von Herwig G. Höller

Der Sinn der Kampusch-Kampagne

Kampusch und kein Ende: «20 Minuten Online» will den Entführungsfall «neu erzählen» und berichtet seit Mitte Februar in einer aufwändigen Serie. Viele wundern sich: weshalb? Und weshalb jetzt? Was das Ganze mit Männerphantasien, einer Krimiserie und subtiler Wahlkampfhilfe für die FPÖ zu tun hat. Eine österreichische Sichtweise.

Nahezu verdächtig viel haben sie sich angetan, die Kollegen aus der Schweiz: Da wurden Ermittlungsakten eingesammelt und aufbereitet, Interviews gedreht, zahlreiche Texte verfasst, Infografiken erstellt und Videos geschnitten. Und obwohl es in dieser Geschichte nicht ansatzweise einen Bezug zur Schweiz gibt, hat es just dieser österreichische Fall, die Entführung der Natascha Kampusch, der Online-Redaktion von «20 Minuten» extrem angetan. Zum kürzlichen Fernsehinterview im ORF machte man gleich einen Liveticker – wenig überraschende Statements eines Verbrechensopfers wurden derart zum unglaublich Wichtigen hochstilisiert. In ihrer Übertriebenheit grenzt diese Kampusch-Berichterstattung von 20min.ch dabei bisweilen an Realsatire.

Die Geschichte einer zehnjährigen Wienerin, die von einem Radiotechniker entführt wird, ist in groben Zügen bekannt. Erst nach acht Jahren kann Natascha Kampusch fliehen, Entführer Wolfgang Priklopil begeht infolge Selbstmord – im Sommer 2006 schrieb der Fall weltweit Schlagzeilen. In Österreich sorgte er seitdem für innenpolitische Diskussionen – vor allem in Bezug auf mögliche Ermittlungspannen. Gleichzeitig machten Verschwörungstheorien über einen «Kinderpornoring» die Runde.

Natürlich schrieben auch ausländische Medien darüber: Zuletzt sorgte ein kurzer Artikel im deutschen Nachrichtenmagazin «Spiegel» Ende Februar für Wirbel. Der konservative Politiker Werner Amon, er ist Mitglied in einem parlamentarischen Ausschuss zum Thema, hatte erklärt, dass die (von Staatsanwaltschaft und Gericht präferierte, Anm.) Einzeltätertheorie nur schwer aufrechtzuerhalten sei. Wobei kritische Beobachter diese Aussage einerseits als Ablenkung von Korruptionsskandalen, die auch Amons ÖVP betreffen, verstanden wurde. Andererseits hat die Redaktion in Hamburg womöglich die kriminalistische Kompetenz eines österreichischen Parlamentariers und der hiesigen parlamentarischen Ausschüsse massgeblich überschätzt.

Auch 20min.ch berichtete über den parlamentarischen Ausschuss. Und titelte mit «Die Bombe liegt im Parlamentskeller». Verglichen mit allen anderen Medien steht der Kampusch-Overkill des Schweizer Onlinemediums bislang völlig einzigartig da. In einer gnadenlosen boulevardesken Zuspitzung wurden Verschwörungstheorien breitgewalzt – und, ohne dass es dafür ein erkennbares öffentliches Interesse gäbe, auf Beteiligte und insbesondere auch das Opfer ins Visier genommen.

Kampusch selbst wird implizit stets vorgeworfen, gelogen zu haben. Würde man ihren Aussagen glauben, gäbe es keinen Grund mehr über einen «Kinderpornoring» zu spekulieren. Gleichzeitig bliebt substantiell Neues aus. Das «exklusiv» veröffentlichte Foto der Leiche des Entführers beweist noch lange nicht, dass dieser nicht Selbstmord begangen habe.

Warum sich 20min.ch so intensiv mit Kampusch beschäftigt, bleibt auf den ersten Blick nicht nachvollziehbar. Sie habe sich laut «diversen Dokumenten» mehr als einmal widersprochen, heisst es etwa im Video, das die Serie vorstellt. Oder: «Die geheimen Akten zeigen, dass sich die Story anders abgespielt haben dürfte.» Gerade aus einer ausländischen, distanzierteren Sicht müsste das eine ziemlich dünne Suppe sein. Es bedarf also anderer Erklärungsmodelle.

Der Fall Kampusch zeichnet sich seit jeher dadurch aus, dass er insbesondere auf ältere Männer eine grosse Ausstrahlungskraft ausübt. Vor allem Justizvertreter zeigten sich anfällig. Gedanken darüber, was diesem armen Mädchen und vielleicht auch noch anderen alles angetan worden sein könnte, lassen gleich mehrere österreichische Richter nicht mehr los: Bereits kurz nach dem Verschwinden der damaligen Schülerin startete ein pensionierter Bezirksrichter private Ermittlungen.

Nach dem Ende von Kampuschs Gefangenschaft beschäftigte sich eine Evaluierungskommission mit der Causa – zwei pensionierte Höchstrichter aus der Kommission glauben seit damals aufrichtig an ungeklärte Hintergründe des Kriminalfalls. Und gingen Whistleblower-artig an die Öffentlichkeit – im festen Glauben künftige Verbrechen damit verhindern zu können.

Womöglich ist auch die 20min.ch-Redaktion der Faszination eigener Vorstellungen erlegen und psychologisch da hineingekippt. Und glaubt nun wie die erwähnten Richter, durch das öffentliche Thematisieren dieses Falles etwas gegen «Kinderpornoringe» unternehmen zu können. Kampagnen gegen pädophile Täter sind dem Boulevard nicht fremd – insbesondere die mittlerweile eingestellte britische Wochenzeitung News of the World hatte sich diesbezüglich einen Namen gemacht.

Die «Kampusch-Story» von 20min.ch, so suggeriert insbesondere das Überblicksvideo zur Serie, erinnert in einer Aufmachung bisweilen eher an einen fiktiven Krimi. Dieser spielt natürlich mit Klischees von einem armen Mädchen und bösen Männern aus Österreich, die offensichtlich – Freud lässt grüssen – Probleme mit ihrer Sexualität haben. Der Seriencharakter sorgt zudem für Kundenbindung.

Was die Zugriffszahlen betrifft, hat das Sujet offenbar sein Ziel nicht verfehlt. 20min.ch-Chefredaktor Hansi Voigt schrieb auf Twitter von «Allzeit-Rekorden». Eine Expansion von «20 Minuten» nach Österreich bezeichnete Voigt dagegen – passend zur Kampusch-Serie – als «Verschwörungstheorie». Jedenfalls verdeutlicht die Serie eindrucksvoll, wie problematisch es sein kann, wenn Medien Ermittlungsakten zugespielt bekommen und sie diese vor allem für reisserische Aufmacher verwenden. Was dann oft nur noch ganz wenig mit der so wichtigen Kontrollfunktion der «Vierten Gewalt» zu tun hat.

Auch der österreichische Kontext sollte nicht ausser Acht gelassen werden: 20min.ch wurde reichhaltig mit Ermittlungsakten eingedeckt, die Quellen werden nicht offengelegt. Zahlreiche Personen kommen dafür in Frage, aber auch Medien und Politiker verfügen über Akten. Ein besonderes Interesse den Fall aufzublasen hat die Rechtsaussenpartei FPÖ, die diesbezüglich zuletzt auffällig aggressiv agierte.

Wohl nicht zufällig hat kürzlich ein Wiener Polizist und FPÖ-Funktionär auf eigene Faust versucht, DNA-Proben einer angeblichen Tochter von Natascha Kampusch sicherzustellen. Das FPÖ-Kalkül liegt auf der Hand: 2013 wird der österreichische Nationalrat neu gewählt und je mehr man im langsam beginnenden Wahlkampf über das rechte Lieblingsthema «Kinderschänder» sprechen kann, desto besser. In einer Google-Welt kann hier auch 20min.ch hilfreich sein.

Internetoffensive der österreichischen Justiz
Das Wiener Justizministerium hat am vergangenen Freitag (9.3.) ein zentrales Dokument zur Causa Kampusch ins Internet gestellt. Der pensionierte Höchstrichter Johann Rzeszut, der auch prominent auf 20min.ch vorkommt, hatte 2010 all jene Staatsanwälte, die an der Einstellung des Verfahrens beteiligt waren, wegen Amtsmissbrauch angezeigt. Die Oberstaatsanwaltschaft Innsbruck entschied am 23.11.2011, dass die Einstellung von Ermittlungen rechtmässig war. In der nun veröffentlichten Einstellungsbegründung wird dies auf mehr als 300 Seiten ausführlich erörtert.

Leserbeiträge

falter-falter-flatter 12. März 2012, 11:46

Sehr interessant, dass ausgerechnet ein Österreicher (natürlich vom Falter) das österreichische Ansehen im Ausland wieder anpatzen muss. Warum kommt die Analyse nicht von einem Schweizer?
Der geschriebene Artikel ist somit überhaupt nicht seriös, wo doch bekannt ist, dass sich Falter und FPÖ überhaupt nicht vertragen.

Warum hat eigentlich nicht Thurnheer einen Artikel geschrieben?

Herwig G. Höller 13. März 2012, 11:07

Flatter, ein herrliches Gegenargument. Dass sich die FPÖ auffällig in der Causa engagiert – das hat absolut nichts mit dem Falter zu tun. Einfach 20min.ch lesen – da werden Sie viele Indizien dafür finden. Etwa was die „Kindergeschichte“ betrifft… http://www.20min.ch/news/dossier/kampusch/story/16224101

Maria 04. Juni 2012, 00:58

Ich finde, dass das Benehmen von Politikern wie Herrn Jenewein (dringliche Anfrage über String-Tangas) dem Ansehen Österreichs im Ausland schaden. Als Auslands-Österreicher kann man sich nur schämen. Zum Glück interessieren sich die ausländischen Medien nur selten für Österreich. Aber der Ruf einer gewissen Lächerlichkeit (Bananenrepublik) scheint nicht ganz ungerechtfertigt, wie z.B. auch die Ausschlachtung des Falles Kampusch zeigt.

Paul Unternährer 12. März 2012, 13:56

diese story hätte ich in einer tageszeitung erwartet. es ist stossend, wie weit zuspitzen mittlerweile im schweizer boulvard geht. news of the world ist 20min nur knapp voraus. das thema war für 20min ideal. alle wissen davon, aber niemand genaues. dabei bittet die story alle ingredienzen, die eine boulvard-süppchen braucht, sex, gewalt, verschwörung, politik, ausländer…. weil vieles noch laufende ermittlungen sind, kann man schmieren bis zum exzess…

und falter-falter-flatter ist der beweis, dass die ta-medien kein interesse an einer wahrheitsgetreuen aufarbeitung haben.

Satan 15. März 2012, 21:14

Wer die Bekämpfung von Kinderschändern als „rechtes Lieblingsthema“ bezeichnet, hat imho voll einen an der Klatsche…

A.S. 16. März 2012, 11:22

Ein ziemlich leerer Artikel, kommt nicht auf den Punkt, kann keine guten Argumente für seine These (Titel) bringen… erstaunlich! Vor allem wenn man bedenkt, dass der Autor genau die Art von Berichterstattung anprangert.

W.G 16. März 2012, 19:03

der artikel kommt nicht auf den punkt. ist doch allemal erstaunlich, dass eine website, die sonst schweizer politik mit agentur meldungen begleitet, angeblich auf einmal recherchiert….

ich wäre verwundert, hätte ich’s gelesen….

Maria 04. Juni 2012, 00:54

Als Auslandsösterreicherin kann ich mich nur schämen, wie in Österreich mit einem Entführungsopfer umgegangen wird.

Haben diese FPÖ-Politiker wirklich nichts besseres zu tun, als dringliche Anfragen über Fr. Kampuschs Unterwäsche zu stellen? Einfach nur peinlich!

Geradezu beleidigend ist dieser Kröll-Bruder, der sich nicht entblödet, zu behaupten, dass es Fr. Kampusch in ihrer Gefangenschaft eigentlich eh viel besser gegangen sei als zu Hause!!! Widerlich.

Hansi Voigt 30. Juli 2012, 22:46

Sagen Sie mal, Herr Höller,
jetzt stolpere ich hier, ein halbes Jahr nach Erscheinen, erneut über Ihren Ausdruck des Erstaunens, weshalb sich 20 Minuten Online mit dem Fall Kampusch beschäftigt. Erneut lese ich Ihre umfangreiche Antwort und meine zwei dürren, aus dem Zusammenhang gerissenen, Twitter-Zitate.

Weshalb haben Sie eigentlich nie mit mir gesprochen oder mich angeschrieben, sondern einfach veröffentlicht, ohne mich, bzw. die Gegenseite, je anzuhören? Weil meine Antworten Ihre Thesen und Ihren freien Formulier- und Fabulierfluss gebremst hätten?

Das haben wir aber anders in der Journalistenschule gelernt, oder? Oder war das gar nicht journalistisch gemeint, sondern einfach so…, …, irgendwie,…ach egal?

Mit freundlichen Grüssen, Hansi Voigt, Chefredaktor, 20 Minuten Online

Chris Dubler 31. Juli 2012, 13:48

Lustig, „das war jetzt nicht journalistisch gemeint“ könnten Sie eigentlich unter jede Publirep^H^H^H^H^H^H^Hjeden Artikel schreiben.