Wenn der Leser ausrastet
Es ist ein Teufelskreis: Redaktionen provozieren mit Zuspitzung und Reizthemen das Publikum zu pointierten Kommentaren und wundern sich dann, wenn die Diskussion ins Unterirdische abgleitet. Unter den Kommentatoren wiederum sind es die Provokateure und Brüllaffen, die den Ton angeben und die Debatte reglmässig auf Stammtischniveau absenken. Was tun? Den Medien bieten sich zwei Wege an: Die Diskussionen laufenlassen, schliesslich bringen sie Klicks und Potenzial für Nachzieher. Oder aber: Frühzeitig den Riegel schieben und die Leserschaft in nervenaufreibenden «Erziehungskursen» die Kunst des gepflegten Kommentierens lehren. – Zweiter Teil unserer Serie zu Gegenwart und Zukunft von Leserkommentaren in Online-Medien. (Teil 1: Jeden Tag Krawall)
Wer es als Redaktor oder Journalist in der Kommentarspalte der eigenen Online-Ausgabe einmal so richtig krachen lassen will, hat leichtes Spiel: Er muss seinen Artikel nur knallhart personifizieren und die Leserschaft dann mittels einer spezifischen Botschaft gnadenlos emotionalisieren. Gelingt es ihm schliesslich auch noch, populäre Turbo-Aspekte wie Ausländer, Arbeitslosigkeit, Atomkraft Gleichberechtigung oder den Nahostkonflikt, in die Geschichte mit einzubauen, wirkt dies wie ein Brandbeschleuniger. Die Administratoren bzw. Moderatoren des jeweiligen Kommentargefässes können sich vor Arbeit kaum noch retten. Es sind exakt diese Zutaten, die eine hitzige und unsachliche Diskussion in Gang bringen. Hat es unter den Online-Kommentatoren dann noch ein paar Hitzköpfe, die meinen, die Wahrheit schon immer für sich gepachtet zu haben, dann kann sich der Durchschnittsleser die Lektüre der Kommentare getrost sparen. Denn Volkes Seele kocht. Rowan Barnett von BILD.de kennt das bestens und weiss: «Das hängt immer vom Thema ab.»
Aber nicht nur: Wer sich im Schutze der Anonymität sicher fühlt, schreibt sich leichter den Frust von der Seele, als wenn er dies unter Angabe des vollen Namens und des Wohnortes tut. Hier müssen sich die meisten Redaktionen selbst bei der Nase nehmen. Es gibt verlässliche Authentifizierungsverfahren. Nur sind die aufwändig und teuer. NZZ Online, Newsnetz (tagesanzeiger.ch, bernerzeitung.ch, derbund.ch, bazonline.ch) und sueddeutsche.de haben immerhin erkannt, dass ausser Rand und Band argumentierende Online-Kommentatoren einen Teufelskreis in Gang bringen. Stefan Plöchinger von sueddeutsche.de sagt dazu: «Irgendwann sinkt die Qualität der Kommentare so weit ab, bis sich nur noch eine In-Group in Zurufen ergeht.»
Wer sind nun diese Persönlichkeiten, die in den Online-Kommentarspalten den Teufelskreis in Gang bringen und wie funktioniert der Teufelskreis letztlich? Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, aber die Heisssporne unter den Kommentatoren heissen Hinz + Kunz, Du und Ich, Uschi und Fuschi, Hans und Heiri und sie verhalten sich im Prinzip nicht anders wie die Teilnehmer an einem Stammtisch, an dem Frauen und Männer beispielsweise die Frage diskutieren, wie viel Ausländer die Schweiz verträgt. Die Diskussion läuft solange gesittet ab, bis einer der Diskussionsteilnehmer beispielsweise sagt: «Mir ist es egal, wie viele Ausländer in die Schweiz kommen, solange sie nur weiblich, dunkelhäutig und billig sind.» In diesem Moment geht «die Bombe» hoch und es kommt zu einem wüsten Gemetzel. Letztlich speisen sich derartige Konflikte aus dem Umstand, dass einer der Diskutanten mit seiner radikalen, oft verletzenden Argumentation die Identität, das Weltbild und/oder die Wertvorstellungen der anderen Teilnehmer in Frage stellt. Um nichts anderes geht es dem «Bombenleger», den man getrost zu den ewigen Nörglern zählen darf, der mit nichts und niemandem (auch nicht mit sich selbst) zufrieden ist und die Schuld für alles Übel dieser Welt nur bei seinen Mitmenschen sucht. Er diskutiert nicht, um eine Lösung zu finden, sondern um andere klein zu machen, notfalls verbal zu vernichten. Wenn man so will: ein «Glaubenskrieger».
Die Online-Chefs von NZZ, Newsnetz, sueddeutsche.de, aber auch von Blick und Bild-Online hängen das Thema «Glaubenskrieger» in der Öffentlichkeit nicht gerne allzu hoch, handelt es sich bei diesen Heissblütern unter den Kommentatoren doch nur um den «harten Kern von notorischen Leserbriefschreibern» (Blick-Online Chefredaktor Rolf Cavalli). Zwar bekunden die Redaktionen, die notorischen Scharfschützen wären in den vergangenen Jahren mehr oder minder gnadenlos diszipliniert worden, in einzelnen Fällen «einfach gesperrt», wie Urs Holderegger, Redaktionsleiter NZZ Online, kundtut. Fakt ist: Man kriegt diese Leute nur schwer in den Griff. Sie tauchen immer wieder auf, beseelt von ihrer persönlichen Mission.
Martin 20. Juni 2011, 09:26
Ich kann diesen «Fakt» aufgrund meiner eigenen Erfahrung von 10+ Jahren in Mailboxen, Diskussionsforen, Weblog-Kommentarspalten, usw. nicht bestätigen.
Ja, Trolle können anstrengend sein und bisweilen ist leider eine Sperrung notwendig. Wer aber wie die Schweizer Online-Medien unter «Moderation» lediglich das Löschen von unerwünschten Kommentaren versteht, nicht aber aktiv moderiert, zieht Trolle gerade zu an. Man darf Kommentarspalten nicht allein den Lesern überlassen, sondern muss sich als Journalist, Herausgeber, usw. aktiv an der Diskussion beteiligen, diese lenken und bei Bedarf eingreifen.
Torsten Haeffner 20. Juni 2011, 17:44
Sehr geehrter Martin: Ich gehe mit Ihnen konform, dass es das Beste ist, wenn sich die Journalisten an den Diskussionen beteiligen und nicht einfach die „Delete-Taste“ drücken. Die Gespräche mit Redaktionen zeigen indes: Es ist alles eine Frage der Resourcen.
Mit bestem Gruss, T. Haeffner
Daniel Huber 20. Juni 2011, 13:13
Spannend finde ich jeweils die Reaktionen auf Israel-kristische Stimmen in Foren. Erst sind ein paar neutrale bis leicht postive ode rnegative Stimmen zu vernehmen. Und nach ca. 1 Stunde wird das Buschfeuer entfacht, wenn der Newsletter in der pro-israelischen Community zum gemeinsamen Artikel-Bashing verschickt wurde. Da sind dann auch die Redaktionen machtlos…
Torsten Haeffner 20. Juni 2011, 17:47
Sehr geehrter Herr Huber! Die von Ihnen geschilderte Beobachtung ist auch mir nicht neu. Ich mache ähnliche Beobachtungen wenn es um die Katholische Kirche geht, wenn es um die USA … geht und denke, dass hier vor allem ein emotionale Motive und ein klassisches Freund-Feind-Denken eine Rolle spielen.
Beste Grüsse, Torsten Haeffner
Harald Güntzel 20. Juni 2011, 15:25
Bereits in den Kommentaren zum ersten Teil fällt mir auf, mit welcher Abscheu, Überlegenheit auf die eigene Kundschaft geblickt wird. Dabei ist eine volle Kommentarspalte der Wusnch jedes Click-Junkies (und das sind alle Online-Redaktionen). Zudem werden Themen bewusst zugespitzt – Übertreibungen, Auslassungen das täglich‘ Brot – reagiert dann die Leserschaft auch nicht journalistisch einwandfrei, gibt’s ein grosses Geklön. Schizophren.
@huber: da haben Sie aber eine komische Vortstellung vom Newsletter-Leben in der pro-israelischen Gemdeinde (wahrscheinlich oft jüdisch möchten Sie wohl meinen). Sie gäben einen guten Online-Redaktor ab: Fantasie vorhanden.
Daniel Huber 20. Juni 2011, 16:34
@Harald Güntzel: Wie das Alerting in der pro-israelischen Szene funktioniert, entzieht sich tatsächlich meiner Kenntnis. Ich nehme jeweils nur die kurzfristig massiv steigenden, einseitigen Postings wahr, deren Ähnlichkeit in der Argumentation auf eine konzertierte Aktion schliessen lässt. Doch vielleicht können Sie uns aufklären, wie dies funktioniert? Es würde zum Thema passen…
Unpassend finde ich jedoch Ihre Unterstellung zum Thema Religion. Da sollten Sie andere nicht leichtfertig in eine Schublade stecken, in der Sie hoffentlich auch nicht hingehören.
Torsten Haeffner 20. Juni 2011, 17:50
Sehr geehrter Herr Güntzel, selbstverständlich ist es für einen Journalisten erfreulich, wenn seine Artikel gelesen und kommentiert werden. Qualität – so meine Erfahrung – geht aber auch hier vor Quantität.
Mit bestem Gruss,
Torsten Haeffner
Torsten Haeffner 20. Juni 2011, 17:52
Sehr geehrter Herr Wampfler! Danke für Ihre Vorschläge, die mir gut gefallen. Ich wünsche Ihnen viel positive Resonanz.
Mit besten Grüssen
Torsten Haeffner
Martin2 21. Juni 2011, 12:46
Nun, es ist wieder einmal ein typischer Kommentar zu den Kommentaren. Es zeugt nicht gerade von grossem Respekt für die Leser und Kunden. Leider sind die Kommentare in der heutigen Zeit oftmals von mehr Substanz als die journalistischen Beiträge selber. Auch wenn nur wenig Zeichen zur Verfügung stehen.
Torsten Haeffner 21. Juni 2011, 13:05
Werter Martin2: Auf welchen Kommentar beziehen Sie sich?
Mit besten Grüssen
Torsten Haeffner
Pierre C. Meier 21. Juni 2011, 16:50
siehe auch
http://www.werbewoche.ch/zeitung/zur-sache-reizwoerter
A. Haefeli 22. Juni 2011, 13:09
Jede Medallie hat zwei Seiten. Die Partizipation des Lesers an einem von den Medien aufgegriffenen Thema ist wichtig. Dass dabei auch argumentativ weniger starke Personen mitmischen und damit zu einem aufgebrachten „Gesprächs“-Klima beitragen ist ein negativer Nebeneffekt, klar. Schlussendlich ist es eine Zeit/Ressourcenfrage: Weniger Ressourcen (=weniger Moderation) sorgen eben nicht nur in den Zeitungen selbst für Qualitätsverlust, sondern auch in den Kommentarspalten.