Eins auf die Finger fürs Abschreiben
Erstmals hat ein Schweizer Gericht einen paraphrasierten Artikel als Urheberrechtsverletzung taxiert. Ringier musste einen Text löschen, den «Blick.ch» einer freien Journalistin abgeschrieben hatte. An der weit verbreiteten Abschreiberei dürfte das Urteil aber vorerst wenig ändern.
Schneller und billiger kommen Redaktionen nicht zu attraktivem Content: Man sucht bei der Konkurrenz nach spannenden Artikeln, fasst sie zusammen und gibt sie als Eigenleistung aus. Solches Ab- und Zusammenschreiben fremder Inhalte zählt insbesondere bei werbefinanzierten Online-Medien zum bewährten Repertoire. Ob «Blick.ch», «20 Minuten» oder «Nau.ch» – sie alle schreiben mehr oder weniger systematisch ab; voneinander, aber auch von allen möglichen anderen einheimischen und internationalen Medien.
Die Redaktionen stellen sich dabei auf den Standpunkt, die Textübernahme sei durch das Zitatrecht gedeckt. Und weil bisher niemand erfolgreich juristisch dagegen vorgegangen war, gab es auch keinen Grund, von der zweifelhaften Praxis abzurücken. Ausserdem hält sich in Fachkreisen die Meinung, dass diese Form des Abschreibens zwar unschön, aber urheberrechtlich einwandfrei sei.
Seit dem vergangenen 25. Januar sieht das anders aus. Das Handelsgericht Zürich qualifizierte in einem Urteil einen Artikel als Urheberrechtsverletzung, den «Blick.ch» von der Fachzeitung «htr hotel revue» abgeschrieben hatte. Eine Premiere. Noch nie zuvor hatte ein Schweizer Gericht eine journalistische Paraphrase sanktioniert.
Geklagt hatte Natalia Godglück. Die freie Journalistin hatte in der «htr Hotelrevue» vom 11. März 2021 eine umfassende Recherche zu den Auswirkungen von Corona auf die Schweizer Hotellerie veröffentlicht. «500 Hotels suchen Käufer», stand über dem Aufmachertext auf der Titelseite. Im Blattinneren folgte eine breite Auslegeordnung auf einer ganzen Zeitungsseite.
Für die erfahrene Journalistin war klar: So geht das nicht. Schliesslich lebt sie auch davon, dass sie ihre Artikel weiterverkaufen kann.
Das Thema interessierte offensichtlich auch «Blick.ch». «Nachdem ich meine Recherche auf Facebook angekündigt hatte, wie ich das immer mache», erinnert sich Natalia Godglück, «meldeten sich Freunde bei mir, sie hätten meinen Text bereits auf ‹Blick.ch› gelesen.» Zuerst habe sie gedacht, das sei ein Witz. Schliesslich hatte sie ihre Recherche nur der «htr hotel revue» verkauft. Als sie dann selbst «Blick.ch» aufsuchte, staunte sie nicht schlecht. Sie fand tatsächlich eine Zusammenfassung ihrer Recherche, mit teils identischen Sätzen. Unter dem Artikel stand das Kürzel eines «Blick»-Journalisten.
Für die erfahrene Journalistin war klar: So geht das nicht. Schliesslich lebt sie auch davon, dass sie ihre Artikel nach der Erstpublikation weiterverkaufen kann. Wenn aber «Blick.ch» mit seiner grossen Reichweite ihren Artikel abschreibt, wird kein anderer Verlag mehr für eine Zweitverwertung des Originals zahlen wollen.
Ringier dachte nicht im Geringsten daran, auf die Forderung einzugehen. Eine Verletzung des Urheberrechts sei ausgeschlossen.
Zuerst meldete sie sich telefonisch beim Redaktor, der ihren Artikel paraphrasiert hatte, und erkundigte sich nach einer Entschädigung. Der zeigte kein Verständnis für ihre Forderung. «Er fand vielmehr, das sei doch gute Werbung für die ‹hotel revue›», erinnert sich Godglück. Selbst wenn das zuträfe, brächte ihr diese Werbung keinen zusätzlichen Rappen aufs Konto.
Da Telefonieren nichts brachte – die «Blick»-Online-Chefin kriegte sie gar nicht erst an den Apparat –, entschloss sich die Journalistin, die unerlaubte Übernahme ihres Artikels in Rechnung zu stellen. Als geforderten Schadenersatz setzte sie den doppelten Betrag des Honorars ein, den ihr die «htr hotel revue» gezahlt hatte; 2800 Franken und die Sache wäre erledigt gewesen. Doch Ringier dachte nicht im Geringsten daran, auf die Forderung einzugehen. In einem dürren Antwortschreiben beschied ihr ein «Head Operations» der «Blick»-Gruppe, allein aufgrund des geringeren Umfangs des abgeschriebenen Artikels sei eine Verletzung des Urheberrechts der Autorin ausgeschlossen.
«Wir strebten auch darum ein Urteil an, weil es bisher nichts Vergleichbares in der Schweiz gab.»
Rechtsanwalt Christoph Gasser
Das liess Natalia Godglück nicht auf sich sitzen und doppelte nach. Unterstützung holte sie sich bei Christoph Gasser, einem der versiertesten Anwälte für Fragen des Urheber- und übrigen Immaterialgüterrechts in der Schweiz. Gasser wiederholte die Forderung, blieb aber damit ebenso erfolglos wie seine Mandantin zuvor. Deshalb reichte er beim Handelsgericht Zürich am 18. Mai 2021 Klage gegen Ringier ein und forderte den Verlag insbesondere auf, die urheberrechtswidrige Zusammenfassung des Artikels auf «Blick.ch» zu entfernen.
Mit der Klage seiner Mandantin betrat Rechtsanwalt Christoph Gasser Neuland. «Wir strebten auch darum ein Urteil an, weil es bisher nichts Vergleichbares in der Schweiz gab», sagt Gasser im Gespräch mit der MEDIENWOCHE. Zur Hauptverhandlung vom 25. Januar kam es schliesslich, nachdem eine Vergleichsverhandlung ohne Ergebnis geblieben war.
Im Zentrum der Hauptverhandlung stand die Frage, ob «Blick.ch», respektive Ringier als Verlag, mit seinem Verhalten das Urheberrecht der Autorin an ihren Text verletzt hatte, wie das die Klägerin und ihr Anwalt monierten. Die Gegenseite, vor Gericht vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Schwaibold, hielt derweil dezidiert dagegen, der «Blick.ch»-Artikel sei «weder eine Änderung noch eine Bearbeitung» des Artikels der Klägerin. Folglich liege auch keine Urheberrechtsverletzung vor.
Mit ihrer Arbeit schuf die Autorin ein individuelles Werk, das Urheberrechtsschutz geniesst.
In einem ersten Schritt prüfte das Gericht, ob der Artikel von Natalia Godglück überhaupt Urheberrechtsschutz geniesst. Wäre dies nämlich nicht der Fall, könnte gar keine Urheberrechtsverletzung vorliegen. Eine Nachricht, etwa in Form einer kurzen Agenturmeldung, ist urheberrechtlich nicht geschützt. Eine aufwändige Recherche zum Zustand der Schweizer Hotellerie nach einem Jahr Pandemie hingegen schon. Mit ihrer Arbeit schuf die Autorin ein individuelles Werk, dem folglich Urheberrechtsschutz zukommt, was auch das Gericht so sah.
In einem zweiten Schritt verglich das Gericht die beiden Texte Aussage für Aussage, Satz für Satz. Dabei zeigte sich, dass der «Blick»-Journalist 15 Sätze aus dem Text von Natalia Godglück in der «htr hotel revue» entweder paraphrasiert, also sinngleich oder sinnähnlich umformuliert, oder gar wortwörtlich übernommen hatte. Für das Gericht ergab sich daraus, dass es sich beim «Blick.ch»-Artikel um «keine eigenständige Neugestaltung» handelt. Eine solche Neugestaltung wäre dann zulässig, wenn der Artikel, der abgeschrieben wurde, im neuen Text nicht mehr erkennbar sei, also quasi «verblasse». Das war hier aber klar nicht der Fall.
Das Gericht gelangte zum Fazit, die Paraphrase von «Blick.ch» stelle eine Urheberrechtsverletzung dar.
Als erlaubtes Zitat geht die Paraphrase auch nicht durch. Dazu hielt das Gericht fest, ein Zitat dürfe nie «eine blosse Rechtfertigung dafür» sein, «dass ein Text oder Textteile einfach übernommen werden». Genauso handelte aber der «Blick.ch»-Journalist. Er nannte zwar die «htr hotel revue» als Quelle in seinem Zusammenschrieb. Damit liess er aber die Lesenden im Unklaren, dass er nicht nur die als Zitat ausgewiesenen Stellen aus einem anderen Artikel übernommen hatte, sondern mehr oder weniger den ganzen Text. Zudem wurde die Urheberin des Textes, also Natalia Godglück, bei «Blick.ch» gar nicht erst genannt.
So gelangte das Gericht zum Fazit, die Paraphrase von «Blick.ch» stelle eine Urheberrechtsverletzung dar. Damit liegt nun erstmals ein rechtskräftiges Urteil vor, das einen paraphrasierten Artikel als Urheberrechtsverletzung taxiert.
Mit drei zu zwei Stimmen fiel der Entscheid allerdings knapp aus. Die beiden unterlegenen Richter:innen erkannten im Abschrieb durchaus eigenständige Züge sowohl bei Aufbau, Inhalt, Sprache als auch dem Informationsgehalt. Die Übereinstimmung zwischen den beiden Artikeln erschöpfe sich «in gebräuchlichen Formulierungen und Aussagen», die den neuen Text nicht prägten. Mit dieser Meinung blieben sie zwar am Gericht in der Minderheit. In der Rechtswissenschaft gibt es aber prominente Exponenten, die sich auf den Standpunkt stellen, dass es sich bei einer Paraphrase nicht um eine Urheberrechtsverletzung handeln könne.
Trotz des knappen Entscheids des Gerichts wollte Ringier das Urteil nicht bis vor Bundesgericht weiterziehen.
Sehr deutlich tut dies etwa Florent Thouvenin. Der Professor für Informations- und Kommunikationsrecht an der Universität Zürich hält das Ergebnis des Entscheids des Handelsgerichts schlicht für «falsch», wie er auf Anfrage der MEDIENWOCHE schreibt. «Natürlich sind die beiden Texte recht nahe, und offenbar ist der zweite in Kenntnis des ersten verfasst worden. Das mag unschön sein.» Aber mehr nicht. Thouvenin sieht ein grundsätzliches Problem: Wenn man eine Paraphrasierung als Urheberrechtsverletzung qualifiziere, bestehe «eine nicht geringe Gefahr», dass Autor:innen eines ersten Beitrags spätere Artikel in anderen Medien zum selben Thema mit ähnlichen Aussagen verbieten können. «Das kann und soll nicht Sinn und Zweck des Urheberrechts sein», hält der Rechtsgelehrte fest. Christoph Gasser hält diese Befürchtung für unbegründet, da es mit vertretbarem Aufwand problemlos möglich sei, einen journalistischen Text zu verfassen, ohne damit Urheberrechte zu verletzen.
Simon Canonica, Rechtsanwalt und Redaktor des Fachmagazins «Medialex», spricht von einem «guten und vor allem hilfreichen Urteil». Nun habe mal ein Gericht festgehalten, wo eine Grenze überschritten wurde. «Wenn man einen Artikel gegenüber dem Original so wenig verändert, dann bin ich auch der Meinung, dass sich das die Autorin nicht gefallen lassen muss.» Canonica, der 20 Jahre im Rechtsdienst von Tamedia gearbeitet hatte, sagt im Gespräch mit der MEDIENWOCHE weiter, dass er die Redaktionen immer davor gewarnt hatte: «Passt auf, wenn ihr euch bei anderen bedient! Es ist unseriös, als eigene Leistung auszugeben, was nicht auf dem eigenen Mist gewachsen ist.»
Redaktionen und Verlage haben keinen Freipass mehr zum Abschreiben und müssen mit einer Verurteilung rechnen.
Trotz des knappen Entscheids des Gerichts wollte Ringier das Urteil nicht bis vor Bundesgericht weiterziehen. «Wir haben Chancen, Risiken und Kosten eines gerichtlichen Weiterzugs abgewogen und uns gegen den enormen Aufwand entschieden», begründet Ringier auf Anfrage den Verzicht auf eine Weiterzug. Es könnte aber auch sein, dass Ringier darauf verzichtet hat, die nächste Instanz anzurufen, weil das Bundesgericht den Entscheid des Handelsgerichts hätte bestätigen können, und ein höchstrichterliches Urteil hätte «mehr Kraft», sagt Rechtsanwalt Christoph Gasser. Erst recht, wenn das Bundesgericht Leitlinien zum Thema veröffentlichen würde, die über den einzelnen Fall hinausreichen.
Doch auch das Urteil das Handelsgerichts wird eine gewisse Wirkung entfalten. Rechtsanwalt Gasser findet es «auf jeden Fall hilfreich, dass man nun das vorliegende Urteil einem potenziellen Verletzer zeigen kann». Redaktionen und Verlage haben keinen Freipass mehr zum Abschreiben und müssen mit einer Verurteilung rechnen.
Ob sich die «Blick.ch»-Redaktion nun zurückhält mit Paraphrasieren, wird sich erst noch weisen müssen.
Auch wenn Gerichte weiterhin jeden Fall einzeln beurteilen, dient das Urteil, das Natalia Godglück gegen Ringier erwirken konnte, in gewisser Weise als Präzedenzfall. Potenziell geschädigte Medienschaffende, die erwägen, ihren Fall zur Anzeige bringen, können vorab schon mal vergleichend auf die sanktionierte «Blick.ch»-Paraphrase schauen und beurteilen, ob bei ihnen mehr oder weniger abgeschrieben wurde.
Ob sich die «Blick.ch»-Redaktion nun zurückhält mit Paraphrasieren, wird sich erst noch weisen müssen. Die Ringier-Medienstelle erklärt auf Anfrage der MEDIENWOCHE, es gebe eine «interne Richtlinie zum Zitieren aus Fremdmedien», die der Chefredaktion zur Freigabe vorliege. Welche Bestimmungen diese Richtlinie genau enthält, nannte Ringier aber nicht.
Dass das Urteil der weit verbreiteten Abschreiberei den Riegel schiebt, ist eher unwahrscheinlich. Wenn alle von allen abschreiben, überwiegt für die Beteiligten eines solchen «Abschreib-Kartells» der Nutzen in Form der schnellen und billigen Content-Beschaffung. Und klagt irgendwann doch jemand, geht es um vergleichsweise bescheidene Summen. Die paar tausend Franken, um die es geht, berappen die Grossverlage aus der Portokasse. Ausserdem führt nicht jede Klage zu einem Urteil, wenn sich die Parteien in einem Vergleich finden.
«Wenn jemand meine Recherche vertieft und weiterdreht, freut mich das. Aber einfach abschreiben geht gar nicht.»
Natalia Godglück, freie Journalistin
Gleichzeitig ist es ein Armutszeugnis für jedes Medienunternehmen, das sich auf zweifelhafte bis rechtswidrige Weise bei anderen bedient und nicht bereit ist, einen minimalen Aufwand zu leisten, um einen eigenständigen journalistischen Beitrag zu erstellen. Wie das geht, zeigte im vorliegenden Fall «FM1Today». Während «Blick.ch» nur von der «htr hotel revue» abgeschrieben hatte, suchte das Ostschweizer News-Portal nach einem eigenständigen Ansatz, um die Recherche von Natalia Godglück näher ans eigene Publikum zu bringen. Und siehe da: «FM1Today» fand heraus, dass sich die coronabedingte Situation der Hotellerie in der Ostschweiz entspannter präsentiert als gesamtschweizerisch. «Wenn jemand meine Recherche vertieft und weiterdreht, freut mich das», sagt Natalia Godglück. «Aber einfach abschreiben geht gar nicht.»
Victor Brunner 20. April 2022, 18:41
Abschreiben ist doch heute bei den JournalistenInnen üblich, besonders bei BLICK und NAU. Auch die JournalistenInnen der grossen Blätter kupfern ab!
Christoph Schütz, Fribourg 22. April 2022, 09:12
Es war überfällig, dass jenen JournalistInnen, die die eigentliche journalistische Leistung – Recherche und eigenständige Formulierung – nicht mehr erbringen und sich aufs blosse Wiederkäuen und Hochladen beschränken, einmal die Grenzen dieses Tuns aufgezeigt wird. Gratulation und Dank der Klägerin und dem Anwalt, die sich dafür eingesetzt haben! Dass es der Blick auch anders kann, hat er mit vielen hartnäckig recherchierten Artikeln bewiesen.
Gerhard Lob 24. April 2022, 21:48
Ich bin sehr froh über dieses Urteil, auch wenn die Auswirkungen auf die Praxis wohl bescheiden bleiben dürften. Der Journalistin gebührt aber Ehre, dass sie sich verteidigt hat und das Problem somit unter rechtlichen Gesichtspunkten aufgearbeitet wurde. Nick Lüthi hat über das „parasitäre Paraphrasieren“ in der Medienwoche vom 04.12. 2020 einen sehr guten Grundsatzartikel geschrieben. Meines Erachtens könnte man in besonders krassen Fällen ganz einfach von „Diebstahl“ sprechen. Ladendiebe werden angezeigt, Textdiebe kommen in der Regel eben ungeschoren davon.