Polit-Talk als Casting-Show
Stefan Raab belebt mit der ersten Ausgabe von «Absolute Mehrheit» die dröge Talkshow-Kultur Deutschlands. Das Casting-Format des Privatsenders Pro7 könnte einige Menschen tatsächlich dazu bringen, sich ansatzweise mit Politik beschäftigen.
Einige Schlagzeilen am Morgen nach der ersten Sendung sind sich einig: „Raabs Experiment fährt vor die Wand“, „nur öder Politquatsch“, „nur ein schlechter Witz“, gar „schlimmste Befürchtungen“ sehen sich bestätigt. Die FAZ zählte am Ende der Sendung sechs Verlierer, die Sendung habe „ausser Witzchen und Rüpelei wenig zu bieten“. Wer die Reaktionen zur Sendung unter #absolutemehrheit auf Twitter verfolgte, traf auf eine Menge Leute, die fest entschlossen waren, das neue Format, das die Einförmigkeit von Talkshows in Deutschland aufbrechen möchte, nicht zu mögen.
Warum bloss? Wie kann man sich jeden Sonntagabend über «Günther Jauch» aufregen und dann, wenn jemand einen anderen Ansatz ausprobiert, den von der ersten Minute an in die Tonne treten? Keine Frage, es gibt vieles, das an der ersten Sendung zu kritisieren ist: Die ermüdend «frechen» Fragen von Stefan Raab, die ihn seiner Switch-Parodie gefährlich nahe bringen. Sein kindisch-dümmliches Witzchen über Philipp Rösler («Wenn er das jetzt sieht beim Abendessen, hoffentlich fallen ihm nicht die Stäbchen aus der Hand»), in dem «Spiegel Online» eine «rassistische Entgleisung» sah. Das aufgepeitscht klatschende Publikum, in dem einige besonders laut für den späteren Sieger der Sendung, Wolfgang Kubicki, johlten.
Vieles war wie in anderen deutschen Talkshows auch: Alle sprachen sich für die Energiewende aus, niemand forderte eine Senkung der Steuern, und es dauerte nicht mal fünf Minuten, bis sich die Kandidaten gegenseitig ins Wort fielen («Jetzt red ich mal zu Ende»), ein Schauspiel unter Männchen, das die Frau in der Runde, die Berliner Unternehmerin Verena Delius, mit Zurückhaltung beobachtete. Raab musste hier das Lehrgeld des Newcomers bezahlen, seine wenigen Eingriffe in das Gespräch waren inhaltlich wenig erhellend. Überhaupt kam ein solches kaum je zustande, weil insgesamt sechs Mal die aktuellen Ergebnisse des Televotings eingeblendet wurden, was wohl auch im Wissen des Privatsenders um die kurze Aufmerksamkeitsspanne ihrer Zuschauer geschah.
Vieles war aber auch anders: Ausgerechnet Vertreter der bei vielen Journalisten unbeliebten Parteien FDP und Die Linke holten beim Publikum die meisten Stimmen. Es schien, als bemühten sich die Gäste bei «Absolute Merheit» um eine verständliche Ausdrucksweise. Und mehrere lange Werbeblöcke rückten ins Bewusstsein, dass Privatsender ihr Geld mit Werbung verdienen müssen. Den Satz «Jetzt höre ich grade von der Regie, dass wir, bevor wir in die Werbung gehen, nochmals das Auto angucken» hätte man von Peter Limbourg, der als Sat.1-Nachrichtensprecher sowas wie das journalistische Aushängeschild der ProSiebenSat.1 Media ist, allerdings doch lieber nicht hören mögen. Ihm war überhaupt eine unglückliche Rolle zugewiesen, mit der er sein Potenzial nicht ausspielen konnte.
Das Versprechen, am Ende einen Sieger zu küren, der mit einer «absoluten Mehrheit» den Jackpot leeren kann, verleiht der Verheiratung von Casting- und Talkshow, die Raab hier betreibt, eine spielerische Note. Der grinsende Bundesadler, der die Initalen der Sendung (und der aktuellen Bundeskanzlerin) trägt, wacht über einen Talk, der sich nicht allzu ernst nimmt, und gerade so in das Bewusstsein von Leuten eindringen könnte, die mit dem Thema Politik längst abgeschlossen oder gar noch nicht angefangen haben. Neckisch auch das Porträt von Bundespräsident Gauck, das an der in Talkshows gerne aufgestellten Backsteinwand hängt.
Auch wenn es die Elitisten ungern wahrhaben wollen: Über Politik dürfen alle reden, nicht nur die so genannten Experten, sogar ein Stefan Raab. Gerade beim jüngeren Publikum kam die erste Sendung jedenfalls gut an. Und populistischer als andere Talkshows ist «Absolute Mehrheit» auch nicht.
«Absolute Mehrheit» (Videos) wurde am 11. November 2012, um 22:45 Uhr, auf Pro7 ausgestrahlt.