können sie die Verantwortung nach unten weiterreichen. Das Schreiben von Stäuble und Rutishauser endet «Mit kollegialen Grüssen».

P.S. Die MEDIENWOCHE hofft, dass die Leser:innen wertende Passagen von der Sachberichterstattung unterscheiden können.