von Nick Lüthi

«Wir haben das Potenzial wohl ausgeschöpft»

Seit seiner Gründung vor fünf Jahren hat sich der «Blick am Abend» zur zweitgrössten Zeitung der Schweiz entwickelt – und damit den Zenith bereits erreicht. Mehr Wachstum liege eigentlich nicht mehr drin, sagt Chefredaktor Peter Röthlisberger. Im Interview mit der MEDIENWOCHE spricht Röthlisberger über den täglichen Spagat zwischen News und leichtfüssiger Unterhaltung, sowie die Tücken der Zeitungsproduktion unter grossem Zeitdruck.

MEDIENWOCHE:

Fünf Jahre «Blick am Abend» heisst auch fünf Jahre früh aufstehen. Wie hält das ein altgedienter Journalist aus?

Peter Röthlisberger:

Es ist eigentlich kein Problem. Man muss sich einfach diesem für Journalisten untypischen Rhythmus anpassen und vernünftigerweise um elf ins Bett gehen und nicht erst um eins. In den letzten fünf Jahren habe ich gesehen, dass die Welt auch am Morgen richtig brummt. Das habe ich in meinen Berufsjahren zuvor gar nicht richtig mitgekriegt.

MEDIENWOCHE:

Was feiert der «Blick am Abend» an seinem fünften Geburtstag?

Peter Röthlisberger:

Wir feiern, dass wir uns haben behaupten können als weiterhin einzige Zeitung am Abend. Offenbar haben wir eine solche Verdrängung erreicht, dass sich niemand in diesen Markt wagt. Und natürlich feiern wir auch unsere Entwicklung von 259’000 auf 633’000 Leser in fünf Jahren und damit zur zweitgrössten Tageszeitung in der Deutschschweiz.

MEDIENWOCHE:

Die Leserzahlen entwickelten sich stets nach oben. Wie weit geht das noch?

Peter Röthlisberger:

Man müsste wahrscheinlich geografisch expandieren zum Beispiel in die Westschweiz. Diese Option haben wir auch schon geprüft. Konkrete Pläne dafür gibt es aktuell aber nicht. Jedes Exemplar vom Blick am Abend wird von etwas mehr als zwei Personen gelesen. Damit haben wir das Potenzial wohl ausgeschöpft.

MEDIENWOCHE:

Mehr Leser pro Exemplar erreicht ihr, wenn die Pendler die Zeitung im Zug liegen lassen. Um zu verhindern, dass sie das Blatt mit nach Hause nehmen, könnt ihr den Inhalt nach unten nivellieren. So hast du das mal beschrieben.

Peter Röthlisberger:

Das habe ich wirklich nur im Scherz gemeint. Das stünde ja im Widerspruch zur journalistischen Arbeit. Man will ja immer das Maximum herausholen und den Leuten das Beste geben. Würde das Niveau künstlich tief gehalten, würden die bestehenden Leser abspringen.

MEDIENWOCHE:

Was heisst für dich «das Maximum rausholen»?

Peter Röthlisberger:

Wir wollen bei den News alles abdecken, was nach Redaktionsschluss der Tageszeitungen geschieht, bis zu unserem eigenen Redaktionsschluss um 13.30 Uhr. Sozusagen eine kompakte Zusammenstellung aller News zwischen Mitternacht und Mittag. Zudem bieten wir Unterhaltung und Lifestyle. Hierzu wollen wir den Leuten sagen, was angesagt ist, wie sie sich anziehen sollen, wo sie essen gehen sollen, welches Auto noch spannend sein könnte. Jeden Tag machen wir diesen Spagat zwischen relevanten News und leichtfüssiger Unterhaltung.

MEDIENWOCHE:

«Blick am Abend» wurde auch darum lanciert, um die Marke «Blick» als Gesamtes zu stärken. Inzwischen habt ihr ein eigenständiges Profil, seid selbst eine starke Marke. Was bleibt vom ursprünglichen Anspruch?

Peter Röthlisberger:

Natürlich ist man bei Ringier stolz, einen Titel zu haben, der vor allem im städtischen Gebiet und bei jungen Lesern stark ist. Der «Blick am Abend» ergänzt die «Blick»-Gruppe dadurch optimal und wir versuchen unsere jüngeren Leser an die Marke «Blick» heranzuführen, damit sie später einmal die Tageszeitung oder den «Sonntags-Blick» kaufen. Dies gestaltet sich jedoch nicht ganz einfach, da die drei Titel unterschiedliche Leser ansprechen.

MEDIENWOCHE:

Vor fünf Jahren hast du als Chef mit einer eigenen Redaktion begonnen, heute bist du Chefredaktor ohne Redaktion in einem Newsroom. Wie hat diese Umstellung den «Blick am Abend» verändert?

Peter Röthlisberger:

Es hat uns mehr Kompetenz gebracht. Beim redaktionell eigenständigen «Blick am Abend» in den ersten beiden Jahren waren die meisten Journalisten Allrounder, die von allem etwas wussten, aber in der Tiefe vielleicht nicht so viel. Dann kamen wir vor drei Jahren in den Newsroom und können nun auf Spezialisten aus den verschiedenen Ressorts zugreifen. Davon profitieren wir.

MEDIENWOCHE:

Im Newsroom tritt ein Chefredaktor als Bittsteller auf. Lassen sich altgediente Journalisten leicht motivieren, für den jungen «Blick am Abend» in die Tasten zu greifen?

Peter Röthlisberger:

Die neuen Journalisten im Newsroom sind von Anfang an mit der Idee vertraut, für verschiedene Kanäle zu schreiben. Die alte Truppe hat aber schon eine starke Verbindung zu ihren angestammten Titeln. Wenn einer vom «Sonntags-Blick» in den Newsroom kam, dann schlägt sein Herz auch heute noch für den «Sonntags-Blick». Die Grenzen lösen sich aber auch hier laufend auf.

MEDIENWOCHE:

Wie hat sich deine Arbeit verändert als Chefredaktor im Newsroom ohne «eigene» Redaktion?

Peter Röthlisberger:

Eigentlich positiv. Ich kann mich nun vermehrt um die Zeitung kümmern und muss weniger Organisatorisches erledigen. Mit der neuen Organisation bin ich nur noch für drei Personen direkt verantwortlich, vorher waren es dreissig. Das heisst, ich muss nur noch mit drei über Ferien reden, über Anliegen und persönliche Sorgen.

MEDIENWOCHE:

Das bedeutet aber auch eine Entfremdung vom Personal.

Peter Röthlisberger:

Das erlebe ich nicht so. Ich habe intensiv mit den Leuten zu tun, sie schreiben ja weiterhin Artikel für meinen «Blick am Abend». So gesehen ist die Zusammenarbeit sogar noch enger, weil sie auf den Journalismus fokussiert ist.

MEDIENWOCHE:

Mit dem Newsroom sollte es auch möglich sein, einzelne Themen über mehrere Kanäle abzubilden. Das geschieht bei der «Blick»-Gruppe selten. Wieso?

Peter Röthlisberger:

Wichtige Ereignisse kommen immer in allen Kanälen vor. Es gibt jedoch auch Themen, die sich besser für den «Blick am Abend» eigenen, andere wiederum besser für den «Blick». Da wir einen eher leichtfüssigen Zugang pflegen, ist es für den «Blick» auch nicht immer ganz einfach, nachzuziehen.

MEDIENWOCHE:

Der «Blick am Abend» will den Leser am Feierabend nicht über Massen belasten mit schwerer Kost, gleichzeitig aber sämtliche relevanten News vom Tag bringen. Wie bringt ihr das unter einen Hut?

Peter Röthlisberger:

Wenn etwas Schlimmes passiert, dann bilden wir das eins-zu-eins ab. Am ersten Tag bringen wir ein solches Thema, wie jedes andere Nachrichtenmedium auch. An den Folgetagen suchen wir dann nach der positiven Geschichte.

MEDIENWOCHE:

Ein Markenzeichen vom «Blick am Abend» sind seine Kolumnen. Besonders jene von Helmut Maria Glogger. Du hast einmal gesagt, pro Woche müsstest du mindestens drei seiner Entwürfe zurückweisen. Ein bisschen viel Aufwand für einen einzigen Autor.

Peter Röthlisberger:

Glogger schreibt meist zwei Kolumnen, falls ich eine ablehne. Er schreibt sehr gut, immer auf den Punkt, aber es ist eine intensive Auseinandersetzung, ob und wie man den Text nun bringt.

MEDIENWOCHE:

Wie reagieren die Leser auf Glogger?

Peter Röthlisberger:

Er kriegt am meisten Rückmeldungen von allen unserer Kolumnisten. 50 Prozent finden ihn super, 50 Prozent finde es schrecklich, was er macht.

MEDIENWOCHE:

Trotz dieser breiten Ablehnung hältst du an ihm fest?

Peter Röthlisberger:

Genau deswegen. Die Fans haben wir eh im Sack. Die Unzufriedenen setzen sich mit ihm auseinander, sonst würden sie gar nicht erst reagieren. Diesen bieten wir auch Unterhaltung, einfach nicht so, wie sie es sich wünschen. Das Wichtigste ist, dass wir die Leute emotional abholen.

MEDIENWOCHE:

Hast du vor fünf Jahren das Metier gewechselt vom recherchierenden und schreibenden Journalismus ins schnell getaktete Gratiszeitungsgewerbe?

Peter Röthlisberger:

Geschrieben und recherchiert wird bei uns immer noch, auch von mir. Mein Wechsel war kein bewusster Schritt. Marc Walder kam auf mich zu und meinte, er würde mir die Rolle als Chefredaktor zutrauen. Das ist ja eine schöne Situation, weil man sich nicht darauf vorbereiten kann. Dann ist es noch die schönere Situation, weil es vermutlich die letzte Tageszeitung ist, die in der Schweiz gegründet wurde.

MEDIENWOCHE:

Die gedruckte Presse befindet sich generell im Niedergang. Wie lange gibst du dem «Blick am Abend» noch?

Peter Röthlisberger:

Der «Blick am Abend» ist ein gutes Beispiel, dass Print auch heute noch funktioniert. Dies beweisen unsere Leserzahlen, welche sich innert fünf Jahren mehr als verdoppeln haben. Ich würde wirklich darauf wetten, dass es den «Blick am Abend» mindestens noch fünf Jahre auf Papier gibt. Verschwinden wird er auch danach nicht. Ich könnte mir aber vorstellen, dass er dann ausschliesslich in digitaler Version erscheint.

MEDIENWOCHE:

Die Inhalte im «Blick am Abend» sind alles andere als exklusiv und bieten alleine keine Überlebensgarantie.

Peter Röthlisberger:

Online gibt es täglich Tausende News. Unser Service ist, dass wir die Nachrichten einordnen und das tägliche Weltgeschehen in 32 Seiten packen.

MEDIENWOCHE:

Diese Einordnung erfolgt unter grossem Zeitdruck, was regelmässig zu Fehlern führt. Falsche Namen, falsche Zahlen, nichts Schlimmes, aber doch mit einer gewissen Konstanz. Wie tolerant sind die Leser?

Peter Röthlisberger:

Sie melden sich sehr schnell, wenn sie Fehler entdecken. Dank unserer starken Präsenz auf Twitter und Facebook bieten wir auch die Kanäle für die Rückmeldung. Dabei ist der Ton sehr unterschiedlich. Wenn jemand meint, er wisse etwas sehr genau, dann reagiert er stärker und sagt uns schon mal, was wir doch für Trottel seien. Wenn wir uns für den Fehler entschuldigen, fühlt sich der Kritiker ernst genommen und findet es super, dass er eine Rückmeldung erhält.

MEDIENWOCHE:

Es hat aber auch gröbere Schnitzer gegeben, wie etwa jene irreführende Schlagzeile zu einem Asyl-Artikel.

Peter Röthlisberger:

Hier waren die Reaktionen heftiger, weil wir tatsächlich einen Fehler gemacht und einen fehlerhaften Titel gesetzt haben. Das kann man nicht schönreden. Wir haben uns damals auch entschuldigt, zuerst auf Twitter, dann in der Zeitung. Trotzdem gab es eine Demonstration vor dem Pressehaus. Ich habe eine Stunde mit den Leuten gesprochen und mich nochmals entschuldigt.

MEDIENWOCHE:

Welche Fehlerkultur pflegst du nach innen?

Peter Röthlisberger:

Im Wissen darum, dass wir wahnsinnig schnell arbeiten und niemand absichtlich Fehler macht, kann ich die Leute nicht zusammenstauchen. Fehler passieren im Eifer. Wenn jemand aber den gleichen Fehler mehrmals macht, dann müssen wir reagieren und die Person mit einer anderen Aufgabe betrauen. Irgendwann ist auch meine Toleranz aufgebraucht.

MEDIENWOCHE:

Der «Blick am Abend» verdient sein Geld ausschliesslich mit Werbung. Zu reden geben immer wieder «kreative» Werbeformen, wie aktuell die Migros-Kassenzettel-Kampagne. Habt ihr das im Vorfeld kontrovers diskutiert?

Peter Röthlisberger:

Diskutiert schon, aber nicht kontrovers. Uns ist bewusst, dass wir darauf angewiesen sind, attraktive Plätze für Werbung anzubieten. Entscheidend für mich ist nur, dass die redaktionelle Autonomie bewahrt wird. Dies war bei der Migros-Kassenzettel-Kampagne der Fall.

MEDIENWOCHE:

Beim Migros-Kassenzettel war dies der Fall. Der war auf der Titelseite platziert, die sonst redaktionell bespielt wird.

Peter Röthlisberger:

Für mich war es klar, dass ich diesen Platz für Werbung zur Verfügung stellen würde, weil ich ja die genau gleiche Geschichte bringen konnte, die ich auch ohne Inserat gemacht hätte.

MEDIENWOCHE:

War das die bisher «kreativste» Werbeidee im «Blick am Abend»?

Peter Röthlisberger:

2008 wollte Singapur Airlines, dass wir englische Texte bringen. Da haben wir zu ihren Reisezielen in Australien englische PR-Texte veröffentlicht, natürlich als solche deklariert. Für noch kreativere Ideen sind wir immer offen.

MEDIENWOCHE:

Wie nah am Verlag stehst du?

Peter Röthlisberger:

Wenn der Verlag den Wunsch äussert, dass ich bei Kundengesprächen dabei bin, dann mache ich das gerne. Auch zur strategischen Ausrichtung des «Blick am Abend» sind wir im engen Austausch. Und bei grösseren Projekten, wie aktuell zum Beispiel dem Jubiläum, arbeiten wir natürlich täglich Hand in Hand.

MEDIENWOCHE:

Ihr habt ja nun die hinteren Seiten umgestaltet und neuen Werberaum geschaffen. Wie das?

Peter Röthlisberger:

Wir werden künftig Artikel so layouten, dass sie einem gängigen Werbeformat entsprechen. Damit können Kunden kurzfristiger Inserate buchen. Dieses Bedürfnis besteht vermehrt. Wir nehmen dann einfach den vorgesehenen redaktionellen Inhalt raus und bringen dort die Werbung. Unter dem Vorbehalt des Trennungsgebots von Geld und Geist machen wir vieles möglich.