von Nick Lüthi

Die Regeln der Anderen

Ohne geht es nicht mehr, aber mit ist auch problematisch: Kritische Beobachtungen zum Verhältnis zwischen öffentlichem Rundfunk und Social-Media-Plattformen.

Der Zielkonflikt lässt sich nicht leugnen, das Dilemma bleibt unlösbar; hier prallen zwei Welten aufeinander. Wenn sich Radio und Fernsehen aufmachen, in den neuen Netzwerken ihren Platz zu finden, geht es um Grundlegendes: Nach wessen und welchen Regeln konstituiert sich die Plattform-Öffentlichkeit – und welche Rolle kann und soll der öffentliche Rundfunk spielen?

Wir haben es mit zwei ungleichen Akteuren zu tun. Auf der einen Seite betreiben die Plattformen eine Infrastruktur, die im Kern darauf ausgelegt ist, mit datengetriebener Werbung Geld zu verdienen. Auf der anderen Seite stehen Medien mit einem gesellschaftlichen (und keinem kommerziellen) Auftrag, die aufgrund deren schierer Grösse nicht umhin können, die Plattformen von Google, Facebook, Instagram oder Tiktok zu nutzen.

Die Otto-Brenner-Stiftung veröffentlichte dieser Tage ein Arbeitsheft von Henning Eichler zu «Journalismus in sozialen Netzwerken», ergänzt mit der Frage: «ARD und ZDF im Bann der Algorithmen?» Eine Frage, die sich nicht allein in Deutschland stellt, sondern überall, wo es einen starken öffentlichen Rundfunk gibt.

Die Ausweitung des Auftrags von ARD und ZDF auf die kommerziellen Plattformen ist höchstrichterlich abgesegnet.

«Wir müssen da sein, wo die Leute sind», hörte der Autor oft als Legitimation der vielfältigen Plattform-Aktivitäten von ARD und ZDF. Dabei kann sich der öffentliche Rundfunk auf seinen Auftrag berufen. Im Fall der schweizerischen SRG fordert die Konzession, dass «Inhalte, Formate und Technik» der Angebote so aufbereitet werden sollen, «wie es den Mediennutzungsgewohnheiten der jungen Zielgruppen entspricht». In Deutschland ist die Ausweitung des Auftrags von ARD und ZDF auf die kommerziellen Plattformen sogar höchstrichterlich abgesegnet.

Es fragt sich nicht ob, sondern wie das öffentliche Radio und Fernsehen Plattformen wie Instagram oder Tiktok bewirtschaften soll.

In Deutschland und in der Schweiz bespielen ARD und ZDF, respektive die SRG, die kommerziellen Plattformen sehr intensiv. Der Autor der Studie zählte «273 öffentlich-rechtliche Angebote auf den verschiedenen Plattformen, davon entstehen 75 exklusiv für soziale Netzwerke ohne weitere lineare Verbreitung». Die SRG bewegte sich schon 2018 auf diesem Niveau. Damals zählte der Bundesrat 236 Accounts des Schweizer Rundfunks bei YouTube, Facebook, Twitter und Instagram. Ein Wert, der sich bis heute halten dürfte.

Erfolg oder Misserfolg lässt sich oft nur anhand jener Daten messen, welche die Plattformen selbst erheben und zur Verfügung stellen.

Für einen grossen Teil dieser Konten produzieren die Sender originäre Inhalte. Dabei müssen sich die Medien einerseits an vorgegebene technische Rahmenbedingungen halten, andererseits die ungeschriebenen Regeln der Plattform-Logik befolgen, wenn sie mit ihren Inhalten eine grosse Reichweite erzielen wollen. Wobei sich Erfolg oder Misserfolg oft nur anhand jener Daten messen lässt, welche die Plattformen selbst erheben und zur Verfügung stellen. Und die können auch mal falsch sein. Doch andere gibt es nicht.

Ins Zentrum seiner Arbeit stellt Henning Eichler die Frage, wie stark die algorithmischen und kommerziellen Logiken der Plattformen die Arbeit der Journalist:innen beeinflussen. Dass ein solcher Einfluss besteht, ja eine Abhängigkeit und damit auch ein Machtgefälle zulasten der Medien, stellt niemand in Zweifel. An den zuständigen Stellen von ARD und ZDF, wo Eichler für seine Studie nachgefragt hat, gibt man sich pragmatisch. Es gehe nun mal nicht anders, als nach den Regeln der anderen zu spielen. Eine verbreitete An- und Einsicht innerhalb der öffentlich-rechtlichen Redaktionen.

In der Praxis wirken die Vorgaben und Verlockungen der algorithmischen Distribution oft stärker, als vielen lieb sein dürfte.

Deutlich zeigt sich die Abhängigkeit bei der Distribution der Inhalte. Ein befragter Redaktor findet, hier gebe man die Kontrolle «komplett aus der Hand». In der Tat: Zum einen haben Dritte keinen (oder einen beschränkten) Einfluss, wo und wie ihr Inhalt auf einer Plattform ausgespielt wird. Zum anderen liegen die Algorithmen, welche die Distribution steuern, im Dunkeln.

Dieser Black Box entgeht niemand. Dennoch versuchen die Redaktionen von ARD und ZDF die Abhängigkeit von den Algorithmen abzufedern. «Wir nehmen uns dieser Logik nicht an, sondern entscheiden eigenständig, was für Themen wir machen, wie wir sie umsetzen», wird Patrick Weinhold, Redaktor «Tagesschau» (ARD) zitiert. Auch andere Aussagen gehen in die Richtung, Themen und ihre journalistische Umsetzung unabhängig der Plattform-Logik und nach gesellschaftspolitischen Vorgaben zu denken.

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In der Praxis wirken die Vorgaben und Verlockungen der algorithmischen Distribution oft stärker, als vielen lieb sein dürfte. Manche Formate realisiere man mit einer stark emotionalen Komponente, «weil sie so algorithmisch bevorzugt würden», erläutert Stefan Spiegel von der «funk»-Redaktion in der Studie. «funk» realisiert für ARD und ZDF Formate, zugeschnitten auf die Nutzungsbedürfnisse der 14- bis 29-Jährigen, also vor allem Inhalte für Social-Media-Plattformen.

Bei der SRG läuft das zwar nicht so zentralisiert ab wie mit «funk» in Deutschland, aber auch hier geht die Entwicklung in die Richtung, dass Content vermehrt von der Plattform-Logik her gedacht wird. Was läuft wo gut? Und wenn es nicht läuft, können wir es zum Laufen bringen, wenn wir den Algorithmus besser füttern? «Je länger man dabei ist, desto stärker geht man eben auf diese Konventionen ein, beispielsweise je kürzer, desto besser», gesteht eine Redaktorin im Papier der Otto-Brenner-Stiftung in der Studie. Dann werde eine Filmsequenz so weit gekürzt, bis sie YouTube gefällt.

Eine mögliche Forderung an die Plattform-Konzerne wäre eine algorithmische Sonderbehandlung für Qualitätsjournalismus.

«Der schwierigste Part der Aufgabe, Plattform-Logiken und journalistische Ansprüche zu vereinen, besteht in der Auseinandersetzung mit den globalen Digitalunternehmen», schreibt Studienautor Eichler. Die Voraussetzungen dafür hätten sich in letzter Zeit zum Besseren gewandelt. Die bisher sehr selbstbewusste bis abweisende Art der Digitalkonzerne habe sich zu einem offeneren Dialog und einem «erwachseneren Verhältnis» entwickelt, wird Jonas Bedford-Strohm, Digitalstratege bei der ARD, zitiert. Das Verhältnis zwischen Plattform-Konzernen und öffentlich-rechtlichen Medien hat sich zudem schon immer einfacher gestaltet, weil keine kommerziellen Interessen im Raum stehen. Anders als die Verlage verlangen Radio und Fernsehen keine Geldzahlungen von Google und Facebook für die Nutzung ihrer Inhalte.

Eine mögliche Forderung an die Plattform-Konzerne wäre eine algorithmische Sonderbehandlung für Qualitätsjournalismus. «Eine grundsätzliche Priorisierung öffentlich-rechtlicher Information und Berichterstattung erscheint realistisch, sofern eine medienpolitische Einigung mit den Plattform-Betreibern erzielt werden kann», so Henning Eichler. Damit wird man zumindest auf halboffene Ohren stossen. Facebook und Google wissen sehr wohl um den Nutzen journalistischer Angebote auf ihren Plattformen. Ihr Interesse daran ist einfach nicht ganz so gross wie das der Verlage.

Eine wichtige Rolle spielt ein solides ethisches Grundgerüst, an das sich konkrete Entscheidungen im Alltag anlehnen.

Ganz unabhängig vom Goodwill der mächtigen Gegenüber können, ja müssen Medien für sich festlegen, wie sie mit der bestehenden Situation umgehen wollen. Eine wichtige Rolle spielt ein solides ethisches Grundgerüst, an das sich konkrete Entscheidungen im Alltag anlehnen. Hier besteht noch Luft nach oben. In der Schweiz, insbesondere beim Deutschschweizer Radio und Fernsehen SRF, geht die intensivierte Bewirtschaftung der Plattformen seit drei Jahren einher mit dem umfassenden Reformvorhaben SRF 2024. Da stehen die grundlegenden Fragen der Ethik verständlicherweise nicht immer im Zentrum der Diskussionen.

Klar ist auch, dass solche Diskussionen nicht an den eigenen Studiotüren enden sollten, sondern unternehmens- und länderübergreifend geführt werden müssen. Das betrifft im besonderen die technologische Entwicklung, die der öffentliche Rundfunk leisten müsste, wenn er attraktive Alternativen zu den Angeboten der Plattformen bieten möchte.

Das wäre vor allem deshalb wichtig, um das Publikum von den Plattformen weg auf die eigene Infrastruktur zu locken. Manche Medien machen das so. Zum Beispiel die britische BBC, die auf YouTube nur News-Häppchen bringt und höchstens bei der Comedy mehr als 20 Minuten Film zeigt. Die vielgelobten Dokumentarfilme gibt es dagegen nur auf dem BBC-eigenen iPlayer.

Dieser Strategie steht das Vorgehen von ARD und ZDF in Deutschland und der SRG in der Schweiz gegenüber, die auch lange journalistische Formate auf die Plattformen stellen und kein offensives Teasing betreiben, um die Nutzer:innen von YouTube auf die Mediatheken oder in die Apps der Sender zu ziehen. Doch so wird es schwierig, jüngere Nutzer:innen mit der eigenen Infrastruktur vertraut zu machen.

Es gibt für den öffentlichen Rundfunk durchaus Handlungsspielraum, den er aber auch nutzen sollte. Die Algorithmen werden bleiben, Plattformen können sich verändern oder sogar verschwinden.

Leserbeiträge

Ueli Custer 10. Juni 2022, 11:06

Liest man diesen Beitrag, wird immer klarer, dass die digitale Informationswelt nicht mehr von Menschen sondern von Algorithmen definiert wird. Oder krasser ausgedrückt: Nicht Menschen bestimmen, was Menschen im Netz zu lesen, hören oder sehen bekommen, sondern Maschinen bzw. Computerprogramme. Und es ist völlig unklar, wie weit die Menschen hinter diesen Programmen diese noch wirklich beherrschen. Frei nach Goethe: „Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht  los.“ (Der Zauberlehrling, 1797).