Kernkraft, Klimawandel, Kinderschnitte
Medien fressen Nichtregierungsorganisationen aus der Hand. Unhinterfragt übernehmen sie ihre Botschaften, es geht ja schliesslich um das Gute. Das Paradoxe: Die NGOs selbst wünschten sich eine kritischere Berichterstattung. Doch fehlten den Medien das Wissen und die Ressourcen, um sich kompetent mit ihnen auseinanderzusetzen, sagen NGO-Vertreter im Gespräch mit der MEDIENWOCHE.
Stünde Thilo Bode einem Lebensmittelkonzern vor, würden ihn die meisten Medien wohl als dreisten Propaganda-Profi bezeichnen. Denn der deutsche Chef der Nichtregierungsorganisation (NGO) Foodwatch arbeitet mit den Methoden der Denunziation und des Prangers: Mitte Juni dieses Jahres liess er Konsumentinnen und Konsumenten abstimmen. Resultat: «Zehntausende Verbraucher haben entschieden: Die Milch-Schnitte von Ferrero ist die dreisteste Werbelüge des Jahres 2011», verkündete Bode auf der massgeschneiderten Kampagnensite von Foodwatch.
Es ist Thilo Bodes gutes Recht, gegen Ferrero zu Felde zu ziehen, so wie es jedermann freisteht, Bode zu unterstellen, ihm ginge es mit seiner Kampagne um billige Stimmungsmache in eigener Sache. Stossend ist hingegen das Verhalten der Medien: Nur wenige, darunter NZZ und Südostschweiz, sprangen nicht auf den Foodwatch-Zug auf.
Alle anderen, von Tagesa-Anzeiger über Basler-Zeitung, bis Spiegel-Online, und Süddeutsche-Online publizierten unisono unter dem Titel «Werbelüge» artig Bodes Botschaft, als würden sie zur Gefolgschaft von Foodwatch gehören. Kein Journalist stellte das Zustandekommen des Kampagnenresultats in Frage oder stiess sich an Bodes Auftritt. Hätte umgekehrt Ferrero per Online-Abstimmung die Milchschnitte zum «Produkt des Jahres» küren lassen, wäre ein Aufschrei durch die mediale Welt gegangen.
Wenn NGOs anprangern und verkünden, – Kernkraft, Klimawandel, Kinderschnitte – zeigt ein Grossteil der Medien nachhaltige Beisshemmung. Dies ist ebenso alltäglich wie in Anbetracht des Informationsauftrags der Medien stossend und störend. Oliver Classen, Sprecher der entwicklungspolitischen NGO «Erklärung von Bern», hat eine einfache Erklärung für die Behutsamkeit vieler Medienleute: «Journalisten sympathisieren häufig mit den Zielen von NGO und verhalten sich diesen gegenüber deshalb oft unkritisch.»
Daniel Graf, Pressesprecher von Amnesty International Schweiz bestätigt die Beobachtung seines Kollegen: «In Anbetracht der Tatsache, dass NGOs Millionenumsätze machen, wundert es einen manchmal schon, warum von Seiten der meisten Medien fast nichts hinterfragt wird.» Wer nur schon die bekanntesten NGOs näher betrachtet, stellt schnell fest, dass sich deren Motive, Organisation und Arbeitsweise stark voneinander unterscheiden. Zu recherchieren und zu schreiben gäbe es also reichlich.
Doch offensichtlich fehlt es auf den Redaktionen an entsprechenden Ressourcen. «Und an Kompetenzen», ergänzt Classen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass nur wenige Schweizer Journalistinnen und Journalisten sowohl das Hintergrundwissen als auch das professionelle Rüstzeug hätten, um NGOs auszuleuchten und differenziert über ihr Wollen und Wirken zu berichten. «Die meisten beschäftigen sich ausschliesslich mit unseren Botschaften. Die unterschiedlichen Geschäftsmodelle der NGOs aber, ihre sehr unterschiedlichen Strukturen und Funktionen interessieren Journalisten kaum. Diese Aufklärungsarbeit über die Aufklärer ist manchen wohl zu anstrengend.»
Dabei wären die NGOs selber durchaus dankbar, wenn die Medien kritischer über sie berichten würden. Graf von Amnesty ist sich sicher, dass die durch eine hinterfragende Berichterstattung entstehende öffentliche Transparenz einer NGO nur gut täte – «falls sie keine Leichen im Keller hat».
Vielleicht zeugt die Zurückhaltung vieler Medien in Sachen NGO-Berichterstattung aber auch schlicht von Resignation. Die Anstrengung lohnt nicht mehr. Classen und Graf sind sich sicher, dass die Relevanz der Medien mehr und mehr abnimmt. «Es gibt heute derart viele Möglichkeiten, sich zu informieren, zum Beispiel über die Hausmedien einer NGO oder zivilgesellschaftliche Web-Plattformen wie interportal.ch, campact.de oder avaaz.org, dass Print und elektronische Mainstream-Medien längst nicht mehr die einzigen Kanäle für uns sind», beobachtet Oliver Classen.
Umgekehrt nimmt auch die Relevanz der Medien für die NGOs ab. «Früher waren wir froh, wenn wir für eine Menschenrechtskampagne die klassischen Medien als Multiplikatoren hatten», erinnert sich Graf von Amnesty. «Heute erreichen wir mit Social- und Online-Medien wie Newsnetz, blick.ch und 20min.ch, eine viel höhere Durchschlagskraft.»
Damit bleibt den klassischen Medien nur noch, was Thilo Bode von Foodwatch längst schon vormacht: Spekulationen und Knalleffekte. Motto: Bloss keinen Tiefgang wagen.
llamaz 21. Oktober 2011, 10:35
Sicherlich muss man auch die Tätigkeit von NGOs kritisch hinterfragen. Jetzt habe ich mir den „kritischen“ Artikel hier aber durchgelesen und bin mir immer noch nicht im klaren darüber was hier eigentlich konkret bei „Foodwatch“ kritisiert wird. Inwiefern haben Medien die Informationenvon Foodwatch unkritisch übernommen. Was genau haben sie unüberprüft gelassen? Sind die Informationen bei Foodwatch über die Milchschnitte falsch? Und wenn ja – welche genau?
Foodwatch vergibt den Titel „dreisteste Werbelüge des Jahres“. Vergeben wird dieser durch eine Abstimmung auf der Webseite von Foodwatch. Verbraucher können aus verschiedenen Beispielen falscher Werbung wählen und abstimmen. Das die Auswahl nicht durch eine wissenschaftliche Studie zustandegekommen ist die alle auf dem Markt verfügbaren Produkte nach wissenschaftlichen Kriterien katalogisiert und eingeordnet hat bestreitet niemand und hat auch niemand behauptet. Der Titel ist kein „wissenschaftlicher Titel“ – genauso wenig wie der Oskar für den besten Film nach wissenschaftlichen Kriterien zustande kommt oder die goldene Himbeere für den schlechtesten Schauspieler.
Torsten Haeffner 24. Oktober 2011, 20:17
Sehr geehrter Herr Llamaz
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Ihre Frage, was an der beschriebenen Foodwatch-Kampagne kritikwürdig ist, möchte ich gerne wie folgt beantworten und gleich vorneweg dafür um Entschuldigung bitten, dass meine Antwort etwas länger wird: Es ist nichts dagegen zu sagen, dass NGOs sich um selbstgewählte Anliegen kümmern und dabei kundtun, dies in einem zivilgesellschaftlichen Auftrag zu tun, so sie dieses Versprechen halten können. Im Gegenteil: Die Arbeit dieser NGOs ist grundsätzlich sehr wertvoll und sehr wichtig. Aber es ist mehr als anstössig, wenn sich eine NGO (und ich beziehe mich in meiner nachfolgenden Kritik ausdrücklich auf Foodwatch und ihren Gründer Thilo Bode):
1. dabei der Methoden der Propaganda und Verdammung bedient,
2. bei der Auswahl ihres „Zielopfers“ nach willkürlichen Kriterien vorgeht und die unreflektierte Parteilichkeit fördert, indem sie einzelne Zielpersonen oder Unternehmen per Abstimmung an den Pranger stellt,
3. sich der in jedem Menschen veranlagten Grundaggression bedient und diese für ihre Zwecke zu nutzen versucht.
Um was geht es Bode? Wohl vor allem um Aufmerksamkeit und wohl auch um das Geld der Spender. Die „Kollateralschäden“ seines Tuns interessieren ihn nicht. Den NGOs und ihrem Auftrag nützt Foodwatch mit ihrer Agitation nichts. Im Gegenteil: Sie schaden ihnen.
Und die Medien? Ihre Aufgabe wäre es gewesen aufzuzeigen, welche Absichten Bode tatsächlich verfolgt und warum er es offensichtlich nötig hat, derart zu agieren.
Herzlichst, Ihr Torsten Haeffner
Roland Stangl, Leiter Kommunikation 21. Oktober 2011, 17:11
Medienberichterstattung über NGO unter Auschluss der Öffentlichkeit
Meine Wahrnehmung und vor allem Erfahrung in der Praxis ist nicht so, dass die Medien den NGOs aus der Hand fressen, wie Thorsten Haeffner in seiner Einleitung schreibt. Schön wäre es, aber es ist noch viel tragischer! Tatsache ist, dass die Medienberichterstattung über NGOs und die Themen der Entwicklungszusammenarbeit in der Schweiz von den Leitmedien faktisch unter Ausschluss einer breiten Öffentlichkeit stattfindet. Dazu Fact & Figures: Nach Auswertung von der Argus-Medienbeachtung in der Zeitperiode Juli 2009 bis Juni 2010 sind in den Schweizer Leitmedien 684 Printartikel über NGOs erscheinen. Die kumulierte Auflage beträgt 82,3 Mio. Exemplare, die Reichweite 172,1 Mio. LeserInnen. In der Vergleichsperiode 2010/2011 waren es 711 Artikel, wo die Entwicklungszusammenarbeit thematisiert worden ist. Die Zahlen wirken auf den ersten Blick beeindruckend, sind aber ein verschwindend kleiner redaktioneller Marktanteil. Dass in den Beiträgen inhaltlich wenig Tiefgang mangels Ressourcen und Kompetenz herrscht ist auch meine Erfahrung. Gott sei Dank kann man zunehmend auf Social- und Online-Medien als potentielle Multiplikatoren und Informationsvermittler ausweichen.
Torsten Haeffner 24. Oktober 2011, 20:27
Sehr geehrter Herr Stangl
Herzlichen Dank für Ihren Beitrag! Offen gestanden, muss ich gestehen, dass ich mehr als überrascht bin über die Zahlen, die Sie nennen. Ich ging von einem wesentlich höheren „medialen Wirkungsgrad“ der NGOs aus. Aber Wahrnehmung ist immer subjektiv.
Grundsätzlich stelle ich fest, dass politisch polarisierende NGOs (siehe Foodwatch)in den Medien eher Resonanz finden als NGOs, die eher behutsam auftreten und den man oft auch den Mantel „Hilfswerke“ umhängt.
Ich möchte jetzt nicht „den Medien“ die Schuld an dieser Entwicklung zuschreiben. Die Medien sitzen ohnehin in der Klemme, weil sie – je nachdem – gezwungen sind, sich dem Markt zu beugen. Fakt aber ist, dass einerseits mit den Internet-Medien die Flut von Schreckensmeldungen zugenommen hat, andererseits aber die „Sättigungsgrenze“ beim Leser für diese Meldungen nicht beliebig nach oben verschiebbar ist.
„News-Entertainment“ ist eine Antwort auf diese Entwicklung. Nur ist bei dieser Art der Berichterstattung kein Platz mehr für anspruchsvolle Hintergrundberichte z.B. zu NGO und deren konkreter Arbeit: weder auf dem Bildschirm, auf dem Papier, noch im Bewusstsein von Journalisten und ihrer Kunden.
Mit besten Grüssen, Torsten Haeffner