von Fredi Lerch

Der gefürchtete Bewunderte

Wer eng mit Niklaus Meienberg zusammengearbeitet hat, trägt zwiespältige Erinnerungen an den heute weitherum bewunderten Journalisten mit sich. So auch Fredi Lerch. Zehn Jahre lang kreuzten sich die Wege der beiden auf der WOZ-Redaktion. Erinnerungen an einen polarisierenden Polterer, der einem alles abverlangen konnte.

Zuletzt, als er immer hektischer unterwegs war, um in der Weltpolitik zum Rechten zu schauen, haben wir uns schliesslich aus den Augen verloren. Ich sass zuhause über Dokumenten zum Berner Nonkonformismus der Sechzigerjahre, als am Nachmittag des 22. September 1993 das Telefon läutete und der Kollege von der Berner WOZ-Aussenstelle, Urs Frieden, mitteilte, Niklaus habe sich umgebracht.

Als ich Meienberg im Winter 1982/83 kennenlernte, war er Korrespondent des «Stern» in Paris. Kam er in Zürich vorbei, dann gewöhnlich auch auf der WOZ-Redaktion. Die Zeitung war damals gerade ein gutes Jahr alt, galt als linksextrem, und Meienberg hat ihren Start vor seinem Weggang nach Paris mit regelmässigen Beiträgen unterstützt. So kam er jeweils herein: Raumfüllend von einer Sekunde auf die andere, das schmuddelige Jackett über die Schulter geworfen, voller Geschichten und Belehrungen, bewundernswürdig, bewundert. Hin und her gehend vor meinem Schreibtisch erteilte er mir eines Abends eine Privatvorlesung: «Lerch, wenn du schreiben willst, dann musst du zuerst eine Antwort haben auf die Frage, wem die Sprache gehört.» Die Frage hat mich danach jahrelang umgetrieben.

Im Herbst 1983 lebte er wieder in Zürich. Eines Tages kam er mit Otto F. Walters neuem Roman vorbei, «Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht». Schlecht sei dieser Text, schimpfte er, nicht recherchiert, ins Blaue hinaus fiktioniert, «sub-realistisch». Er setzte sich im Nebenraum an eine Schreibmaschine und als wir tags darauf zur Arbeit kamen, sass er zwischen überfüllten Aschenbechern und Manuskriptseiten voller durchgeschlagener Punkte und wilden Kugelschreiberkorrekturen. Der Text gab zu reden. «Organisiert eine Diskussion!», sagte er. Ich war bei denen, die organisierten. Gegen zwei Dutzend Autoren und Autorinnen äusserten sich schliesslich zur «Subrealismus»-These. Otto F. Walter schwieg lange verletzt, schliesslich aber, am 27. April 1984, kam er nach Zürich, um sich zur Diskussion mit Meienberg an einen Tisch zu setzen. Das Gespräch wurde Höhepunkt und Abschluss dieser «Realismusdebatte».

Langsam wurde mir allerdings klar, dass Meienberg nicht nur fabulierte, brillierte und charmierte, sondern auch intrigierte und diktierte. Die einen bewunderten ihn, die anderen fürchteten ihn. Aber Kollege war er niemandem. Im Januar 1987 kritisierte ich ihn in einer WOZ-Kolumne: Statt die prekäre kulturelle Identität der ausserparlamentarischen Linken zu stärken, mache sich Meienberg mit seinen Artikeln zunehmend zum Don Quichotte im Kampf mit den «Abziehbildchen des Zürcher Establishments» – die WOZ diene ihm als Rosinante. Kritik an der edelsten Firmenfeder im eigenen Blatt? Es gab Streit. Man strich den entsprechenden Abschnitt in meinem Text. Das tat Meienbergs Empörung, als er ihn zu Gesicht bekam, keinen Abbruch: «Lieber Lerch (…) bist Du stolz, dass Du es kalten Arsches diesem Meienberg gesagt hast? Es wäre gratis-Stolz, weil keine Argumentation dahintersteckt, sondern Ressentiment-Rülpser und schlecht riechende Eifersüchteleien.»

In ihrer Meienberg-Biografie von 1999 schreibt Marianne Fehr: «In den nächsten paar Wochen herrscht dicke Luft auf der Redaktion. Diejenigen, die Meienbergs informell starke Position schon längere Zeit beargwöhnten, bekämpften die ‘Meienberg-Fraktion’ und umgekehrt.» Ich fühlte mich damals vom WOZ-Kollektiv zensuriert, von Meienbergs Anwürfen verletzt und vom nachfolgenden Konflikt als Kollektivmitglied bedroht. Seither traute ich diesem Vorbild nicht mehr über den Weg. Als er Anfang 1990 mit Telefon und Telefax von der WOZ-Redaktion aus den Golfkrieg verhindern wollte, gehörte ich zu jenen, die mit Spott und Häme nicht geizten. Dafür schäme ich mich heute.

Ich bin sicher: Nach dem Anruf von Urs Frieden war da zuerst weder Bestürzung, Trauer noch die Enttäuschung, dass der gefürchtete Bewunderte sich so aus der Welt schlich – da war nichts als Ratlosigkeit. Manchmal, wenn ich nach einem empörenden Ereignis die üblichen windelweichen Zeitungskommentare lese, denke ich: Was würde Meienberg jetzt sagen? Dass mir seine Stimme wichtig blieb und manchmal fehlt, kann ich hier trotzdem nur deshalb schreiben, weil es ihn nicht mehr gibt.

Der vorliegende Text wurde erstmals 2003 im «Kleinen Bund» veröffentlicht.

Leserbeiträge

Frank Hofmann 19. September 2013, 11:22

Mon Dieu, lasst ihn doch endlich ruhen. Für die hiesige spiessige Linke mag er eine Legende sein, für die andern und international war und ist er völlig unbedeutend.

Ronnie Grob 19. September 2013, 11:41

Das glaube ich nicht, Meienberg ist bedeutend. Dass er international eher unbekannt ist, liegt nicht an seinen fehlenden Verdiensten, sondern an der Ignoranz des Auslands. Dass zu seinen Geburts- und Todestagen jeweils so viele Artikel über ihn erscheinen, zeigt eine grosse Sehnsucht auf, die Schweizer Journalisten, nicht nur linke, in sich tragen. Einfach mal wieder lesen, man bemerkt sofort den Unterschied zu fast allem, was heute so publiziert wird.

Erwin Künzli 21. September 2013, 13:04

Natürlich wird er international wahrgenommen. Welcher Schweizer Autor schafft es schon zwanzig Jahre nach seinem Tod noch in deutsche Medien, zum Beispiel? Gestern im Deutschlandfunk «Büchermarkt» mit zwei Büchern aus den 70er-Jahren etwa: http://www.dradio.de/aod/html/?broadcast=57976

Annabelle Huber 20. September 2013, 20:29

Ich habe Meienberg zu Lebzeiten nur am Rande wahr genommen. Ich hatte den Eindruck, dass viele Leute ihre politische Verantwortung auf Meienberg abwälzten. Und dieser Tubel hat das mit sich machen lassen. Hat zuviel Verantwortung auf sich geladen. Meienberg wütete für sich und für andere, derweilen sich diese guten Gewissens ein geruhsames Leben einrichten konnten.

Frank Hofmann 21. September 2013, 12:02

Die wenigen Linken, wie der Autor des Blogs, die sich mit ihm anlegten, schämten sich nachträglich für ihren „Mut“. Das kann nicht allein mit dem späteren Selbstmord erklärt werden, sondern mit dem Spiessertum seiner Entourage, von denen er die meisten ebenso verachtete wie seine politischen Gegner. Il a créé le vide autour de lui. Bis er sich verrannte.

Annabelle Huber 21. September 2013, 21:37

Zwischen dem, was die Linke sein sollte und dem, was die Linke ist in der Schweiz klafft ein solcher Abgrund, dass es erstaunt, wie diese Leute es scheinbar immer noch schaffen, eine Verbindung herstellen zu können zu ihrem Dasein und ihrem vermeintlichen (?) Ideal.

Wenn Meienberg so bedeutungslos ist für die Welt, wie Sie schreiben und nur in der Schweiz zählt, dann würde das doch sagen, dass es in der Schweiz eine weltweit einmalige Eigentümlichkeit gibt. Und dass Meienberg in enger Verbindung dazu steht, es möglicherweise sogar artikuliert hat.

Eine spiessige Linke scheint es mir jedoch sowohl in Deutschland wie in Frankreich zu geben, spiessigere noch in England und den U.S.A. Das allein kann es nicht sein.

Im Wiki steht, dass er an einer bipolaren Psychose gelitten habe.

Das oben beschriebene AntiGolfkriegsszenario könnte statt gefunden haben im Rahmen einer manischen Phase, da würde dann Kritik an Meienbergs Tun Ausdruck sein von einem gesunden Menschenverstand.

Annabelle Huber 07. Oktober 2013, 16:42

Um das Phänonen Niklaus Meienberg annähernd zu verstehen, wird man nicht umhin kommen, sich mit der bipolaren Störung näher auseinander zu setzen.
Der Tagi hat vor einigen Tagen einen sehr anschaulichen Artikel zum Thema online aufgeschaltet. Die you tubes dazu sind auch alle eindrücklich und sehenswert.
http://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Wenn-es-ihm-am-besten-geht-ist-er-am-meisten-krank/story/30532811