Angemessene Begriffsverwirrung
Der Markt der Medien und damit der Meinungen funktioniert besser denn je. Weder aus der Bundesverfassung noch aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte lässt sich eine Pflicht des Staates ableiten, für angemessene Information seiner Bürger zu sorgen. Eine Replik von Markus Schär* auf den Artikel «Recht auf angemessene Information» von Pascal Zwicky und Werner A. Meier.
Rettet den Bannwald der Demokratie! Helft also der Lokalpresse – halt zwangsweise, wenn die Verleger sich nicht helfen lassen wollen! Das fordern nicht nur Medienwissenschaftler, schon am SPS-Parteitag 1998 schrieben es die Juso in einem Papier fest. Als letzter Redaktor der Thurgauer AZ (+1984) desillusioniert und als Kantonalparteipräsident von der Lokalpresse schikaniert, hielt ich wenig von der Idee. Ich fragte meine GenossInnen, ob sie etwa einen Thurgauer Verleger unterstützen wollten, der in seinen drei Lokalzeitungen SP-Ständerat Thomas Onken nach dessen sensationeller Wahl 1987 jahrelang nicht stattfinden liess. Der Juso-Sprecher verlangte das Wort und beschimpfte mich als Neoliberalen. Damit war die Debatte erledigt, der Passus genehmigt.
Auf diesem intellektuellen Niveau hält sich die Debatte hier. Die staatlich besoldeten Denker und Lenker des Instituts für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich IPMZ pflegen eine Verwirrung und Umdeutung der Begriffe, die sie bei George Orwell gelernt haben könnten. Um den «demokratiegerechten» Journalismus dekretieren zu können, erklären Pascal Zwicky und Werner A. Meier hier das «Recht auf angemessene Information», bzw. die Pflicht des Staates, dafür zu sorgen, gar zum universalen Menschenrecht – in der spezifischen Auslegung des IPMZ:
«Sei es in der schweizerischen Bundesverfassung, im deutschen Grundgesetz, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO: Der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit kommen als Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften eine zentrale Bedeutung zu. Gerade der Blick auf die Geschichte der Medienfreiheit zeigt allerdings, dass sie sich einseitig als unternehmerische Freiheit für die Medien durchgesetzt hat.»
Eines der grössten Defizite der Mediengesellschaft ist wohl ihre Geschichtsvergessenheit. Dagegen lässt sich in einer offenen Gesellschaft wenig machen – zumindest von Medienwissenschaftsdozenten dürfte man aber eine Ahnung von Mediengeschichte erwarten. Dass sich die Medienfreiheit «einseitig» als Freiheit der Citoyens (nicht der Unternehmer!) durchgesetzt hat, lässt sich einfach erklären: Sie war in der Geschichte immer und einzig so gemeint.
Um sich das zu vergegenwärtigen, genügt die Lektüre des Wikipedia-Artikels «Pressefreiheit». Die USA, demokratisches Vorbild auch für die Schweiz, schrieben als Erste das Verbot der staatlichen Zensur 1789/91 im First Amendment zur Verfassung fest: «Der Kongress wird kein Gesetz erlassen, das die Freiheit der Rede oder die der Presse einschränkt.» Und der Gründervater Thomas Jefferson meinte gar: «Wäre es an mir zu entscheiden, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, sollte ich keinen Moment zögern, das Letztere vorzuziehen.»
Aber, dürften Zwicky/Meier einwenden: Dass die private Presse(vielfalt) in den USA und in der Schweiz zwei Jahrhunderte lang die Demokratie bewahrt hat, beweist gar nichts angesichts der Geisseln der Gegenwart wie des freien Marktes:
«Unter dem Schlagwort Medienfreiheit wurden jahrzehntelang Kommerzialisierungs- und Monopolisierungsstrategien unternehmerisch und medienpolitisch vorangetrieben, die nicht nur den Medienunternehmen vergleichsweise hohe Profite einbrachten, sondern auch den demokratierelevanten Journalismus schwächten.»
Könnte es sein, dass die Medienwissenschaftler nicht nur die Geschichte der Medienwelt nicht verstehen, sondern auch ihre Gegenwart? Ja, die Medienwelt wandelt sich rasant, und für einige zum Schlechteren: in den USA vor allem für die Printjournalisten wegen des Zusammenbruchs auch wichtiger Printprodukte und für die Wächter der demokratiegerechten Demokratie wegen der Popularität von Propagandasendern. Aber dank neuen Phänomenen wie Facebook, Twitter oder The Huffington Post nutzt die bisher schweigende Mehrheit die Medien erstmals in der Geschichte auch produktiv. Der Markt der Medien und damit der Meinungen (auch Demokratie genannt) funktioniert besser denn je. Nicht demokratierelevant sind diese Medien nur für ein paar Medienwissenschaftler im Zürcher Elfenbeinturm.
Und wie steht es mit den «Kommerzialisierung- und Monopolisierungsstrategien» in der Schweiz? Für die Verleger galt seit dem Anbruch der bürgerlichen Öffentlichkeit à la Habermas: Sie konnten nicht nur ihre Meinung verbreiten (lassen), sondern sie mussten immer ihr Publikum ansprechen, um wirtschaftlich zu überleben. Tamedia und NZZ-Gruppe übernahmen denn auch Regionalzeitungen nicht, um sie einem gewinnmaximierenden Monopol einzuverleiben, sondern um sie überhaupt auf einer tragfähigen ökonomischen Basis weiterzuführen. Umgekehrt gibt es heute mindestens so viele Mäzene wie je in der Pressegeschichte, die sich ohne kommerzielle Strategie ein Medium leisten, so in Basel mit seiner historisch einmaligen Medienvielfalt – aber jene, die nicht gerade Oeri heissen, sind den Medienverwaltern auch nicht recht, beziehungsweise zu rechts.
Schliesslich: Wenn je ein Schweizer Medienhaus eine Monopolisierungsstrategie «medienpolitisch vorantrieb» (wie immer das gehen soll), dann die SRG. Als Private endlich Radio machen durften, führte sie DRS3 ein, um das Publikum mit gebührenfinanzierten akustischen Tapeten zu versorgen; als Private endlich Fernsehen machen wollten, jagte sie ihnen mit den zweiten Programmen die Zuschauer ab, indem sie Formel-1-Rennen, Miss-Schweiz-Wahlen und «Desperate Housewives» zum Service public erklärte. Trotzdem fordern Zwicky/Meier:
«Eine Debatte darüber, wie der Staat mit der nötigen Zurückhaltung der Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit als positiven Rechtsansprüchen der Bürgerinnen und Bürger zum Durchbruch verhelfen könnte. So etwa durch den Support von zivilgesellschaftlich institutionalisierten, demokratisch organisierten und rechenschaftspflichtigen Medienorganisationen, deren Ziel nicht die Profitmaximierung ist, sondern demokratiegerechter Journalismus.»
Dafür müssen Zwicky/Meier nach der «negativen» Freiheit der Medien von staatlichen Eingriffen (in die der Staat «mit der nötigen Zurückhaltung» eingreifen soll) nur noch alle anderen Begriffe à la Orwell umdeuten: Zivilgesellschaft, Demokratie, Journalismus, Qualität.
Zur Zivilgesellschaft zählen sie, so Pascal Zwicky hier, beispielsweise mit einem Drei-Säulen-Modell finanzierte Medien-Genossenschaften: «20 Prozent übernimmt die Trägerschaft. Bei einem jährlichen Beitrag von 600 Franken bräuchte es pro Region 200 Genossenschafter. 30 Prozent übernehmen die Haushalte der entsprechenden Regionen über eine Kommunikationsabgabe, die auf Gemeindeebene erhoben wird. Bei 60‘000 Personen macht das drei Franken pro Kopf. Und 50 Prozent kommen schliesslich vom Bund.» 20 Prozent der Mittel dieser «zivilgesellschaftlichen» Institution kämen also von den Zivilisten, 80 Prozent via Gebühren und Steuern vom Staat – noch mehr als bei der SRG mit ihren 72 Prozent Zwangsabgaben. Zivilgesellschaft bedeutet aber für alle, die je darüber nachdachten, gerade eine Sphäre zwischen (und losgelöst von) Staat, Markt und Familie.
Was unter demokratiegerechtem Journalismus zu verstehen ist, darf keinesfalls die demokratische Mehrheit bestimmen; Manuel Puppis vom IPMZ erklärte es hier in einer Klage über das «gepflegte Desinteresse» an der Medienpolitik: «Atomkraftwerke oder ein ausgeglichener Staatshaushalt – zweifelsohne wichtige und politisch hoch umstrittene Themen – erhalten ungleich mehr Aufmerksamkeit als Massnahmen, die auf die Medien, das Nervensystem unserer Gesellschaft, abzielen.» Illustriert war der Artikel mit einem Bild von Bundesratssprecher André Simonazzi und zwei Journalisten, die sich vor ihm im Saal des Bundesmedienhauses verlieren. Demokratiegerechter Journalismus ist offensichtlich, wenn die Medien folgsam verbreiten, was immer Regierung, Verwaltung und Medienwissenschaft für demokratierelevant halten, und seien es die Sprechblasen des Bundesratssprachrohrs – aber nicht, was das Stimmvolk für interessant hält.
Wie es die Medienwissenschaftler selber mit der Qualität halten, zeigten schliesslich nicht nur der Artikel von Zwicky/Meier, sondern vor allem die Kommentare dazu, so unübertrefflich jener von ZHAW-Professor Vinzenz Wyss – «Wer Ohren hat zu hören, der höre» –, der als Qualitätssicherer bei den Programmveranstaltern prüft, ob sie «eine Verantwortungtskultur etabliert haben».
Doch was soll alles Mäkeln an der Begriffsverwirrung – immerhin können sich Zwicky/Meier auf das ultimative Killerargument berufen, die Menschenrechte:
«1979 betonte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), dass Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte nicht nur das Recht schützt, die von den Medien verbreiteten Mitteilungen zu empfangen, sondern es wird dem Publikum auch das Recht zugesprochen, angemessen d.h. demokratiegerecht informiert zu werden.»
Noch vor zehn Jahren hätte ich als interessierter Bürger diese zentrale Information, auf der Zwicky/Meier ihre Argumentation aufbauen, nur mit einem halben Tag Suchen in der Bibliothek überprüfen können. Heute ergibt eine dreiminütige Google-Suche, dass die Autoren das EGMR-Urteil «Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich» vom 26. April 1979 meinen. 1972 veröffentlichte die Sunday Times den Artikel «Our Thalidomide (Contergan, ms) Children – A Cause for National Shame» und kündigte eine Dokumentation zu den Hintergründen des Skandals an. Die verantwortliche Firma klagte, der Generalstaatsanwalt verbot darauf weitere Veröffentlichungen.
Der EGMR gab der Zeitung Recht, und tief unten im Urteil hielt er in Ziff. 65 fest: «Wenn die Massenmedien auch nicht die Grenzen überschreiten dürfen, die im Interesse einer geordneten Rechtspflege gezogen sind, so obliegt es ihnen doch, Informationen und Ideen über Angelegenheiten, die Gegenstand gerichtlicher Verfahren sind, ebenso zu verbreiten wie solche in anderen Bereichen öffentlichen Interesses. Die Medien haben die Aufgabe, solche Informationen und Ideen zu verbreiten, und die Öffentlichkeit hat das Recht, sie zu empfangen.» Und in der folgenden Ziff. 66 betonte der EGMR nochmals, «dass Art. 10 (der EMRK) nicht nur die Freiheit der Presse garantiert, die Allgemeinheit zu informieren, sondern auch das Recht der Allgemeinheit, angemessen informiert zu werden».
Wer Augen hat zu lesen, der lese: Die Hüter der Menschenrechte halten fest, dass der Staat das Recht der Bürger nicht verletzen darf, über alle Bereiche des öffentlichen Interesses informiert zu werden – aus diesen drei klaren Sätzen leiten Zwicky/Meier in einem argumentativen Salto mortale mit Bauchlandung die Pflicht des Staates ab, für die «angemessene, d.h. demokratiegerechte» Information des Bürgers zu sorgen. (Muss ich noch erwähnen, dass der Begriff «demokratiegerecht» im Urteil nirgends vorkommt?) Der angemessene Kommentar zu diesem Vorgang geziemt sich im öffentlichen Diskurs nicht.
Nur noch ein persönliches Fazit nach fünfzig Jahren Medienpraxis in der Provinz: Die drei Lokalblätter des SP-feindlichen Verlegers gingen 2001 in der Thurgauer Zeitung auf; Tamedia machte das Blatt nach der Übernahme 2005 erstmals seit den Zeiten von Oskar Reck und Jürg Tobler um 1970 wieder zu einer Zeitung, die eine faire demokratische Debatte zuliess. 2010 schliesslich kaufte die NZZ die TZ und stellte dafür die Thurgauer Kopfblätter des St. Galler Tagblatts ein.
Der Thurgau hat also nur noch eine Tageszeitung, aber daneben ein Regionaljournal, diverse Lokalradios und -fernsehen, Gratisblätter, Lokalanzeiger, Onlinemedien und seit Jahren bezahlte Gemeindeseiten in den Regionalblättern, auf denen die Behörden demokratiegerecht veröffentlichen, was die Bürger interessieren muss. (Pascal Zwicky preist die genossenschaftlich finanzierte «Regi Die Neue» im Hinterthurgau als Modell – ich sagte an einer Tagung in seiner Anwesenheit unwidersprochen, das Verlautbarungsorgan von Vereinen und Gewerbe komme bei den Leuten gerade an, weil es keinen Journalismus betreibe.) Und vor allem ist die TZ, seit sie zum St. Galler Tagblatt gehört, so gut wie noch nie – meint zum Beispiel meine 83-jährige Mutter, die daneben den «Stern» kauft und die SonntagsZeitung immer schlechter findet. Aber meine Mutter versteht halt nichts von Demokratie.
Markus Schär 27. Februar 2012, 15:32
Das Ding ist schon länglich, ich weiss, aber zwei Anmerkungen müssen noch sein:
* In der Autorendeklaration ist weggefallen, dass ich hier „aus eigenem Antrieb und ohne Subvention“ schreibe. Ich fand unglaublich, wie Zwicky/Meier das EGMR-Urteil verdrehen, begann einen Kommentar zu schreiben und merkte schnell, dass er jedes Format sprengen würde. Die Redaktion gab mir dann freundlicherweise die Gelegenheit zu einer ausführlichen Replik. Dass einer ohne monetären oder institutionellen Nutzen einen langen Aufsatz schreibt, mag einigen unglaublich erscheinen – es ist einfach so.
* Der kurze Abschnitt über die Qualität ist kaum mehr verständlich, nachdem die Redaktion gnädigerweise fast alle Schreibfehler in den Zitaten korrigiert hat. (Der abverheite Satz von Zwicky/Meier ist noch drin – finde die drei Grammatikfehler!) Ich wollte darüber spotten, dass ausgerechnet die Hüter der Qualität einen verluderten Umgang mit der Sprache haben. Ein krasses Beispiel: Ich stellte die Lektüre einer der diversen Studien zur Zukunft der Medien in der Schweiz – ausgerechnet jener des Qualitätspapsts, der über die Qualität in den Medien richtet – nach wenigen Seiten ein, weil ich mich an zahllosen Orthographiefehlern, Grammatikschnitzern und Stilgräueln stiess. Zwei Tage, nachdem ich in einem Medienblog darüber gespottet hatte, wurde die für einen sechsstelligen Betrag erstellte Studie zuhanden des Bundesrates in einer zweiten, diesmal lektorierten und korrigierten Fassung nochmals eingereicht. Wer für das gute Geld der Steuerzahler solche Qualität liefert, sollte sich hüten, über Qualität zu richten.
agossweiler 28. Februar 2012, 20:46
Mein Kommentar ist ebenfalls zu lang für das Kommentarfeld, also habe ich ihn hier untergebracht.
Vladimir Sibirien 29. Februar 2012, 10:23
Also ich würde den Gesundheitstipp empfehlen mit dem aktuellen Thema: „Homöopathie: So behandeln Sie sich kompetent“. Intellektueller Lochfrass lässt sich damit zwar nicht behandeln, aber die Zubereitung der Mixturen hält vom Schreiben ab. Win-win!