von Marko Ković

Auch die Propaganda der «Guten» ist Propaganda

Putins Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Informationskrieg, in dem sowohl Russland als auch die Ukraine mit Propaganda arbeiten. Die ukrainische Propaganda entwickelte sich zu einem wichtigen Element der legitimen Selbstverteidigung gegen einen völkerrechtswidrigen Angriff. Aber auch zur Propaganda der «Guten» muss man kritische Distanz wahren.

Das moralische Gefälle im Krieg in der Ukraine ist eindeutig: Die Putin-Regierung hat einen unprovozierten, auf Lügen und Desinformation aufgebauten Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet. Sympathien und Solidarität aus Zivilgesellschaft, Politik und Medien demokratischer Länder liegen entsprechend deutlich und mit guten Gründen bei den angegriffenen Ukrainer*innen.

Der wohl sichtbarste Ort, an dem diese moralische Unterstützung für die Ukrainer*innen bekundet wird, sind Social-Media-Plattformen. Über Twitter erreichen uns im Sekundentakt Bilder, Videos und Informationen direkt aus dem Kriegsgebiet, und das Liken, Teilen und Kommentieren der Botschaften demonstriert, dass wir in Gedanken bei den Opfern des russischen Angriffskrieges sind.

Doch der Krieg in der Ukraine ist auch ein Informationskrieg, der nicht zuletzt auf Social Media stattfindet. Die russische Regierung streut wie gewohnt Desinformation nach dem «Feuerwehrschlauch-Modell» (möglichst viel über möglichst viele Kanäle), aber auch die ukrainische Regierung verbreitet aktiv Propaganda. Viele pro-ukrainische Botschaften auf Social Media stammen direkt oder indirekt von der ukrainischen Regierung und beinhalten keine verifizierten Fakten oder objektiven Lagebeurteilungen, sondern in erster Linie emotionale Botschaften und Anekdoten, die die pro-ukrainische und anti-russische Stimmung anheizen sollen. Diese Konstellation bedeutet ein ethisches Dilemma: Wie ist die Propaganda eines Staates zu beurteilen, der das klare Opfer eines illegalen Angriffskrieges wurde? Heiligt der Zweck die Mittel, oder ist Propaganda unabhängig vom Kontext eine ethische rote Linie, die nicht überschritten werden darf?

Im Zuge des Krieges wurde der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski weltberühmt,nicht zuletzt dank seiner stetigen Kommunikation via Social Media.

Der Militärhistoriker Peter W. Singer veröffentlichte auf Twitter eine vorläufige Analyse der ukrainischen Propaganda und der Gründe, warum diese beim westlichen Publikum gut ankommt. Ein zentraler Faktor ist gemäss Singer die authentisch und nahbar wirkende Art der ukrainischen Propaganda. Im Zuge des Krieges wurde der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski weltberühmt, und zwar nicht zuletzt dank seiner stetigen Kommunikation via Social Media. In den Videobotschaften zeigt er sich als mutiger Leader in Kampfmontur, der gemeinsam mit seinen Streitkräften gegen die russische Invasion kämpft – ein Held aus der Mitte der Bevölkerung.

Selenski gibt sich aber gleichzeitig auch staatsmännisch, wenn er an die Weltgemeinschaft appelliert und diese um Unterstützung bittet im Kampf seines Landes gegen den übermächtigen Aggressor. Die Selbstdarstellung des ukrainischen Präsidenten wird von anderen Social-Media-Usern gerne mit Bildern von Wladimir Putin kontrastiert, der scheinbar abgekoppelt von der Realität im fernen Moskau im Anzug am Schreibtisch sitzt.

Ein Twitter-Post, der ein Propaganda-Foto von Selenski und dem ukrainischen Verteidigungsminister Oleksii Reznikov mit einem Propaganda-Foto von Putin und seinen Verteidigungsberatern kontrastiert.

Ein zweites Propaganda-Motiv, das die ukrainische Regierung erfolgreich einsetzt, ist die Verspottung der russischen Streitkräfte. Die russische Armee und damit der gesamte Angriffskrieg Russlands werden mit sarkastischen Bildern und Botschaften kommentiert, um zu signalisieren, dass das ukrainische Volk sich vor den russischen Invasoren nicht fürchtet.

Twitter-Post des ukrainischen Verteidigungsministeriums, in dem diverse zerstörte russische Militärfahrzeuge in einem sarkastischen Video gezeigt werden, mit der Bitte, den Beitrag «maximal» zu teilen.

Auch wurden von ukrainischer Seite mehrere Bilder und Videos teilweise schwer verletzter russischer Kriegsgefangener geteilt, die zeigen sollen, wie schwächlich und unmotiviert die russischen Streitkräfte seien. Eine extreme Spott-Nachricht mit rassistischer Komponente veröffentlichte die ukrainische Nationalgarde auf ihrem offiziellen Twitter-Account. Gegenstand der Verhöhnung sind tschetschenische Kämpfer und der tschetschenische Lokaldiktator Ramsan Kadyrow. Das Video zeigt, wie ein Soldat seine Patronen in Schweineschmalz einschmiert (der Islam ist die dominante Religion in Tschetschenien). Das Video stammt aus den Reihen des Regiments Asow der Nationalgarde. In dieser paramilitärischen Einheit organisieren sich vornehmlich Rechtsextreme und Neonazis. Auf Twitter ist das Video weiterhin sichtbar, allerdings mit einem Warnhinweis versehen und ohne Interaktionsmöglichkeiten.

Twitter-Post der ukrainischen Nationalgarde, in dem muslimische Kämpfer der russischen Streitkräfte verhöhnt werden.

Ein drittes erfolgreiches Motiv in der ukrainischen Propaganda-Strategie ist die Inszenierung der zivilen Bevölkerung als Teil des Widerstands gegen die russische Invasion. Viral gegangen ist etwa ein Video, in dem eine ukrainische Frau russischen Soldaten Sonnenblumenkerne anbietet – damit Sonnenblumen wachsen, nachdem sie tot sind. Auch kursieren diverse Bilder und Videos, in denen sich Ukrainer*innen russischen Panzern und anderen Militärfahrzeugen in den Weg stellen und ihnen das Weiterkommen verunmöglichen oder zumindest erschweren.

Video der ukrainischen Frau, die russischen Soldaten Sonnenblumenkerne anbietet.

Die ukrainische Propaganda bedient formal und inhaltlich die Logiken von Social Media sehr gut: Authentisch wirkender Content, viel Bild- und Videomaterial und die klare Botschaft der moralischen Überlegenheit des Opfers eines illegitimen Angriffskrieges. Es verwundert daher nicht, dass die ukrainische Regierung auf diese Weise kommuniziert. Natürlich ist es legitim, dass sich ein Land nicht nur militärisch gegen einen Angriff wehrt, sondern auch mittels öffentlicher Kommunikation. Doch Propaganda bleibt auch dann manipulativ und irreführend, wenn sie zu Selbstverteidigungszwecken von der moralisch überlegenen Kriegspartei eingesetzt wird. Denn sie verstärkt und nutzt moralisch legitime Gefühle der Solidarität und Sympathie aus.

Bei ukrainischen Medien ist es nachvollziehbar, dass sich die Grenze zwischen Journalismus und Propaganda bisweilen verwischt.

Die heikle Propaganda-Konstellation im Krieg in der Ukraine ist für die journalistische Berichterstattung von besonderer Bedeutung. Im Nebel des Krieges ist es grundsätzlich schwierig, das Geschehen halbwegs sachlich und vollständig zu verstehen und abzubilden. Journalist*innen können deshalb nicht umhin, sich auch mit der Propaganda auseinanderzusetzen. Angesichts der moralischen Ausgangslage und der klar verteilten Sympathien, denen sich auch Journalist*innen als Menschen nicht entziehen können, besteht aber die Gefahr, dass die Propaganda in ihre journalistische Arbeit einfliesst.

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Bei ukrainischen Medien ist es nachvollziehbar, dass sich die Grenze zwischen Journalismus und Propaganda bisweilen verwischt. Rein menschlich ist es verständlich, dass ukrainische Journalist*innen als direkt Betroffene ihre Gefühle und ihren Wunsch, die Moral hochzuhalten, nicht immer sauber von ihrer journalistischen Arbeit trennen können.

Ein Propaganda-Tweet der englischsprachigen Zeitung «Kyiv Post».

Problematischer ist es, wenn sich Propaganda, so gut sie auch gemeint sein mag, in der Berichterstattung ausserhalb der Ukraine niederschlägt. Ein Beispiel hierfür ist der Artikel «Selenski – der gejagte Held», der am 28. Februar 2022 bei «SRF» erschien. Das Portrait des ukrainischen Präsidenten Selenski ist voll des überschwänglichen Lobes: «Auch wenn Selenskis Umfragewerte zwischenzeitlich einen Dämpfer erlitten haben: Seiner Entschiedenheit, für die Ukraine einzustehen, tut dies keinen Abbruch.» Oder: «Während sich Putin im Kreml einigelt, schwört Selenski sein Volk auf offener Strasse auf den Widerstand ein.» Und: «Doch einknicken? Das kommt für den ukrainischen Präsidenten nicht infrage.»

Dass Selenski in den Zeiten vor der russischen Invasion für seine eher nonchalante Haltung zu Korruption heftig in der Kritik stand, oder dass sich Selenski noch im Januar trotz aller Indizien über die Möglichkeit einer russischen Invasion lustig machte, erfährt man im Artikel von «SRF» nicht. Stattdessen wird ein einseitiges Bild eines Saubermanns gezeichnet, der in der Krise zum heldenhaften Staatsmann wurde.

Journalist*innen müssen auch in unübersichtlichen Krisensituationen genug kritische Distanz wahren, um manipulative Botschaften und Deutungsmuster als solche zu erkennen.

Propaganda-Erzählungen dürfen nicht in die journalistische Arbeit einfliessen. Das bedeutet aber nicht, dass Journalismus und Journalist*innen «neutral» sein müssen. Die völkerrechtliche und moralische Ausgangslage beim Krieg in der Ukraine ist klar, und es wäre absurd, zu verlangen, dass Journalist*innen diesbezüglich keine Haltung zeigen dürfen. Wenn ein Journalist beispielsweise sein Social Media-Profil mit den Farben der ukrainischen Flagge schmückt, ist das nicht verwerflich. Aber Journalist*innen müssen auch in unübersichtlichen Krisensituationen genug kritische Distanz wahren, um manipulative Botschaften und Deutungsmuster als solche zu erkennen, anstatt sie latent in ihrer Berichterstattung zu reproduzieren.

Aus einer ethischen Perspektive der Selbstverteidigung lässt sich die Propaganda-Strategie der ukrainischen Regierung als akzeptabel interpretieren, weil ein unilateraler Verzicht auf Propaganda einer Informations-Kapitulation gleichkäme. Aber auch wenn wir einem in einem Krieg angegriffenen Staat Propaganda als legitimes Mittel der Selbstverteidigung zugestehen, darf sich Journalismus davon nicht beeinflussen lassen. Denn Propaganda ist das Gegenteil von Journalismus. Journalismus ist ein Projekt der rationalen Suche nach dem Wahren und dem Richtigen. Propaganda hingegen ist die Sabotage dieses Projektes: Der Versuch, nicht durch Fakten und Argumente, sondern durch Verzerrung und Manipulation zu überzeugen. Das gilt auch dann, wenn es sich um Propaganda jener handelt, die moralisch auf der «richtigen» Seite der Geschichte stehen.

Leserbeiträge

Mario Aldrovandi 03. März 2022, 20:25

Marko Ković facebook.com/mkovic («Ich versuche, über Wichtiges nachzudenken») versucht wirklich nachzudenken und schreibt ab und zu, was ihm so durch den Kopf geht. Heute ist ein derartiger Text auf https://www.medienwoche.ch erschienen, den zu lesen sich lohnt. Seine These «Auch die Propaganda der «Guten» ist Propaganda».

Er fragt sich, wie die «Propaganda eines Staates» zu beurteilen sei, der zu Unrecht angegriffen werde. Befasst sich aber nur im ersten Teil des Texte damit. Dort schreibt Kovic solche bemerkenswerte Sätze wie: «Selenski gibt sich aber gleichzeitig auch staatsmännisch.» Er meint damit den ukrainischen Präsidenten, der nach Meinung Ković nur so tut, als sei er Staatsmännisch. Diese Darstellung, so Kovic, sei ein «Propaganda-Motiv, das die ukrainische Regierung erfolgreich einsetzt.»

Im zweiten Teil seines Artikels verweist Ković auf sogenannte Spott-Videos und hier speziell auf eines «aus den Reihen des Regiments Asow der Nationalgarde. In dieser paramilitärischen Einheit organisieren sich vornehmlich Rechtsextreme und Neonazis.» So allein gestellt, könnte man meinen, dass Neonazis – gegen die ja Putin angeblich vorgehen will – seien eine wichtige Kraft in der Ukraine. Erstens gibt es im ukrainischen Widerstand viele Menschen und viele politischen Ansichten. Zweitens wäre es korrekt, darauf hinzuweisen, dass die rechtsradikalen Kräfte in der Ukraine, insbesondere aus dem Umfeld der Svoboda Bewegung, bei den letzten Wahlen eine vernichtende Niederlage kassiert haben (2014 erhielten die Neonazis 1,4% der Wahlstimmen und 2019: 2,3%).

Im dritten Teil des Textes haut Kovic dann auf SRF ein und nimmt als Beispiel dafür ein Porträt Selenskis vom 28. Februar, welches «voll des überschwänglichen Lobes» gewesen sei. Er zitiert als offenbar unzulässige Propaganda-Satz: «Doch einknicken? Das kommt für den ukrainischen Präsidenten nicht infrage.»

Kovic ist kein Journalist, sondern ein Denker. Journalistische Kategorien sind ihm deshalb fremd. Und der Begriff der «Haltung» erschöpft sich beim mit dem Zugeständnis: «Wenn ein Journalist beispielsweise sein Social Media-Profil mit den Farben der ukrainischen Flagge schmückt, ist das nicht verwerflich.» Super, wenigstens «verwerflich» ist es nicht.

Nun, Marko Ković bietet interessante Gedankenansätze und sicher Diskussionsstoff. Zu seiner Horizonterweiterung empfehle ich die Texte der Journalisten Erwin Egon Kisch, Kurt Tucholsky oder die Bilder von Robert Capa. Das waren Reporter und Journalisten, die sich nicht damit begnügt haben, ein Fähnchen neben ihr Foto zu stellen.

Jürg-Peter Lienhard 03. März 2022, 21:32

Ich denke ziemlich genau so. Andererseits ist es aber auch schwer, gewisse «live»-Bilder der Propaganda zuzurechnen oder sie als engagiert-mutiger Protest zu erkennen (wie die Frau mit den Sonnenblumen-Kernen). 2014 habe ich auf Youtube schreckliche Videos gesehen, von denen ich nicht mal weiss, wer wer war, zumal ich die Sprache nicht erkennen konnte. Aber die Bilder zeigten eine diabolisch-perverse Behandlung von Kriegsgefangenen. Die Szenen gehen mir nicht mehr aus dem Kopf seither. Wer Kriegsgefangener bei den Russen oder bei den Ukrainern wird, kann sich nicht auf ein Rotkreuz-Abkommen berufen, sondern wird gequält. So gesehen in diesen Videos…

Jürg-Peter Lienhard 03. März 2022, 21:42

Natürlich müssen wir immer skeptisch und immer aufmerksam zwischen den Zeilen lesen und gucken… Klar – der Putin ist ein Kriegstreiber, als Geheimdienstmann eben mit allen üblen Wassern gewaschen und persönlich gekränkt, weil sein Reich dahingeschmolzen ist. Aber: es ist das ewig gleiche russische Drama, das stets so in der Geschichte bis weit ins Zarenreich hinein dasselbe ist. Siehe und lese die Beilage über dieses klassische und sich stets wiederholende Drama, in dem es um Macht und Verrat geht, bei dem die Orthodoxie kräftig mitmischt. Die in eine Oper gesetzte Metapher von Mussorgski, und vervollständigt von Rimski-Korsakow/Schostakowitsch/Strawinsky, steht für ein zeitloses Drama, wie es sich jetzt wieder realiter vor aller Augen abspielt: https://webjournal.ch/archive/webjournal.ch/article.php%3Farticle_id=1384.html

Gisbert Kuhn 04. März 2022, 13:33

Ein sehr gut recherchierter und begründeter Artikel, der nur daran leidet, dass er durch die unsäglichen Gender-Sternchen sprachlich verunziert wired.