Rettet die Fakten!
Sie tun eigentlich nur das, was Journalismus im Kern ausmacht: Faktencheck-Portale prüfen Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt und ordnen sie in einen breiteren Kontext ein. Der globale Boom dieser spezialisierten Plattformen kann als Reaktion gesehen werden auf die anhaltende Vertrauenskrise der Medien. Doch auch die Faktenprüfer stehen in der Kritik.
«Fakten, Fakten, Fakten», lautete der Leitsatz des ehemaligen «Focus»-Chefredakteurs Helmut Markwort, den er jede Woche im Werbefernsehen vortrug. Das ist inzwischen schon ein paar Jahre her, und auch der «Focus» hat schon bessere Zeiten erlebt. Doch irgendwas muss mit diesen Fakten passiert sein. Auf der ganzen Welt schiessen Faktencheck-Portale wie Pilze aus dem Boden: von Montevideo über Mexiko City bis in den Himalaya nach Nepal.
Allein in den USA gibt es ein gutes Dutzend spezialisierter Angebote zur Überprüfung von Fakten. «FactCheck.org» oder «PolitiFact.com» prüfen Aussagen von Politikern. Daneben betreiben auch grosse Zeitungen wie die «Washington Post» oder «New York Times» eigene Faktencheck-Portale, auf denen sich die Leser über den Wahrheitsgehalt von Aussagen informieren können.
In Grossbritannien hat Hugo Dixon, ein ehemaliger Journalist der «Financial Times», die Seite «InFacts» aufgebaut, die mit grossem Aufwand Fakten aus der Politik und Presse untersucht. Das Portal agiert der Form und Inhalt nach wie ein Medium. Gut 20 namhafte Journalisten, darunter der ehemalige Chefredakteur des «Guardian», Alan Rusbridger, die ehemalige Chefredakteurin von «Le Monde», Natalie Nougayrède, sowie der «Spiegel Online»-Kolumnist Wolfgang Münchau prüfen Argumente und Aussagen auf ihre Stichhaltigkeit.
In Deutschland, wo der Begriff des «Faktenchecks» durch Frank Plasbergs Diskussionsformat «Hart, aber fair» popularisiert wurde, gab es im «Zeit-Magazin» einen «Faktomat», bei dem Leser Aussagen von Politikern, die sie für unglaubwürdig hielten, vorschlagen, die von der Redaktion geprüft wurden. Das Format wurde nach sieben Folgen wieder eingestellt. Der «Spiegel»-Journalist Hauke Janssen hat zur Bundestagswahl 2013 den «Münchhausen-Check» herausgebracht, den er in loser Folge online fortsetzte.
In der Schweiz prüfen Journalistinnen und Journalisten des Tages-Anzeigers regelmässig Aussagen, die in der SRF-Diskussionssendung «Arena» getroffen werden. Dabei greifen sie rund zehn kontroverse Behauptungen heraus, überprüfen sie auf Stichhaltigkeit und Faktengehalt. Jede überprüfte Behauptung wird schliesslich auf einer Skala zwischen falsch und richtig eingestuft.
Doch nicht nur in den USA und Europa, sondern auch in Ländern, wo Journalisten mit dem Tod bedroht werden, gibt es Faktencheck-Portale. In Nigeria, das in der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation «Reporter ohne Grenzen» auf Platz 116 von 180 liegt, prüft die Seite «Buharimeter» die Wahlversprechen von Präsident Muhammadu Buhari. Zum Beispiel, die Verwaltungskosten zu senken. Nutzer können das jeweilige Wahlversprechen kommentieren. Unterstützt wird das Projekt vom Centre for Democracy and Development (CDD).
In Nepal betreibt das Portal «South Asia» mit der Unterstützung des Open Society Institute, einer Stiftung des Milliardärs George Soros, einen Faktencheck und «Earthquake Promise Tracker», der die Versprechungen der Geldgeber nach dem schweren Erdbeben im vergangenen Jahr prüft. Das Team verfügt über einen festangestellten Redakteur sowie zwei Reporter, die investigativ recherchieren und korrupte Machenschaften aufdecken.
Was erklärt diesen Boom von Faktencheck-Portalen auf der ganzen Welt? Der Journalist Alexios Mantzarlis, Direktor und Redaktor des International Fact-Checking Network am Poynter Institute in Saint Petersburg in Florida, identifiziert vier Gründe:
- Die Zunahme direkter Interaktion zwischen Politikern und der Öffentlichkeit über soziale Medien.
- Die Explosion von Informationsquellen und die damit «konkurrierende Beschleunigung des Nachrichtenzyklus», der den Druck erhöhe habe, Dinge möglichst schnell, aber nicht notwendigerweise korrekt zu publizieren.
- Die begründete oder nicht begründete Perzeption, dass traditionelle Medien diese Arbeit nicht mehr priorisieren, verbunden mit einem wachsenden Misstrauen aller Quellen von Autoritäten.
- Die Abschaffung von Eintrittshürden für Faktenchecker in der medialen Arena. Heute ist praktisch jeder ein Faktenchecker, man kann Aussagen in ein paar Mausklicks überprüfen.
«Alles, was es heute kostet, ein Faktenchecker zu sein, ist Zeit», sagt Mantzarlis im Gespräch mit der Medienwoche. «Man kann seine Ergebnisse online stellen, aber auch kostenlos Daten erschliessen, die vormals unzugänglich waren.» Natürlich ist Zeit auch Geld. Daher haben Organisationen Vorteile gegenüber Einzelkämpfern an der Faktenfront.
Das Faktencheck-Portal PolitiFact.com, ein Projekt der «Tampa Bay Times», das 2009 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, stuft Tatsachen mit seinem «Truth-O-Meter» auf einer Skala von «falsch», «grösstenteils falsch», «halbwahr», «grösstenteils wahr» und «wahr» ein. Die Behauptung des evangelikalen Predigers Pat Robertson, Obamas Stiefvater habe ihn als Kind in der indonesischen Hauptstadt Jakarta auf eine islamische Medresse, eine Koranschule, geschickt, bewertet PolitiFact.com mit «grösstenteils falsch». Medressen gelten als Brutstätten für islamistische Terroristen. Insofern ist diese Behauptung schon starker Tobak, weil sie Obama in die Nähe des Terrorismus rückt. Das Portal hängt sich zunächst an der Definition von Medresse auf, zitiert einen Islamexperten und verweist auf eine Erinnerung Obamas, wonach er eine katholische Schule und dann eine Schule mit überwiegender muslimischer Mehrheit besuchte. Das Faktencheck-Portal gibt hier in falsch verstandener Nuancierung Robertson teilweise Recht und kommt zu dem Ergebnis, dass die Aussage «grösstenteils falsch» sei. Das impliziert aber auch, dass sie teilweise richtig ist. So bleibt ein Restzweifel, Obama könnte ja vielleicht doch auf einer Medresse gewesen sein. Der Befund stützt damit mehr eine nachweislich falsche Tatsachenbehauptung als dass er sie klar widerlegen würde.
Die US-Faktencheck-Seite Snopes.com bewertet die Frage, ob der Orlando-Attentäter Omar Mateen als Wähler der Demokraten registriert war, mit «gemischt» – was schon erkenntnistheoretisch Unsinn ist. Wie kann man eine Entscheidungsfrage mit «gemischt» beantworten? War Mateen nur «ein bisschen» Demokrat? Soll hier etwas relativiert werden? Will man den fatalen Schluss vermeiden, dass die Demokraten Schuld für das Attentat tragen? Dabei lässt sich ganz einfach überprüfen, dass Mateen als Wähler der «Florida Democratic Party» in der Stadt Fort Pierce registriert war.
In den USA stehen Faktencheck-Seiten in der Kritik, politische Schlagseite zu haben. Eine Studie des George Mason University Center for Media and Public Affairs kam 2013 zu dem Ergebnis, dass bei PolitiFact.com die Republikaner deutlich schlechter abschneiden. Aussagen der Republikaner waren dreimal so häufig falsch wie die der Demokraten. Daraufhin kritisierten den Republikaner nahe stehende Medien das Faktencheckportal. Es ist schon paradox: In einer Welt voller Informationen scheint die Verifizierung von Fakten immer schwieriger zu werden. Faktenchecks, die als neutrale, unabhängige Prüfinstanz auftreten, tragen damit selbst zu einer Politisierung von Fakten bei.
Auch Google, das sich selbst als Faktencheck-Portal ausweist, suggeriert eine Evidenz, die es gar nicht haben kann – und manipuliert mutmasslich seine Suchtreffer. Nach dem dritten TV-Duell zwischen Donald Trump und Hillary Clinton war laut Google Trends eine der meistgesuchten (und vermutlich von der identitären Alt-Right-Bewegung befeuerte) Frage: «Wie viele Menschen hat Obama deportiert?» Diese Frage, die eigentlich mehr eine Verleumdung ist und schon gar nicht mehr «faktencheckbar» ist, wird letztlich mit derselben werbeoptimierten Logik beantwortet, wie Google die Frage nach dem besten Café in Brooklyn beantwortet.
Der Soziologe Will Davies hat in einem klugen Beitrag («Thoughts on the sociology of Brexit») die These aufgestellt, dass das Zeitalter der Fakten vorbei sei. Fakten würden durch Daten ersetzt. Fakten im Sinne allgemein überprüfbarer Aussagen – amtliche Statistiken oder universitäre Gutachten – dienten seit der Aufklärung als «autoritative Grundlage» für den politischen Diskurs. Doch mit der Politisierung der Wissenschaft passiert etwas, was die Autorität von Fakten untergräbt: Scheinbar unumstössliche Fakten werden angezweifelt. Man kennt das aus der Klimapolitik: Klimaschützer und Klimaskeptiker überziehen sich mit ideologischen Scharmützeln, jedes Lager hantiert mit eigenen Zahlen und Modellen und versucht seiner «objektiven» Sicht die Autorität wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit zu verleihen. Und offensichtlich misstraut man auch den Faktencheckern.
Der Duke-Professor Bill Adair, Gründer des Portals PolitiFact, tüftelt an einem automatisierten Faktenchecksystem, einem Algorithmus, der Aussagen in Echtzeit als richtig oder falsch identifiziert. Er nennt das den «heiligen Gral der Kommunikation». Der Algorithmus soll als unparteiischer Richter in Diskussionen eingreifen. Wenn also Donald Trump wieder eine seiner berüchtigten Lügengeschichten auftischt, würde der Algorithmus in einer Diskussionsrunde sofort einen Alert melden: «Falsch!». (Es gibt eine lustige Szene aus dem TV-Duell, die die ganze Problematik ironisch verdichtet. Als Clinton flehentlich die Faktenchecker herbeiruft, brüllt Trump mehrfach ins Mikrofon: «Wrong!»). Bloss: Wenn die Suche nach der Wahrheit schon für Menschen schwierig ist, wie soll das dann eine Maschine schaffen?
Algorithmen sind bloss Werkzeuge, das heisst, wenn die Daten, mit denen man sie füttert, verzerrt sind, sind auch die Ergebnisse verzerrt. Zwar kann ein Algorithmus anhand einer Datenbasis sofort prüfen, ob eine Aussage wie «Ich habe noch nie für mehr Waffenkontrolle gestimmt» den Tatsachen entspricht. Bei komplexeren Zusammenhängen wird es schon schwieriger. Vor allem scheint das Instrument insofern nicht reliabel zu sein, als man mit der Widerlegung von Behauptungen jemanden nicht politisch wirksam als Lügner demaskieren kann.
Die «Huffington Post» wies Donald Trump in einer einstündigen Rede 71 Faktenfehler nach. Es schadete ihm nicht, im Gegenteil. Trump erhebt auch schon gar nicht mehr den Anspruch auf Faktentreue. Einer wie Trump ist stark, gerade weil er sich nicht den Vorsichtsregeln der Political Correctness nicht unterwirft, sondern sie genüsslich missachtet. Nach dem Motto: «Wahr ist, was ich euch sage, und nicht die in Washington!». Mit Faktenchecks kann dem Phänomen Trump nicht beikommen. Vor allem: Was hätte es für einen Erkenntnisgewinn, wenn ein Algorithmus die Aussage eines Bots, von denen es in Trumps Twitter-Account rund vier Millionen gibt, verifiziert? Ist das nicht ein Rückfall in mittelalterliches Denken, wo derjenige Recht hatte, der die stärksten Waffen hatte?
Das Magazin «Politico» veröffentlichte im vergangenen Jahr einen lesenswerten Artikel über die «Bewaffnung» von Faktencheckportalen («The Weaponization of Fact-Checking»). Faktenchecks seien zu einer Waffe im politischen Diskurs geworden, mit der man den Gegner Schachmatt setzen kann. Politiker agieren vorsichtiger, weil sie Angst haben, «politifacted» zu werden. Die Folge: Man lässt sich nicht festnageln und beharrt auf einer wolkigen Sprache.
Dass wir einer Maschine die Verifizierung von Fakten überantworten, zeigt auch, dass wir offensichtlich kein Vertrauen mehr in unseren eigenen Wahrheitsbegriff haben. Wir glauben, dass die Wahrheit, der «holy grail», wie Bill Adair er es nennt, nur in der Maschine zu finden ist. Deshalb träumen Technik-Visionäre auch von Roboter-Richtern, einer Justitia 4.0, die den Angeklagten nur nach Ansehung der Daten beurteilt. Und auch von den automatisierten Faktencheckern, die über wahr oder falsch urteilen, lässt sich der Politiker ja faktisch letztinstanzlich beurteilen. Bloss: Wollen wir das in einer selbstbestimmten und freien Gesellschaft überhaupt? Der Irrtum der Entwickler ist, dass sich der Konsens über Fakten nicht automatisieren lässt, sondern nur in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu finden ist. Das Zeitalter der Fakten mag vorbei sein. Jenes der demokratischen Deliberation aber sicher nicht.
Paul Zinniker 16. November 2016, 17:36
Mein Faktencheck-Portal ist die Schweizerische «Weltwoche». Alle andern müssen sich daran messen.