von Nick Lüthi

Hyperlokales Radio: intime Momente aus dem Wohnwagenstudio

Mehr Nähe geht nicht: Seit fünf Jahren bringt «Caravane FM» am Westschweizer Fernsehen RTS Menschen dazu, öffentlich ihre Lebensgeschichten zu erzählen. Bald startet die sechste Staffel. Schlüssel zum Erfolg sind die beiden Moderatoren.

Im Wohnwagen öffnen sie ihr Herz; alt und jung, Mann und Frau – wer bei Lionel und Jean-François im Wohnwagen Platz nimmt, scheint das Mikrofon zu vergessen, regelmässig fliessen die Tränen, sei es bei einer Liebeserklärung oder beim Blick auf das Leben.

So etwa bei Emilie, die ins Wohnwagenstudio kam, als «Caravan FM» bei einem Genfer Theaterprojekt für Schulabbrecherinnen und -abbrecher Halt machte. Welchen Rat sie Heimkindern mit auf den Weg geben würde, fragen die Moderatoren. «Uh, du packst mich bei den Emotionen. Da muss ich an mich selber denken», sagt Emilie und hält einen Moment inne. «Ich würde sagen: Verliere nie die Hoffnung, in der Zukunft gibt es immer etwas Schöneres, das auf uns wartet. Was wir erleiden, macht uns stärker.»

Oder beim Besuch von «Caravane FM» in Boudry, einem Winzerdorf am Neuenburgersee. Ein älterer Herr, dessen Familie seit fünf Generationen im Ort wohnt, erzählt unter Tränen, seine Frau, mit der er seit 50 Jahren verheiratet ist, verdiene die Goldmedaille. Und mit einem Lacher ergänzt er, er liebe sie.

Seit 2017 sind die beiden Moderatoren Lionel Frésard und Jean-François Michelet bereits dreissig Mal mit ihrem Wohnwagen ausgerückt.

Die Szenen gleichen sich und sehen doch jedes Mal wieder anders aus. Weder die Sendungsmacher noch das Publikum wissen im Voraus, was sie genau erwartet. Identisch bleibt der Rahmen: Ein Wohnwagen, französisch Caravane, steht zwei Tage an einem Ort in der Westschweiz, meist dort, wo man nicht alle Tage vorbeikommt. Im Wohnwagen empfangen zwei Moderatoren lokale Gäste zum Gespräch und spielen ihre Musikwünsche. Neben dem Wohnwagen ragt eine Antenne in den Himmel. 48 Stunden lang sendet sie Gespräche und Musik via UKW, französisch FM, im Umkreis des improvisierten Studios. Das breite Publikum sieht schliesslich am Fernsehen einen 52-minütigen Zusammenschnitt des temporären Hyperlokalradios. Das sind die Zutaten von «Caravane FM».

Seit 2017 sind die beiden Moderatoren Lionel Frésard und Jean-François Michelet bereits dreissig Mal mit ihrem Wohnwagen ausgerückt. Neben den auch in der Deutschschweiz bekannten «Vincent et Vincent» sind «Lionel et Jean-François» das zweite Komiker-Duo, das einer Sendung des Westschweizer Radio und Fernsehen RTS den «Kult»-Stempel aufzudrücken vermag. Ab dem 12. Oktober 2022 zeigt RTS die sechste Staffel von «Caravane FM». Als erstes wird man die Folge aus dem Weiler Reppaz oberhalb von Orsières im Unterwallis sehen.

Ursprünglich stammt das Format aus Belgien. Dort war es unter dem Namen «Radio Gaga» bekannt. Auf einem Branchentreffen der französischsprachigen Service-public-Sender 2016 in Kanada wurde das Westschweizer Radio darauf aufmerksam und lizenzierte «Radio Gaga», tauschte aber den Namen aus. Wobei der Name anfänglich beim Ü40-Publikum für Verwirrung sorgte, da das Westschweizer Fernsehen Ende der 1980er Jahre eine Satiresendung ausstrahlte, die «Carabine FM» hiess.

Ganz so spontan, wie der Austausch vor dem Mikrofon in der fertigen TV-Sendung daherkommt, entsteht er aber nicht.

Ein wahrer Glücksgriff gelang RTS mit der Wahl von Lionel Frésard und Jean-François Michelet als Moderatoren dieser ungewöhnlichen Gesprächssendung. Die beiden Schauspieler kannten sich bereits und harmonieren bei «Caravane FM» perfekt. «Wir sind weder Journalisten noch Psychologen», betonte Lionel Frésard kürzlich im Gespräch mit Radio RTS. «Wir haken nicht nach, wir halten nicht den Fuss in der Tür, wenn jemand nicht will. Dann schliessen wir die Tür und reden über etwas anderes.» Das sei insbesondere bei Kindern wichtig. «Die wissen sehr genau, worüber sie reden wollen und worüber nicht.»

Als Gastgeber prägen die Moderatoren das Gesprächsklima. Ganz so spontan, wie der Austausch vor dem Mikrofon in der fertigen TV-Sendung daherkommt, entsteht er aber nicht. Hinter den Kulissen arbeiten 15 Leute für «Caravane FM», die den Kontakt zu den Leuten vor Ort suchen, bereits Wochen bevor der Wohnwagen vorbeikommt, und sie auf einen möglichen Auftritt vor dem Mikrofon vorbereiten. «Die Leute fragen uns: ‹Worüber sprechen wir?› Und wir sagen dann: ‹Das wissen wir nicht.› Meistens beginnen wir dann mit dem Ort, wo wir uns befinden, das ist oft der Startpunkt. Das hilft. So beginnen sie dann zu erzählen.»

Bei aller sorgfältigen Vorbereitung bleibt Raum für Unvorhergesehenes. «Wir verplanen aber nicht alles auf die letzte Sekunde und lassen bewusst Lücken im Ablauf», sagt Moderator Lionel Frésard. Schliesslich gebe es Leute, die sich erst beim dritten Anlauf getrauten, öffentlich zu reden.

Die Kamera immer wieder jene Momente ein, wenn jemand zuhause am Empfangsgerät gerade mithört, was ihre Bekannten oder Verwandten im Wohnwagenstudio erzählen.

Mit seinen verschiedenen Vermittlungsebenen ist «Caravane FM» ein einzigartiges Medienformat. Vor Ort wird der Wohnwagen zum temporären Treffpunkt. Rund um das mobile Studio versammelt sich das lokale Publikum, das ganz ohne technischen Sender und Empfänger den Worten ihrer Bekannten lauscht. Wenige Meter weiter in den Häusern, Wohnungen und Zimmern der Dörfer, Quartiere oder Institutionen, hören die Leute an den Radiogeräten eine Talk- und Musiksendung. Zu den Ritualen von «Caravane FM» gehört, dass die Moderatoren nach der Ankunft vor Ort Radiogeräte verteilen, die bereits die passende Frequenz voreingestellt haben. Das Fernsehpublikum schliesslich sieht weniger, als das lokale Publikum vor Ort hört; der TV-Zusammenschnitt dauert mit 52 Minuten nur einen Bruchteil der gesendeten Radiostunden. Gleichzeitig sieht man am Fernsehen aber auch mehr: So fängt die Kamera immer wieder jene Momente ein, wenn jemand zuhause am Empfangsgerät gerade mithört, was ihre Bekannten oder Verwandten im Wohnwagenstudio erzählen.

Das TV-Format ist eine Gratwanderung, schliesslich lebt «Caravane FM» von der Gesprächsbereitschaft seiner Gäste, die sich auch deshalb so offen zeigen, weil es sich um ein Hyperlokalradio mit begrenzter Reichweite handelt. Um diese Intimität bis zu einem gewissen Grad zu wahren, führt die Sendung kein Archiv. Nach 90 Tagen werden die einzelnen Folgen von der RTS-Website entfernt.