Eine Zahl zieht Kreise
Keine andere Zeitung hat in der Schweiz so viele digitale Abonnemente verkauft wie die NZZ; seit einem halben Jahr auch dank einer Paywall im Web. Dennoch macht sich die Ansicht breit, die NZZ sei mit ihrer Abo-Strategie im Netz gescheitert. Belegen soll das eine Zahl – die allerdings genauso gut als Zeichen des Erfolgs gewertet werden kann.
Da weiss jemand ganz genau Bescheid: «Schweizer lehnen Paywalls ab», titelte unlängst das deutsche Branchenportal «Werben und Verkaufen». Die apodiktische Aussage zur Zahlungsbereitschaft im Netz fusst auf einer einzigen Zahl und auf einer abenteuerlichen Interpretation derselben. Dumm nur, dass die knackige Schlagzeile mit der Realität nichts zu tun hat. Wie beim Kinderspiel der «Stillen Post» hat sich die Ausgangsbotschaft bis zur Unkenntlichkeit gewandelt.
Am Anfang stand eine Kaderinformation der Neuen Zürcher Zeitung NZZ Ende April. Dabei ging es auch um das digitale Geschäft der Zeitung. Im Speziellen interessierte das Top-Personal, wie sich die Paywall von NZZ.ch anlässt, zumal die Bezahlschranke in den Schweizer Medien eine Pionierrolle einnimmt. NZZ-Digitalchef Peter Hogenkamp nennt auf Nachfrage die Zahl von «weniger 1000». Er hätte auch «weit mehr als 500» sagen können. Oder im Nachhinein besser gar nichts.
Was Hogenkamp damit bezifferte, war die Zahl jener Neukunden, die ein Digital-Abonnement gekauft haben, nachdem ihr monatliches Kontingent an frei zugänglichen Artikeln auf NZZ.ch aufgebraucht war und sie an der Paywall zum Zahlen aufgefordert wurden. Seit Einführung der Paywall im letzten Oktober kaufen täglich vier bis fünf Personen auf diesem Weg eines digitalen NZZ-Abonnements. Das ergibt die «weniger als 1000» Digital-Abonnenten. Eigentlich ein stolzer Wert, gemessen an der neuartigen und dem grossen Schritt von gratis auf 452 Franken (so viel kostet ein digitales Jahres-Abonnement).
Doch einzelne Mitglieder des NZZ-Kaders sehen das offenbar anders. Von dieser Abozahl blieb bei ihnen nur das «weniger als» hängen. Davon alarmiert, informierten sie Konkurrenz und Fachmedien über die vermeintlich schlechten Zahlen. Auf tagesanzeiger.ch stand schliesslich zu lesen, die Zahl zeige, dass NZZ-Digitalabos nur «sehr gering» nachgefragt seien. Damit war die Botschaft platziert. Ein paar Tage später greift das Fachportal «Werben und Verkaufen» die eigenwillige Interpretation auf und setzt noch einen drauf: «Schweizer lehnen Paywalls ab». Und bis heute dienen die «weniger als 1000», oder alternativ auch kolportierte 800, als Beleg für den vorläufigen Misserfolg der NZZ im Digitalmarkt. Sei es am Swiss Media Forum, auf Twitter oder in der «Schweiz am Sonntag». So schnell geht das aus den Köpfen nicht mehr raus. Einmal schlecht, immer schlecht.
Die Episode zeigt, wie sich die Paywall als Metapher für Erfolg und Misserfolg im digitalen Geschäft verselbstständigt hat; als hinge die Zukunft der Zeitung von der Drehzahl eines einzigen Zahnrädchens ab. Die Realität auf dem Lesermarkt sieht komplexer aus, aber vorerst auch banaler. Das Ziel der NZZ ist es selbstverständlich, möglichst viele digitale Abonnemente zu verkaufen. Das hat zuerst einmal nichts mit einer Paywall zu tun, sondern viel mehr mit Abo-Marketing. Anrufen, anschreiben, anpreisen – alles bewährte Verkaufstechnik. Nur ist das Produkt inzwischen auch digital erhältlich und nicht mehr nur gedruckt.
Bereits vor der Einführung der Bezahlschranke im Netz zählte die NZZ rund 10’000 Digital-Abonnenten. Den aktuellen Stand will man bewusst nicht beziffern, auch im Wissen darum, wie schnell Zahlen ein ungesundes Eigenleben entwickeln können. Klar ist soviel: Die NZZ steht weiterhin unangefochten an der Spitze der Schweizer Zeitungsverlage, was die Zahl der digitalen Abonnemente angeht. Die Konkurrenz hat noch nicht einmal damit begonnen, den Online-Lesermarkt aktiv zu bewirtschaften. Bei Tamedia soll es noch in diesem Jahr losgehen, Ringier nennt keinen Termin, ab wann kostenpflichtige Inhalte angeboten werden sollen.
Ronnie Grob 28. Mai 2013, 10:55
Die geringe Bereitschaft, Digital-Abos abzuschliessen, liegt doch sicher auch am hohen Preis. Wenn ich für nur 176 Franken mehr auch noch jeden Tag einen Ausdruck nach Hause geliefert erhalte – weshalb soll ich darauf verzichten? Reine Digitalabos starten erst durch, wenn sie deutlich billiger sind als Printabos. Ich würde gerne mal ein Digitalangebot sehen, bei dem die (hohen) Kosten für Druck und Vertrieb abgezogen sind und ich nur für den Journalismus und die Aufbereitung im Netz bezahle.
Martin Steiger 28. Mai 2013, 11:31
@Ronnie Grob:
Ich bin mit Dir einverstanden. Allerdings weiss ich nicht, ob der Aufwand für eine digitale Ausgabe wirklich geringer ist als für eine gedruckte Ausgabe. Ausserdem richten sich Preise üblicherweise nicht allein nach dem Aufwand für das entsprechende Produkt, sondern auch danach, welche Preise in einem Markt zu erzielen sind. Tiefere oder tiefe Preise können dabei gefährlich sein, denn Preise zu erhöhen ist schwierig.
Fragwürdig halte ich hingegen, dass ein kurzes 10 Wochen-Abonnement bei der NZZ (und fast allen anderen Publikationen) pro Tag weniger kostet als ein Abonnement über eine längere Laufzeit:
Wer die digitale NZZ für 10 Wochen abonniert, bezahlt 65 Rappen pro Tag oder 75 Rappen pro Ausgabe. Beim Jahresabonnement hingegen betragen die Kosten rund 1.25 Franken pro Tag oder rund 1.45 Franken pro Ausgabe … wobei das selbstverständlich dazu passt, dass auch bei gedruckten Zeitungen viele Abonnenten nicht den vollen Preis zahlen, sondern von allerlei Rabatten profitieren. Und aus Sicht der NZZ ist das Abonnement über 10 Wochen selbstverständlich Marketing, aber Abonnenten, die rechnen können, dürften sich veräppelt vorkommen.
Für mich selbst sind Zeitungen als Format nicht mehr attraktiv, da sie mein Leseverhalten nicht mehr abbilden. Sollte ich damit nicht allein sein, stehen Zeitungen – gedruckt, aber auch digital – wohl tatsächlich vor einer sehr schwierigen Zukunft.
Thom Nagy 28. Mai 2013, 14:08
Darf ich fragen, wie ihr heutiges Leseverhalten aussieht (in a nutshell)?
Philippe Wampfler 28. Mai 2013, 14:40
Da es mir auch so geht, antworte ich mal vor Martin mit meinem Leseverhalten:
Ich lese Zeitung auf zwei Arten:
(a) über persönliche Netzwerke, die mir relevante Artikel verlinken und damit empfehlen – unabhängig von der Quelle
(b) über Suchanfragen, bei denen ich teilweise die spezifische Quelle einbeziehe.
Ich verwende seit einem Jahr keine Apps mehr und logge mich nur auf Seiten ein, wenn das für das Verfassen von Kommentaren nötig ist oder einfach genug geht.
Martin Steiger 28. Mai 2013, 14:50
@Thom Nagy:
Im Bezug auf Zeitungen?
Inhalte aus Zeitungen lese ich ähnlich wie Philippe Wampfler fast nur noch über Weblinks aller Art, häufig aufgrund von persönlichen Social Media-Empfehlungen. Sind solche Inhalte frei verlinkbar, empfehle ich sie bei Gefallen und/oder Interesse gerne auch selbst weiter.
Wenn ich ab und zu eine ganze Zeitung oder Zeitschrift jenseits der Fachpresse lese, dann bevorzugt als PDF, in jedem Fall aber in digitaler Form. Apps mag ich dafür nicht, sie sind meistens zu schwerfällig und bringen keine Vorteile. So war beispielsweise die «Weltwoche» noch mein letztes freiwilliges Abonnement einer kostenpflichtigen Zeitschrift jenseits der Fachpresse, doch ist seit einiger Zeit die PDF-Variante nicht mehr verfügbar. In der Folge lese ich die «Weltwoche» kaum noch und habe mein Abonnement gekündigt.
PDF, weil +/- universell lesbar und sehr einfach zu archivieren. Auch bei Publikationen der Fachpresse, die ich kostenpflichtig abonniere, lege ich Wert darauf.
Thom Nagy 28. Mai 2013, 15:42
Danke für die Antworten!
puyol5 28. Mai 2013, 12:23
Bei den Druck- und Vertriebskosten darf man nicht vergessen, dass diese oft bereits durch Werbung mehr als gedeckt sind. Wenn nun die Webpaper-Ausgabe der NZZ werbefrei daherkommt, ist CHF 452 nach meiner Meinung gerechtfertigt. Die entscheidende Frage ist aber, wie der Kunde denkt…
Jakob Kurmann 28. Mai 2013, 11:09
Die NZZ mag in ihrer Abogestaltungspolitik und ihrem CRM durchaus vorbildlich sein. Aber der Leserservice selbst scheint ob den neuen Angeboten und der so entstandenen Angebotsvielfalt überfordert zu sein. Für die NZZ dürfte beispielsweise der Studentenlesermarkt besonders wichtig sein. Deshalb bietet sie auch das Standardabo mit Studentenrabatt an (40%). Das macht dann am Ende etwa 380 Franken. Dafür erhält der Student jeden Tag die Zeitung nach Hause geliefert – und zusätzlich gratis Zugriff auf Web-/E-Paper und NZZ.ch. Alternativ könnte der/die StudentIn auch ein Pendlerabo lösen. Da gibt’s die Zeitung nur am Wochenende auf Papier, dafür unter der Woche als Web-/E-Paper. Gerade für Studenten eine interessante Lösung, tragen doch viele ohnehin ein iPad an die Uni, auf der sich die Zeitung lesen liesse. Das Pendlerabo kostet ohne Studentenrabatt, glaube ich, etwa 520 Franken – und dabei bleibt’s auch. Auf das Pendlerabo gibt’s nämlich keinen Studentenrabatt. So abonniere ich lieber das Standardausgabe und werde bei der NZZ nicht als Digitalabonnent geführt.
Solche Beispiele gab es bei meinen letzten Kontakten mit dem Leserservice einige. Dieser hat nie den Eindruck erweckt, als habe die NZZ es wirklich nötig, neue Leser zu gewinnen…
egghat (@egghat) 28. Mai 2013, 17:34
Die 10.000 Digitalabonnenten (vor vorher) zahlen die vollen 452 Franken im Jahr? Und die haben nicht irgendeine Kombi aus Viel-Geld-Für-Print-Haben-Wir-Schon-Immer-Bezahlt plus Zusätzliches-Online-Abo-FürnAppleundnEi?
Oder liegt das daran, dass man als Neukunde überhaupt kein Abo mehr ohne Digitalversion bekommt? Zumindest finde ich keine Möglichkeit, ein reines Print-Abo abzuschließen.
http://angebote.nzz.ch/nzz
Dass die NZZ 10.000 zusätzliche Digitalkunden hat (die nicht auch bzw vorher Print hatten) glaube ich irgendwie nicht.
Matthias Giger 28. Mai 2013, 18:11
@puyol5
Ich sehe den Sinn nicht ganz hinter dieser Strategie. Der Markt für werbefreie Online-Abos wird irgendwann gesättigt sein. Und dann?
Online lohnt sich doch wegen vor allem wegen der Werbung, zumindest, wenn man längerfristig denkt.
Und bekommt man dann online einfach einen Abklatsch der gedruckten Zeitung oder ist das eine eigene Redaktion, die die neuen Möglichkeiten auch lebt, welche Online bietet? Stichwort Multimedia-Reportagen, Foren, open journalism?
Peter Hogenkamp 29. Mai 2013, 07:05
Diese Frage kommt jedes Mal, wenn es um Digitalabonnenten geht: Sind das auch wirklich alles Nur-Digitalabonnenten? Oder irgendwelche Print-Kombi-Digitalabonnenten? Nein, es sind alles reine Digitalabonnenten.
Das Angebot gibt es auch schon seit zehn Jahren (epaper.nzz.ch), und seit Oktober 2010 (Einführung iPad-E-Paper-App) wächst die Zahl der Abonnenten stetig. Wir hatten die Zwischenstände vor Einführung der Paywall auch bereits mehrfach kommuniziert. 10’000 mag einem viel vorkommen, aber es sind einfach ein paar hundert neue jeden Monat seit inzwischen zweieinhalb Jahren. Und deutlich weniger als die Hälfte sind ehemalige Print-Abonnenten, es handelt sich also keinesfalls nur um «Downgrades», sondern auch um viele echte Neukunden.
Für dieses Jahr haben wir uns entschlossen, die Zahlen der Digital-Abos erst mit der offiziellen WEMF-Statistik im Herbst zu kommunizieren, bei der E-Paper-Abos erstmals auch ausgewiesen werden können. Daher bitten wir um Verständnis, dass wir keine Stellung nehmen zu den Gerüchten, die kursieren. Ich bin aber Nick Lüthi dankbar, dass er in diesem Artikel das «Big Picture» gezeichnet hat, das bei der Berichterstattung der Konkurrenz jeweils, nicht ganz überraschend zwar, aber trotzdem schade im Sinne der Aufklärung, unter die Räder kommt. Einzelne plakative Sätze, aus denen man eine schmissige Überschrift machen kann, sind leichter zusammen geschrieben, als die überraschend komplizierte Realität abzubilden, die sich schlicht nicht auf eine einzige Zahl reduzieren lässt.
egghat (@egghat) 29. Mai 2013, 08:59
Danke für die Antwort, Herr Hogenkamp.
Dann sind die (mehr als) 10.000 eine ziemlich beeindruckende Zahl, v.a. wenn ich daran denke, dass durchaus noch einige Kombi-Abonnenten dazu kommen sollten. Da zahlt sich der lange Atem wohl aus!
Martin Steiger 29. Mai 2013, 21:19
@egghat:
Aus meiner Sicht hat die NZZ in der Schweiz vermutlich die besten Chancen auf Erfolg – insbesondere, weil früher als bei anderen Verlagen die richtigen Leute dafür an Bord geholt wurden (und wohl immer noch werden) …
Felix Hürlimann 30. Mai 2013, 17:21
Ich habe zur Zeit das Test-Monatsabo der NZZ (www.nzz.ch/digital33). Das ist interessanterweise nicht auf der normalen Aboseite zu finden. Auch die Möglichkeit des Hybridabos (ePaper NZZ und NZZaS auf Papier) erfährt man nur auf Anfrage.
Leider gibt es kein Android App für Tablets und die Webversion ist auch nicht geeignet für Tablets. Bleibt noch die pdf Version. Die ist zwar ganz angenehm zu lesen, auch wenn sie immer wieder Formatierungefehler hat (z.B. wenn Fotos über eine Doppelseite gehen). Zudem fehlt mir dort der grosse Pluspunkt der elektronischen Zeitung, die ständige Aktualisierung.
Fazit, es gibt für mich keinen Grund mehrere hundert Franken für ein digitales Abo auszugeben. Für meine Nutzung reicht der Zugang zu den normalen Artikeln auf der NZZ-Webseite.
Martin Steiger 01. Juni 2013, 12:49
Nebenbei: Im Bezug auf die NZZ geht die Berichterstattung im Bezug auf Paywall, Zahlungsbereitschaft usw. fast immer von Christian Lüscher aus. Wie hält es denn dessen Arbeitgeberin mit dem Glauben an die Zahlungsbereitschaft, angekündigte Paywall hin oder her?
Für den Tages-Anzeiger erhalte ich regelmässig das Angebot, die Zeitung – gedruckt und/oder via iPad – zu Vorzugspreisen zu abonnieren:
https://twitter.com/martinsteiger/status/337855044441497600
Und die SonntagsZeitung wird mir immer mal wieder gar kostenlos angeboten, so gestern per E-Mail:
Robin 02. Juni 2013, 17:17
Wenn man bei Firefox mit dem Privaten-Modus surf, kommen keine laestigen ‚Paywalls‘ mehr…
Von Ammon 02. Juni 2013, 18:40
Es geht nicht um 800 od. 1000 DigiAbos der NZZ. Wir sind nicht beim Hase u. Igel Rennen. Es geht darum, dem Kunden dann, wenn er will, wo er gerade ist, über den Kanal, den er nutzt, das zu liefern, was er will. Wenn er das bekommt, zahlt er und nimmt auch die Werbung, die ihn interessiert mit. Paradigmen-Wechsel statt Mauerbau!
Tim Duehrkoop 05. Juni 2013, 07:34
Wie viele Print-Zeitungen haben nochmal genau 800 Print-Abonnenten in einem halben Jahr dazu gewonnen? Abonnenten, nicht erschwurbelte Leserzahlen, bei dem jedes Stück Print von 3 Leuten gelesen wird.
Last time I looked war der Netto-Abonnentenzuwachs bei den meisten Print-Publikationen nicht „weniger als 1’000“, sondern „weniger als 0“ …