von Marko Ković

Elon Musk und Twitter: Alle Rede ist frei, aber manche ist freier

Der reichste Mensch der Welt wollte Twitter zu einer Bastion der freien Rede umbauen. Stattdessen hat er die Plattform innerhalb weniger Tage ins Chaos gestürzt. Elon Musk muss nun auf die harte Tour lernen, dass sich freie Rede ohne Regeln kommerziell nicht lohnt.

Er hatte es sich so einfach vorgestellt. Im April erklärte Elon Musk, dass er für Twitter eine Zukunft als «Free Speech»-Plattform vorsehe: Auf Twitter solle im Sinne der freien Rede grundsätzlich alles erlaubt sein, was nicht explizit gesetzlich verboten ist. Mit dieser Ankündigung avancierte Musk im Nu zu einem Liebling in libertären, rechtskonservativen und rechtsextremen Kreisen. Dieses Milieu sieht Einschränkungen von Hassrede und Desinformation als «Zensur», wenn nicht gar als grossangelegte linke Verschwörung. Twitter sanktionierte bisher nicht nur Hassrede, mit der direkt zu Gewalt aufgerufen wurde, sondern auch Inhalte wie rassistische Beschimpfungen, mit denen Personen oder Gruppen wiederholt erniedrigt werden.

Kurz nachdem Musk Twitter am 27. Oktober übernommen hat, schien der rechte Traum einer «zensurfreien» Plattform denn auch in Erfüllung zu gehen. Twitter erlebte unmittelbar nach Musks Übernahme eine regelrechte Explosion von Hassrede. Am Tag nach der Übernahme wurden 50 Mal mehr Tweets mit Hassbegriffen, etwa dem N-Wort, veröffentlicht als zuvor.

Doch die Freude des Hassmobs währte nur kurz. Twitter griff rigoros durch und löschte zahlreiche Hassposts und sperrte viele zumeist anonyme Konten, die Hassrede verbreiteten. Und als Musk – entgegen seiner ursprünglichen Ankündigung –, erklärte, dass Twitter Inhalte doch zumindest ein Stück weit auch in Zukunft moderieren werde, wandten sich viele seiner rechtsextremen Bewunder*innen enttäuscht von ihm ab.

Musks Twitter-Debakel zeigt, dass der reichste Mensch der Welt wohl nicht der rationalste ist.

Das war aber nur der Beginn der Turbulenzen. Musk stürzte Twitter innerhalb weniger Tage regelrecht in ein Chaos: Er entliess 3700 der insgesamt rund 7500 Angestellten; feilschte öffentlich, wie auf einem Basar, über den Preis für die Erweiterung des Bezahlangebots «Twitter Blue»; verbreitete auf seinem Account eine bizarre Verschwörung zu einem gewalttätigen politischen Angriff; kündigte massive Reduktionen der Serverkapazitäten an; und drohte, Werbekunden zu boykottieren, wenn sie auf Twitter keine Werbung mehr schalten.

Musks Twitter-Debakel zeigt, dass der reichste Mensch der Welt wohl nicht der rationalste ist. Sein impulsives Vorgehen zeugt von wenig strategischer Planung. Musk und sein Berater-Team haben in den letzten Wochen einen Crashkurs über freie Rede auf Social Media durchgemacht, in dem sie in mindestens dreifacher Weise auf dem Boden der Realität angekommen sind.

1. Hass und Desinformation vergraulen Werbekunden

Elon Musk steht unter enormem Druck, Twitter so schnell wie möglich maximal profitabel zu machen. Um den Übernahme-Deal zu finanzieren, nahm Musk Kredite in der Höhe von 13 Milliarden US-Dollar auf, die er als Schulden an Twitter übertragen hat. Das Unternehmen muss nun jedes Jahr eine Milliarde Dollar allein an Zinsen zahlen.

Die zentrale Einnahmequelle von Twitter ist Geld aus der Werbung. Dass Twitter ohne kommerzielle Erträge nicht überleben würde, verstand auch Musk, als er am 27. Oktober, dem Tag der Übernahme, einen Brief an Werbekunden veröffentlichte. Darin verabschiedete er sich von seinen zuvor geäusserten puristischen «Free Speech»-Ambitionen und versicherte stattdessen, dass Twitter auch in Zukunft ein Ort sein werde, wo sich alle «wohl fühlen».

Werbekunden, die ihre Anzeigen aus Reputationsgründen nicht in der Nähe von Hassrede oder Desinformation sehen wollen, liessen sich davon allerdings nicht überzeugen. Nebst der einmaligen Welle an Hass unmittelbar nach der Übernahme dürfte sie Musks allgemeiner Umgang mit Desinformation verunsichert haben.

Über Kritik an seinem Vorgehen machte sich Musk lustig – unter tosendem Twitter-Applaus seiner rechten Fans.

Paul Pelosi, Ehemann der Sprecherin Nancy Pelosi des US-Repräsentantenhauses, wurde am 28. Oktober von einem verschwörungsideologisch radikalisierten Extremisten lebensgefährlich angegriffen; sein eigentliches Ziel war Nancy Pelosi. Rechte und rechtsextreme Kreise verbreiteten zum Angriff grosse Mengen an Desinformation. Elon Musk schlug in die gleiche Kerbe, als er am 30. Oktober einen Artikel einer bekannten Fake-News-Seite auf seinem Twitter-Konto teilte, der Zweifel am politischen Motiv der Gewalttat gegen Pelosi säte. Über Kritik an seinem Vorgehen machte sich Musk lustig – unter tosendem Twitter-Applaus seiner rechten Fans.

Im Zuge der massiven Personalreduktion bei Twitter wurde auch ein grosser Teil der Mitarbeitenden gefeuert, die für das Monitoring von Falsch- und Desinformation verantwortlich waren. Dies kurz vor den «Midterm»-Wahlen in den USA vom 8. November. Die Zeit unmittelbar vor und nach Wahlen ist ein besonders sensibler Moment für Desinformation. Einerseits, weil Desinformation Menschen dann direkt in ihrem Wahlverhalten beeinflussen kann. Andererseits, weil die Präsidentschaftswahlen 2020 gezeigt haben, dass ein Informationschaos nach den Wahlen einen Nährboden für Hass und Radikalisierung bildet. Musk reduzierte Twitters Kapazitäten gegen Desinformation in einem für die US-Demokratie denkbar schlechten Moment.

Eine Reihe wichtiger Kunden wie United Airlines, General Motors oder Pfizer haben ihre Werbeaktivitäten auf Twitter sistiert. Sie wollen ihre Anzeigen nicht in einem Umfeld von Hass und Desinformation platziert sehen.

2. Hass und Desinformation vergraulen User

Am 28. Oktober verkündete Musk, im Geiste der freien Rede, dass «Humor auf Twitter nun legal» sei. Diesen Appell nahmen sich viele Twitter-User zu Herzen – und machten sich über Musk und seine laxe Haltung zu Desinformation lustig, indem sie Profilbild und -namen zu jenem von Elon Musk änderten. Damit posteten sie Scherze wie diesen hier: «Ich unterstützte die freie Rede auf Twitter, solange man sich nicht lustig macht über mich, das ist verboten.» Dieser Humor auf seine Kosten war offenbar nicht ganz nach Musks Geschmack. Zunächst reduzierte Twitter die Sichtbarkeit von Konten, die sich diesen Scherz erlaubten, mit einer «vorübergehenden Einschränkung». Ab dem 7. November wurden diese Konten dann gänzlich gesperrt.

Bei den Musk-Parodie-Konten handelt es sich zwar um Desinformation, aber sie ist vergleichsweise harmlos. Ganz grundsätzlich gilt aber: Wenn eine Plattform Desinformation duldet, dann steigen Verunsicherung und Manipulationsgefahren. Das nagt letztlich an den zentralen Ressourcen einer Plattform: Am Vertrauen der Nutzer*innen und an der Qualität der Inhalte. Wenn Spam aus dubiosen Quellen Überhand nimmt, wird eine Plattform nutzlos. Auch darum dürfte Musk bis jetzt Donald Trumps Twitter-Konto nicht entsperrt haben.

Die Abwanderung ist bisher mit rund einer Millionen Nutzer*innen noch klein, aber nicht irrelevant.

Dass Musk, entgegen seiner ursprünglichen Ankündigung, die Spielregeln für Inhalte auf Twitter (trotz starker Reduktion beim Personal, das die Regeln umsetzt) vorerst in Kraft lassen möchte, erlebten Musks rechte bis rechtsextreme Fans als grosse Kränkung. Aber das musste Musk in Kauf nehmen, um die Bühne nicht sofort gänzlich den schrillsten Schreihälsen zu überlassen. Das soll nicht heissen, dass die bisherige, reichlich willkürliche Moderations-Praxis von Twitter unproblematisch war.

Aber gar nichts mehr zu machen, führt letztlich zu einem User-Exodus. Die Abwanderung ist bisher mit rund einer Millionen Nutzer*innen noch klein, aber nicht irrelevant, zumal auch reichweitenstarke Influencer*innen und sonstige Promis, zum Beispiel der Schauspieler George Takei, die Sängerin Toni Braxton oder die Autorin Shonda Rhimes, laut darüber nachdenken, Twitter den Rücken zu kehren. Die meisten Menschen fühlen sich in einer Hass- und Desinformations-Echokammer nicht wohl.

3. Verifikation der User-Identität ist wichtig

Twitter kennt seit über einem Jahrzehnt ein Verifikationssystem: Konten von Personen und Organisationen, die im weitesten Sinn von öffentlichem Interesse sind, erhalten einen kleinen blauen Haken neben ihrem Benutzer*innen-Namen. Damit wird signalisiert, dass es sich tatsächlich um diese Person handelt und nicht um jemand anderes, der sich nur als diese ausgibt. Bei Promis kommt es häufig vor, dass es unzählige Konten gibt, die auf ihren Namen lauten.

Dieses Verifikationssystem war immer willkürlich und limitiert; wer wann eine Verifikation erhält, entschied Twitter nach ausgesprochen vagen und intransparenten Kriterien. Aber es war immerhin eine kleine Hilfe in einem Umfeld, das voll von Täuschung und Desinformation ist.

Damit ist nun Schluss. Musk will die Verifikation komplett umkrempeln. Neu soll der blaue Haken Teil eines kostenpflichtigen «Twitter Blue»-Abonnements sein. (Konten, die vor der Änderung einen blauen Haken hatten, dürfen diesen «vorläufig» kostenlos behalten.) Der Haken wird damit nicht mehr eine Verifikation der Identität des Kontos sein, sondern bloss ein Statussymbol für jene, die bereit sind, dafür acht Dollar pro Monat zu zahlen. Zusätzlich sollen die Abonennt*innen weniger Werbung sehen und ihre Inhalte sollen auf der Plattform prominenter sichtbar sein als Inhalte von Leuten ohne Abo. Unter Musk ist offenbar alle Rede frei, aber manche Rede ist freier als andere.

Musk scheint trotz aller Kritik an seinem Plan festzuhalten, das Verifikationssystem abzuschaffen.

Diese Entscheidung ist aus zwei Gründen schlecht. Erstens schafft Twitter damit ein zwar mangelhaftes, aber etabliertes System zur Verifikation von Nutzer*innen ab. Zweitens, und gefährlicher: Twitter bietet Desinformation eine willkommene Tarnung. Nach über zehn Jahren sind sich User gewohnt, dass der blaue Haken für die Verifikation der Identität einer Person steht. Wenn nun ein Fake Account, der Desinformation streut, einen blauen Haken kauft, dürften das viele Menschen weiterhin als ein Signal von Glaubwürdigkeit interpretieren. Und da das Abo für den blauen Haken neu auch bessere Sichtbarkeit bedeutet, könnte die Desinformation so ein grösseres Publikum erreichen.

Musk scheint trotz aller Kritik an seinem Plan festzuhalten, das Verifikationssystem abzuschaffen und es durch ein Abo ohne Verifikation zu ersetzen. Damit bringt er sich in eine Situation, in der er fast nur verlieren kann. Sollte sein Plan aufgehen und Twitter mit dem neuen Abo die gewünschten Einnahmen generieren, signalisiert Musk damit, dass er Desinformations-Chaos in Kauf nimmt, solange die Kasse stimmt. Sollte das neue Abo ein Flop werden, trägt Musk damit weiter zum allgemeinen Gewirr und der Ungewissheit auf Twitter bei.

Fazit: Ohne Regeln implodiert freie Rede

Es ist kein Zufall, dass Plattformen wie 4chan, Gab oder Parler, die auf uneingeschränkte freie Rede setzen, nur ein relativ kleines Publikum und nur wenige Werbekunden anziehen, weil dort vor allem Verschwörungsrede und Hass dominiert. Das verunmöglicht eine zivilisierte, pluralistische Debatte. Ein solches Umfeld ist für die meisten Menschen und den Grossteil potenzieller Werbekunden nicht attraktiv.

Freie Rede funktioniert dann – und nur dann –, wenn wir im Rahmen wohlüberlegter Regeln miteinander diskutieren. Diese Regeln müssen darauf ausgelegt sein, eine aufrichtige Meinungsbildung (keine bewusst gestreute Desinformation) unter Beteiligung möglichst aller (kein Hass gegen Personen und vulnerable Gruppen) zu ermöglichen. Diese Lektion lernt nun auch Elon Musk. Zum Schnäppchenpreis von 44 Milliarden Dollar.

Leserbeiträge

Michael R. Schneider 08. November 2022, 17:39

Ihr Meinungsartikel bringt einige Stichworte, die eine nähere Beschäftigung lohnen. Dazu sollte man sich aber um objektive Fakten bemühen und Ihr Framing ist da wenig hilfreich. Geradezu lächerlich wirkt Ihre Argumentation zur Einordnung von Hassrede angesichts des  Ratten-Vergleichs eines LA ARD-Reporters.