von Nick Lüthi

«Jungfrau Zeitung»: Papierlos den ganzen Kanton Bern erobern

Vor zwei Jahren hat sich die «Jungfrau Zeitung» vom Papier verabschiedet. Um allein von Online-Einnahmen leben zu können, braucht sie ein grösseres Publikum. Darum berichtet das Blatt nun über den ganzen Kanton Bern.

Mitten in der Berner Altstadt, in einem Geschäftseingang unter den Lauben, hängt eine grosse, schwarze Leuchtschrift in einem Schaufenster. Beim Vorbeigehen meint man zuerst ein Kunstobjekt zu erkennen. Doch da steht: «Jungfrau Zeitung». In Bern gibt es die «Berner Zeitung», den «Bund» oder den «Bernerbär». Aber eine «Jungfrau Zeitung»? Die gehört wenn schon ins Berner Oberland, nach Brienz, Interlaken oder Thun.

Das Haus, in dessen Vitrine der Schriftzug prangt, gehört Urs Fueter, letzter Vertreter einer Textildynastie und Sohn des bekannten Schauspielers Willy Fueter (u.a. «Ueli der Pächter», «Der längste Tag»). Im Herbst 2021 lud Fueter Junior die «Jungfrau Zeitung» zum Gespräch in seine Altstadtliegenschaft. Ums Berner Oberland ging es dabei nicht. Dafür umso mehr um die Stadt Bern. Das Interview führte Matthias Mast, ein Urgestein des lokalen (Boulevard-)Journalismus. Fueter, der Stadtberner Lokalpromi, war dermassen begeistert von der Plattform, die ihm da geboten wurde, dass er sein leeres Schaufenster gleich der «Jungfrau Zeitung» überliess, die darin ihre Leuchtschrift platzieren durfte.

Wer heute die «Jungfrau Zeitung» liest, merkt schnell, dass die Werbung am richtigen Ort steht, ja eigentlich noch prominenter in der Bundesstadt gezeigt werden dürfte. Denn die einstige Regionalzeitung aus dem Berner Oberland entwickelt sich zur Medienplattform für den ganzen Kanton und insbesondere die Kantonshauptstadt. Ob der 60. Geburtstag des Berner Stadtpräsidenten, ein neues Musikfestival um den Berner Egelsee oder die Aufregung um den Konzertabbruch in der Brasserie Lorraine: Alle drei Ereignisse würdigte die «Jungfrau Zeitung» in den letzten Wochen prominent und ausführlich.

Von hier oben überblickt der Verleger das neue Verbreitungsgebiet seiner «Jungfrau Zeitung».

Anfang Juli sitzt Urs Gossweiler auf der Dachterrasse des Restaurant Volkshaus in der Berner Altstadt. Die Weitsicht gibt, vorbei an Münster- und Zytgloggeturm, den Blick frei auf Eiger, Mönch und Jungfrau. In der Gegenrichtung sieht man die Horizontlinie der ersten Jurakette. Von hier oben überblickt der Verleger das neue Verbreitungsgebiet seiner «Jungfrau Zeitung».

Die publizistische Ausrichtung auf den ganzen Kanton und nicht mehr länger nur aufs Berner Oberland war eine unmittelbare Konsequenz aus dem Entscheid, die gedruckte Ausgabe einzustellen. Im März 2020 vollzog Gossweiler diesen Schritt, den er schon vor über zwanzig Jahren angekündigt hatte. 1999 sagte er der Handelszeitung: «Papier ist Mittel zum Zweck, aber wir möchten davon wegkommen.» Die «Jungfrau Zeitung» war seit ihrer Gründung «nur» eine ausgedruckte Zusammenstellung von zuvor auf der Website publizierten Artikeln. Doch die Zeitung verschwindet nicht ganz. Weiterhin produziert die Redaktion eine sogenannte E-Tageszeitung, ein wochentägliches E-Paper mit einem Umfang von 40 Seiten.

Unter dem wirtschaftlichen Druck der Corona-Situation war der Abschied vom Papier ein riskanter Schritt. Gossweiler vergleicht ihn mit dem Moment, wenn das Schleppflugzeug den Segelflieger ausklinkt: «Entweder trägt es oder man rast tonlos in die Tiefe.» Bis jetzt trägt es. Gut zwei Jahre nach dem Ausklinken zieht der Verleger eine positive Bilanz. Für das laufende Jahr rechnet er mit einer Ertragssteigerung von 30 Prozent. Der Verzicht auf die gedruckte Zeitung, die während fast zwanzig Jahren von Oktober 2000 bis März 2020 jeweils zwei Mal in der Woche erschienen war, scheint sich auszuzahlen. «Ohne die Kosten für Druck und Vertrieb haben wir zwar weniger Aufwand, aber natürlich auch weniger Ertrag ohne Abos und Printwerbung», erklärt Gossweiler. Als einzige Einnahmequelle verbleibt die Online-Werbung. «Hier sind die Umsätze kleiner als im Print. Darum war die Ausweitung des Publikums essenziell, damit wir über die Runden kommen.»

«Die Werbung auf unserer Plattform wird von den Adblockern nicht ausgefiltert.»
Urs Gossweiler, Verleger «Jungfrau Zeitung»

Bei der Online-Werbung zählt die Reichweite – je grösser, desto besser. Und umso besser, wenn die Werbung auch tatsächlich gesehen wird. Nur das interessiert die zahlende Kundschaft. Ein erheblicher Teil der Internet-User, in der Schweiz bis zu einem Fünftel, blockiert die Online-Werbung mit Adblockern. Ausserdem haben die sogenannten Cookies bald ausgedient, die es ermöglichen, dem User auf sein Nutzerprofil abgestimmte Werbung anzuzeigen. Der «Jungfrau Zeitung» braucht diese Entwicklung keine Sorgen zu machen, weil sie einen anderen Weg geht. «Die Werbung auf unserer Plattform wird von den Adblockern nicht ausgefiltert», erklärt Urs Gossweiler. Das liege daran, dass die Anzeigen auf den gleichen Servern erfasst werden wie die redaktionellen Beiträge. «Cookies verwenden wir keine, ausser jenes für Google Analytics», ergänzt der Verleger. Auf Grundlage der via Google erhobenen Nutzungszahlen verkauft die «Jungfrau Zeitung» ihre Online-Werbung. Und tut das offenbar mit einigem Erfolg. Wie ein Blick auf die Website zeigt, inserieren neben Unternehmen aus dem Berner Oberland auch nationale Firmen, von Migros über Volg bis Lidl.

 

Die Zeitung


Die Geschichte der «Jungfrau Zeitung» beginnt 1896 in Brienz mit der Gründung der Lokalzeitung «Der Brienzer». Ein Jahresabo für zwei Ausgaben pro Woche kostet damals fünf Franken. 1907 übernehmen Fridolin und Margaritha Gossweiler-Thöni den «Brienzer». Sie legen den Grundstein der Gossweiler Media AG, die bis heute die «Jungfrau Zeitung» herausgibt.

Als der amtierende Verleger Urs Gossweiler 1993 in vierter Generation die Geschäfte übernimmt, läutet er in Brienz das Multimedia- und Online-Zeitalter ein. «Der Brienzer» und das Schwesterblatt «Hasli Zeitung» gehören Ende der 1990er-Jahre zu den ersten Zeitungen in der Schweiz, deren Artikel in einem webbasierten Redaktionssystem erfasst werden. Der grösste Schritt in der Verlagsgeschichte folgt am 6. Oktober 2000. Damals erscheint erstmals die «Jungfrau Zeitung» zum ersten Mal. Zusammen mit dem Verleger des «Echos von Grindelwald» lanciert Gossweiler eine Zeitung für den «Mikrokosmos Jungfrau», also den Verwaltungskreis Interlaken-Oberhasli. Die bestehenden Blätter in Brienz, Meiringen und Grindelwald behalten zwar ihren Namen, der Inhalt ist aber der gleiche wie jener in der neuen «Jungfrau Zeitung»; es ist eine Zeitung mit vier Namen. Mit der geografischen Expansion reagiert Gossweiler auf den Entscheid des Stadtberner Verlags Espace Media, den «Berner Oberländer» und das «Thuner Tagblatt» nur noch als Kopfblätter der «Berner Zeitung» zu führen. Die «Jungfrau Zeitung» ist ein Ausdruck der Website, wo die Artikel zuerst erscheinen. Damit folgt das Oberländer Blatt bereits vor mehr als zwanzig Jahren der Maxime «online first». Auf der Website sind die Beiträge frei zugänglich.

Im Corona-Jahr 2020 entscheidet sich der Verleger, die gedruckte Ausgabe einzustellen. 2019, im zweitletzten Jahr ihres Erscheinens, zählt die «Jungfrau Zeitung» 10’400 Abos. Seit der Gründung vor 22 Jahren vergrösserte Gossweiler das Einzugsgebiet seiner Zeitung kontinuierlich. Vom historischen Verlagssitz in Brienz aus erschliesst man Haslital und Jungfrau-Region. Danach zieht das Unternehmen zuerst nach Interlaken und dann nach Thun, von wo aus die Redaktion das ganze Berner Oberland ins Visier nimmt. Seit dem Verzicht auf die gedruckte Ausgabe versteht sich die «Jungfrau Zeitung», die ihren Sitz weiterhin in Thun hat, als Medienplattform für den ganzen Kanton. Davon zeugt auch die Eröffnung eines «Hauptstadtbüros» in der Stadt Bern.

Der Schritt raus aus dem Berner Oberland auf der Suche nach mehr Leserinnen und Lesern ist schlicht überlebensnotwendig. Doch die Rechnung geht nur auf, wenn man das bisherige Publikum halten und neues dazu gewinnen kann. Die «Jungfrau Zeitung» will in ihren historischen Stammlanden weiterhin als Lokalmedium wahrgenommen und gleichzeitig im übrigen Kantonsgebiet als neue Informationsquelle genutzt werden. Da die Ressourcen nicht ausreichen, um einfach die Berichterstattung mit zusätzlichen Beiträgen auszubauen, sucht die «Jungfrau Zeitung» vermehrt nach Zugängen zu Themen, die sowohl die Leserin im Haslital als auch den Leser in der Stadt Bern ansprechen. Geradezu prototypisch zeigte sich dies jüngst in einem Porträt eines Haslibergers, der sich in Nepal mit einem Hilfswerk für sauberes Wasser einsetzt. Das Fotoshooting und das Interview mit ihm und dem nepalesischen Hilfswerkgründer fand in der Stadt Bern statt. «Entwicklungshilfe interessiert im rot-grünen Bern und für das bergige Nepal gibt es auch im Berner Oberland grosse Sympathien», sagt Verleger Urs Gossweiler im Gespräch mit der MEDIENWOCHE.

«Wir pflegen flache Hierarchien. Im Prinzip funktioniere die Redaktion wie ein Kollektiv.»
Urs Gossweiler, Verleger «Jungfrau Zeitung»

Damit der Spagat zwischen Stadt und Land möglichst oft und möglichst schmerzlos gelingt, braucht es das passende Personal: Journalistinnen und Journalisten, die beides kennen. Zum Beispiel einer wie Beat Kohler: ein Stadtberner, der seit über zwei Jahrzehnten in Meiringen lebt und ebenso lange, mit Unterbrüchen, für die «Jungfrau Zeitung» schreibt, zwischenzeitlich in Bern das «Journal B» geleitet hatte und seit drei Jahren für die Grünen im Berner Grossrat sitzt. Um das erweiterte Einzugsgebiet publizistisch abzudecken, verzeichnete die «Jungfrau Zeitung» in den vergangenen zwei Jahren etliche Neuzugänge von Redaktionen in Stadt und Region: Gina Krückl kam vom Newsportal «Nau.ch», Ben Abegglen arbeitete zuvor beim Lokalradio «Bern 1», Peter Wäch schrieb viele Jahre für den «Bernerbär», wie auch Matthias Mast, der zudem als Gesicht von «Telebärn» zu lokaler Bekanntheit gelangte. Doch auch das Berner Oberland ist weiterhin mit prominenten Stimmen im Blatt vertreten, etwa mit Bruno Stüdle. Der frühere Chefredaktor des Tamedia-Blatts «Berner Oberländer» wechselte auf Anfang Jahr zur «Jungfrau Zeitung». Aktuell ist die Redaktion mit 10 FTE (Vollzeitäquivalenten) dotiert, Chefredaktor gibt es keinen. «Wir pflegen flache Hierarchien. Im Prinzip funktioniere die Redaktion wie ein Kollektiv», sagt Urs Gossweiler. Ganz zur Zufriedenheit des Verlegers: «Ich kann von der Seitenlinie aus zuschauen und geniessen.»

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Mit der geografischen Expansion trägt die «Jungfrau Zeitung» zu einem vielfältigen Medienangebot in der Bundesstadt bei, um das man sich in den letzten Jahren Sorgen gemacht hatte, nachdem Tamedia die Redaktionen seiner beiden Tageszeitungen «Bund» und «Berner Zeitung» zusammengelegt hatte. «Die Fusion war nicht der Grund für unseren Schritt in Richtung Bern, aber sie ist auch nicht hinderlich», sagt Gossweiler. Die Konkurrenz werde dafür sorgen, dass sich Tamedia auch in Zukunft vor Ort engagieren müsse und nicht weiter abbaue, glaubt Gossweiler. Im Berner Oberland habe Tamedia (und zuvor Espace Media) nie in dem Mass abgebaut wie etwa im Emmental, wo eine starke Konkurrenz fehlt.

Aber wie passt eigentlich der Name «Jungfrau Zeitung» zu einer Publikation für den ganzen Kanton?

Noch haben Gossweiler und seine «Jungfrau Zeitung» die Expansion nicht an die grosse Glocke gehängt. «Wir wollen zuerst glaubwürdig den Tatbeweis erbringen, dass wir dem Anspruch einer Medienplattform für den Kanton Bern gerecht werden können, bevor wir kommunizieren», sagt Gossweiler. In den nächsten Wochen soll es so weit sein.

Aber wie passt eigentlich der Name «Jungfrau Zeitung» zu einer Publikation für den ganzen Kanton? Gossweiler Urs lächelt sein schelmisches Lächeln und signalisiert damit, dass er darauf längst eine passende Antwort parat hat. «Richard Branson hat mit ‹Virgin› eine Weltmarke aufgebaut.» Sagts und lässt den Blick von Bern in Richtung Jungfrau schweifen.

 

Der Verleger


Urs Gossweiler arbeitet bereits die längere Zeit seiner 51 Lebensjahre als Verleger. Nach dem frühen Tod seines Vaters Ende 1993 wurde Gossweiler Junior mit 22 Jahren quasi über Nacht zum Verleger. Dass er dereinst das Familienunternehmen weiterführen würde, war schon immer klar, aber nicht der frühe Zeitpunkt. Eigentlich hätte er nach seiner Ausbildung zum Typografen noch weiteres Rüstzeug holen wollen auf Lehr- und Wanderjahren in anderen Verlage.

Im Rückblick war der Sprung ins kalte Wasser kein Nachteil. Schliesslich hatte er einen Plan. Gossweiler wusste schon 1993: Eine Zeitung hat nur online und multimedial eine Zukunft. Mit dieser Ansicht war er vor bald 30 Jahren ziemlich allein. Das hielt ihn nicht davon ab, seine Überzeugung kundzutun, wo immer er gefragt wurde – und wie er gefragt wurde. An unzähligen Branchenanlässen im In- und Ausland pries Urs Gossweiler die Segnungen des Multimedia-Zeitalters für die Medienproduktion.

Seinen Worten liess er Taten folgen. Als eine seiner ersten Handlungen als Verleger schloss er die hauseigene Druckerei in Brienz und machte sich daran, eine digitale Produktionsinfrastruktur aufzubauen. Gossweiler liess Software-Spezialisten unter der Leitung von Oliver Brodwolf ein eigenes internetbasiertes Redaktionssystem entwickeln. Das sogenannte G-OS (Gossweiler Operation System) steht bis heute in Betrieb bei der «Jungfrau Zeitung».

Die ursprüngliche Idee wäre es allerdings gewesen, Lizenzen für die G-OS-Software an andere Verlagen zu verkaufen, die damit im Stil der «Jungfrau Zeitung» ihre eigene «Mikrozeitungen» produzieren könnten. Ein Versuch, 2010 das Modell aus der Jungfrau-Region über den Brünig nach Obwalden und Nidwalden zu exportieren, kam zwar zum Fliegen, scheiterte aber nach gut zwei Jahren an fehlenden Abonnenten; 8000 standen im Geschäftsplan, 3000 waren es tatsächlich. Als es Gossweiler daraufhin auch nicht gelungen war, die Stadt Zürich flächendeckend mit Mikrozeitungen zu überziehen, war dies das Ende der Ambitionen, das Modell, das für die «Jungfrau Zeitung» gut funktioniert, exportieren zu wollen. Der geschäftliche Fokus liegt seither ganz auf der «Jungfrau Zeitung».

Um sich finanziell breiter abzustützen, öffnete Gossweiler 2021 erstmals das Aktionariat des Familienunternehmens. Seither figurieren der Berner Unternehmer und Wirtschaftsanwalt Thomas Bähler und die Einkaufsgenossenschaft der Schweizer Papeteristen PEG als Minderheitsktionäre. Christoph Clavadetscher, Präsident der PEG, steht dem Verwaltungsrat des Verlags vor.

Bilder: Joss Woodhead/Unsplash, Nick Lüthi, zvg