von Adrian Lobe

Nachrichten aus dem digitalen Daumenkino

Die populäre Video-Plattform Tiktok spielt eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Mediennutzung jüngerer Menschen. Das zeigt der aktuelle Digital News Report. Die chinesische App könnte die Mechanik des Nachrichtensystems grundlegend verändern.

Hier ein Tänzchen, dort eine Blödelei, da ein Kochrezept – die Video-App Tiktok erfreut sich wachsender Beliebtheit. Eine Milliarde Nutzer wischen sich im Schnitt täglich durch allerlei kurzweilige Videoclips. Doch Tiktok ist längst nicht nur ein digitales Kuriositätenkabinett, sondern dient zunehmend auch als wichtige Nachrichtenquelle. Gemäss dem aktuellen Digital News Report 2022, der das Mediennutzungsverhalten in 46 Ländern weltweit untersucht, informieren sich mittlerweile 15 Prozent der 18- bis 24-Jährigen mit Nachrichten auf Tiktok (wie der Newsbegriff genau definiert wurde und ob darunter nur Inhalte von Nachrichtenorganisation gefasst werden, wird in der Studie nicht ausgeführt). 15 Prozent nehmen sich zunächst als bescheidener Wert aus, doch in der hochdynamischen Social-Media-Landschaft zählen vor allem längerfristige Entwicklungen. Bereits im Digital News Report 2020 wurde vermeldet, dass 11 Prozent der 18- bis 24-jährigen US-Tiktok-Nutzer Nachrichten zum Coronavirus aus der App beziehen. Tiktok, so heisst es nun im aktuellen Bericht, trete als «signifikanter neuer Player im Nachrichtenökosystem» in Erscheinung.

Die Zahl derer, die Nachrichten oft oder manchmal aktiv vermeiden, ist in den vergangenen Jahren massiv gestiegen, auf mittlerweile 40 Prozent bei der Generation Z.

Die App hat nicht zuletzt durch den Ukraine-Krieg an Bedeutung gewonnen. Verwackelte Handyaufnahmen von Kampfhandlungen gehen dort ebenso viral wie den «Moonwalk» tanzende Soldaten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj führt selbst einen Kanal, den sein Team täglich mit neuen Videos bespielt. Auch im kolumbianischen Präsidentschaftswahlkampf spielte Tiktok eine prominente Rolle: Der 77 Jahre alte Bauunternehmer und Rechtspopulist Rodolfo Hernandez wurde mit lustigen Videos zum Internetstar und schaffte es bis in die Stichwahl.

Die Popularität der Videoplattform ist auch den Verlagen nicht verborgen geblieben. Viele der grossen internationalen Medienunternehmen, etwa die «Washington Post» oder der «Guardian», pflegen längst ihre eigenen Accounts. Auch in der Schweiz sind Medien wie «Blick», «20 Minuten» oder «Watson» auf Tiktok aktiv. Schweizer Radio und Fernsehen SRF führt gar drei Accounts. Auf dem Kanal von @srfnews, dem 13‘000 Nutzer folgen, präsentiert der Sender kurze Erklärvideos zu politischen und gesellschaftlichen Aktualitäten: Was sind Sanktionen? Worum geht es bei Abstimmungsvorlage XY? Braucht die Schweiz eine stärkere Armee? Die meist zwischen einer halben und einer Minute kurzen Videoclips sind sehr dicht und komprimiert produziert. Die Ansprache erfolgt direkt und unterhaltsam; das Bildmaterial wird untertitelt und mit Musik unterlegt, was dem Ganzen eine gewisse Beiläufigkeit verleiht.

Genau das ist die Erwartung der jungen Nutzerschaft. Die Zahl derer, die Nachrichten oft oder manchmal aktiv vermeiden, ist laut dem Digital News Report in den vergangenen Jahren massiv gestiegen, auf mittlerweile 40 Prozent bei der Generation Z. In diesem Umfeld haben es leicht verdauliche Tiktok-Videos, die mit einem kumpelhaften «Hey Digga, ich erklär dir das jetzt mal»-Sound daherkommen, einfacher als trockene Nachrichten wie bei der «Tagesschau in 100 Sekunden».

Tiktok ist ein digitales Daumenkino, das jeden Tag mehr Menschen als das Champions-League-Finale und der Super Bowl vor die Bildschirme lockt.

Anfänglich waren traditionelle Medienunternehmen eher zögerlich, was den Nutzen von Tiktok als Vertriebskanal anging. Der Social-Media-Chef von «BBC News», Jeremy Skeet, erklärte noch im vergangenen Januar, man werde keine «Light News» auf Tiktok präsentieren. Und das, obwohl die – mittlerweile zu «Vice» abgewanderte – BBC-Journalistin Sophia Smith Galer für ihr digitales Storytelling auf Tiktok mit dem British Journalism Award in der Kategorie «Innovation des Jahres» ausgezeichnet wurde. Der Ukraine-Krieg hat jedoch zu einem Umdenken geführt: Seit ein paar Wochen ist die BBC mit einem englisch- und russischsprachigen Kanal auf der Videoplattform präsent. Auch die FAZ hat kürzlich ihr Social-Media-Angebot erweitert und einen eigenen, serviceorientierten Tiktok-Kanal eingerichtet, auf dem beispielsweise Tipps zu Ausbildung und Studium gegeben werden. Die NZZ verzichtet dagegen weiterhin auf eine eigene Präsenz. Auf Anfrage teilt das Unternehmen mit, dass man die Situation laufend beobachte, «im Moment aber keinen Anlass» sehe, den Kanal zu nutzen, «da unsere Zielgruppe nicht auf Tiktok unterwegs ist».

Klar, Verlage müssen nicht jede Mode mitmachen. Der Hype um die Social-Audio-App «Clubhouse» ist längst abgeebbt, und die Erfahrungen, die Verlage mit der Foto-App Snapchat gemacht haben, waren eher medioker. Doch Tiktok ist nicht nur die am schnellsten wachsende Social-Media-App, sondern ein digitales Daumenkino, das jeden Tag mehr Menschen als das Champions-League-Finale und der Super Bowl vor die Bildschirme lockt.

Beim Facebook-Unternehmen «Meta» schauen sie derweil mit grosser Sorge auf den kräftig wachsenden Mitbewerber.

Im Gegensatz zu Facebook oder Twitter gewichtet der Tiktok-Empfehlungsalgorithmus viel stärker Signale des Nutzers – Likes, Dislikes, geschaute Videos – als Aktivitäten von Followern oder Freunden. Überspitzt gesagt: Man kann auf Tiktok auch mit Null Followern einen viralen Hit landen. Und nur weil ein Influencer einen Beitrag likt, bedeutet das nicht automatisch, dass dieser als Empfehlung im personalisierten Feed auftaucht. Der Algorithmus bestimmt schon heute die Agenda – und könnte die Mechanik der Medienlandschaft grundlegend verändern.

Beim Facebook-Unternehmen «Meta» schauen sie derweil mit grosser Sorge auf den kräftig wachsenden Mitbewerber. Der Konzern tut das, was er in brenzligen Situationen immer tut: Er versucht die Konkurrenz zu kopieren. Gemäss einem geleakten Memo, welches das Tech-Portal «The Verge» veröffentlicht hat, denkt das Facebook-Management über eine Änderung des Newsfeed-Algorithmus nach, beziehungsweise die Einführung einer «Discovery Engine», die sich weniger an den Aktivitäten der Freunde orientiert und Videos stärker pushen soll – also mehr oder weniger das, was Tiktok heute schon macht. Der Konkurrenzkampf zwischen Facebook/Meta und Tiktok könnte somit auch Auswirkungen auf die Medien haben. Wann immer Facebook an seinen Algorithmen dreht, zeigt sich das auch am Traffic, der Dritten zukommt.

Seit Facebook wegen der Verbreitung von Falschnachrichten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist, hat der Konzern die Relevanz von Nachrichten immer weiter heruntergedimmt. Gemäss Facebooks Transparenzbericht machen Nachrichten mittlerweile nur noch 0,4 Prozent aller Views aus. Das heisst: Nachrichten werden kaum geklickt. Und was nicht geklickt wird, bringt kein Geld.

Wie das «Wall Street Journal» berichtet, will Facebook zudem den bestehenden Deal mit Verlagen überdenken oder gar abschaffen. Den Medienunternehmen könnten so zweistellige Millionenbeträge entgehen. Allein die «New York Times» erhält jährlich über 20 Millionen Dollar von Facebook für die Bereitstellung von Inhalten. Das macht zwar lediglich rund ein Prozent des Umsatzes aus, den die New York Times Company 2021 erzielte. Doch die Plattform spielt nach wie vor eine wichtige Rolle in der Nachrichtendistribution. Wenn Facebook nun den Geldhahn zudreht und die Weichen neu stellt, könnte das den Druck auf Redaktionen erhöhen, im Gegenzug ihre Präsenz auf Tiktok zu erhöhen.

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Fragt sich nur, wie sich Präsenz auf der Videoplattform monetarisieren lässt. Anders als bei Google oder Facebook gibt es zwischen Verlagen und Tiktok (noch) keine Finanzierungsvereinbarung, professionelle Medien werden wie alle anderen behandelt. Die chinesische Mutterfirma Bytedance investiert vor allem in den heimischen Markt. So pumpte sie vor zwei Jahren umgerechnet 170 Millionen Dollar in den E-Book-Reader Zhangyue. Im Mai hat Tiktok ein Programm namens «Pulse» aufgelegt, das Teilnehmenden (ähnlich wie bei Youtube) eine 50-prozentige Beteiligung an Werbeeinnahmen verspricht, sofern diese mehr als 100‘000 Follower haben. Allerdings spielen in dieser Liga nur wenige Medien mit – in der Schweiz bricht einzig «20 Minuten» diese Schallmauer, selbst der «Guardian» kommt nur auf 14‘600 Follower. Der grosse Geldregen ist also nicht zu erwarten, zumindest nicht in Form von regelmässigen Ausschüttungen.

Die Änderung des Mediennutzungsverhaltens geht mit einer tendenziell losen Markenloyalität bei den jüngeren Altersgruppen einher.

Für Buchverlage dagegen ist Tiktok schon heute ein lohnender Vertriebskanal: So hat sich unter dem Hashtag #BookTok eine Community von Rezensenten etabliert, die Buchempfehlungen abgeben und den Verkauf von Büchern ankurbeln. Der Buchabsatz (auch älterer Titel) ist in den USA und Grossbritannien nicht zuletzt durch das digitale Marketing auf Tiktok in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen. Der noch immer stark aufs Printgeschäft fokussierte Buchmarkt folgt jedoch anderen Regeln, und dass ein Tiktoker seinen Fans den Kauf einer Zeitung empfiehlt, ist eher unwahrscheinlich. Als Marketing-Instrument eignet sich Tiktok eher für Podcasts oder Apps. Wie also holt man die Leser/Hörer/Zuschauer von morgen ab?

Die Änderung des Mediennutzungsverhaltens, das macht der Digital News Report deutlich, geht mit einer tendenziell losen Markenloyalität bei den jüngeren Altersgruppen einher. Im Gegensatz zur Generation der Babyboomer, die oft jahrelang einer Marke treu bleiben (man denke an die Stammleserschaft der gedruckten FAZ oder NZZ) wollen sich die «Social Natives» weniger an ein bestimmtes Nachrichtenmedium binden und bevorzugen stattdessen einen bunten Strauss an Neuigkeiten. Das heisst, sie werden eher einzelne Videoclips von «Blick» oder «20 Minuten» liken als die Seite selbst. Das macht es wiederum für Verlage schwerer, eine feste Bindung aufzubauen zu Lesern/Hörern/Zuschauern, die man später gezielt ansprechen kann.

Um erfolgreich zu sein, beziehungsweise Reichweite zu erzielen, müssen Medien das Spiel der Selbstdarstellung mitspielen und ihre Reporter selbst als eine Art Influencer in Szene setzen (zum Beispiel mit einem Einblick in die Recherchen). Der Videoreporter Dave Jorgenson, der der Generation Z vor allem als «Tiktok Guy» der «Washington Post» bekannt ist, hat mal gesagt, dass erfolgreiche Inhalte vor allem solche Nachrichten seien, «die mehr sketchbasiert» sind. Als Beobachter, der noch mit der gedruckten Zeitung sozialisiert wurde, mag man den satirischen Filter, der über Tiktok-Videos liegt, befremdlich finden (etwa im Kontext von Kriegsbildern). Aber es ist eben auch die Ausdrucksweise einer neuen Generation, die gerade den Ton im Internet angibt. Und dem kann man sich als Medium nicht verschliessen.

Bild: Adobe Stock