westnetz.ch: Experiment mit einem Hybrid
Seit zwei Jahren betreiben die Zürcher Verkehrsbetriebe VBZ mit westnetz.ch einen digitalen Quartieranzeiger. Nach anfänglicher Kritik aus Verlagshäusern sieht die Branche das Projekt inzwischen als Bereicherung: Die Konkurrenz findet hier Themen und Talente. Westnetz.ch ist das Werk von VBZ-Kommunikationschef Heinz Vögeli. Für ihn und seine Redaktion ist klar: Ein journalistisch geführter Dialog ist die Zukunft der Firmenkommunikation.
Wer nach journalistischen Experimenten sucht, wird selten an den bekannten Verlagsadressen fündig. So führt denn auch der Weg zum Herausgeber eines Online-Quartieranzeigers nicht zu den Medienunternehmen im Zentrum Zürichs, sondern an die Peripherie nach Altstetten. Hier am Hauptsitz der Verkehrsbetriebe Zürich VBZ arbeitet Heinz Vögeli. Der Vizedirektor des Tram- und Busbetriebs amtet zugleich als Personalchef und Kommunikationsleiter. Und seit zwei Jahren ist er auch noch ein bisschen Verleger und Digital-Pionier.
So wenig, wie man öffentlichen Verkehrsbetrieben digitale Medienexperimente zutraut, so wenig passt Heinz Vögeli ins gängige Bild eines jung-dynamischen Online-Enthusiasten. Seit 33 Jahren arbeitet der gebürtige Glarner bei den VBZ. Der Tages-Anzeiger nannte ihn einst den «Paradies-Vögeli der Verkehrsbetriebe». Die Titulierung passt: Nimmt er sich doch immer wieder die Narrenfreiheit heraus, Projekte anzureissen, deren Erfolg nicht von vornherein feststeht. Das war bei der Einführung der Regenbogenkarte in den 1980er-Jahren der Fall und das scheint sich nun auch jetzt zu wiederholen. Das Unfertige ziehe ihn an, Dinge, die noch nicht sind, was sie sein können. Was aus westnetz.ch wird, weiss heute niemand.
Spiegel eines Stadtteils im Umbruch
Es waren die Launen der Weltgeschichte, die Vögeli auf eine Idee brachten: Wenn es in Nordafrika möglich war, mit dem Internet Revolutionen anzufachen, dachte er sich, dann sollte es doch ein Leichtes sein, mit Online-Hilfe in Zürich eine neue Tramlinie zu bewerben. Das war vor zwei Jahren. Inzwischen hat westnetz.ch seinen ursprünglichen Zweck erfüllt. Längst rollen die Trams reibungslos westwärts. Doch westnetz.ch bleibt. Als digitaler Quartieranzeiger hat die Plattform ihre Nische im lokalsten Lokaljournalismus gefunden, als Spiegel eines Stadtteils im Umbruch. Einzelpersonen und Unternehmen aus Zürich West, aber natürlich auch die VBZ, erhalten eine Stimme auf westnetz.ch.
Die VBZ haben die Online-Plattform aus einem «banalen unternehmerischen Interesse» lanciert, sagt Heinz Vögeli. Er sitzt an einem langen Konferenztisch, lehnt sich im Bürosessel zurück und spricht mit grosser Bedächtigkeit, trocken setzt er die Pointen: «Wenn wir zeigen, was rechts und links der Tramschienen passiert, dann verkaufen wir mehr Fahrkarten.» Geschäft ist Geschäft. Ein leichtes Lächeln huscht über Vögelis Mundwinkel, als wolle er sagen: Doch, ich habe richtig entschieden. Mit westnetz.ch haben die Zürcher Verkehrsbetriebe einen ungewöhnlichen Weg eingeschlagen für die Unternehmenskommunikation. Die Online-Plattform soll als unabhängige journalistische Plattform funktionieren und nicht als Verlautbarungsorgan der VBZ. Auch Themen, die das Unternehmen betreffen, werden redaktionell aufbereitet. «Journalisten kann man keine Vorgaben machen», weiss Vögeli.
VBZ bleiben im Hintergrund
Ist das perfider Etikettenschwindel? Wollen die VBZ dem nichts ahnenden Leser unter falscher Flagge PR-Botschaften unterjubeln? Unternehmenskommunikation getarnt als Journalismus? Wer sich westnetz.ch anschaut, kommt kaum auf die Idee, dass die Verkehrsbetriebe Zürich dahinterstecken. Nur ganz diskret am Seitenrand zeigt sich das blaue VBZ-Logo. Von den Beiträgen auf der Startseite weist selten einer auf den prominenten Herausgeber hin.
Der Verdacht auf verkappte PR ist jedoch schnell entkräftet. Die Texte handeln von einem Fussballstadion (das wohl nie gebaut wird), von einem SVP-Politiker, dazu ein bisschen Sex und Lifestyle – ein Mix wie in anderen Onlinemedien auch. Artikel zu den VBZ im Speziellen und dem öffentlichen Verkehr im Allgemeinen muss man schon mit der Lupe suchen. Und wenn einmal Tram und Bus ein Thema sind, dann spielt eine VBZ-Kommunikationsfrau die Rolle der Journalistin. So auch nachdem Anfang Jahr ein Cobra-Tram ausbrannte. Die VBZ verzichteten auf eine Medienmitteilung und liessen stattdessen den zuständigen Bereichsleiter in einem Interview Stellung nehmen, was mit dem beschädigten Fahrzeug geschieht. Das Video fand schliesslich den Weg auf tagesanzeiger.ch, wo es als Ergänzung zu einem redaktionellen Bericht zum Cobra-Brand eingebunden wurde.
Als Honorar eine Monatskarte
Die überwiegende Mehrheit der Beiträge auf westnetz.ch stammt von inzwischen über 80 Autorinnen und Autoren, die keinerlei Interessenbindungen zu den VBZ haben. Neben einigen Journalisten, die in Zürich-West wohnen, handelt es sich um schreibfreudige Amateure. Als Honorar erhalten sie eine VBZ-Monatskarte im Wert von 78 Franken. Wann sie schreiben und was sie schreiben, steht ihnen völlig frei. Und auch mit dem Lokalbezug nimmt man es einigermassen locker. Die gut frequentierte Sexkolumne auf westnetz.ch könnte genauso in einer anderen Stadt, in einem anderen Land erscheinen.
Die freiwillige Mitarbeit sei zwar ein wichtiges Standbein von westnetz.ch, aber «die Blogger alleine garantieren keine Konstanz», weiss Heinz Vögeli. Für die publizistische Grundlast sorgt deshalb eine vierköpfige Redaktion, zu deren Aufgaben es ebenso gehört, die Qualität der Blog-Postings zu sichern. «Jeder Beitrag wird von der Redaktion gegengelesen und erst danach zur Veröffentlichung freigegeben», sagt westnetz.ch-Erfinder Vögeli. Chefredaktor ist Thomas Haemmerli, ein erfahrener Journalist (Sonntagszeitung, SF) und Filmemacher («7 Mulden und eine Leiche»). Als Stellvertreter steht ihm David Schaefer zur Seite, auch er gewesener Journalist (blick.ch). Dazu kommen zwei Praktikanten. Sie erhalten für ihre Arbeit 1200 Franken pro Monat von den VBZ sowie eine professionelle Betreuung durch die Redaktionsleitung.
Diskussionen versachlichen
Haemmerli versteht westnetz.ch «als einen Hybrid zwischen Journalismus und Unternehmenskommunikation.» Den Nutzen für die VBZ sieht er vor allem darin, dass sich auf einer Plattform, die nach journalistischen Spielregeln funktioniert, Kritik am Unternehmen «im Dialog abfedern lasse». So empfahl er den VBZ, auch rüde und ungerechtfertigte Kritik zuzulassen. Das verleihe der Seite Glaubwürdigkeit und funktioniere für das Unternehmen wie ein Seismograf. Die Kritik könne man dann in journalistischer Form zurückspielen und so die Diskussion versachlichen. Das scheint tatsächlich zu funktionieren: «Als im Quartier das Gerücht umging, die VBZ-Passagierzahlen würden nicht stimmen, haben wir sofort eine Geschichte gemacht, in der die zuständige Fachfrau der VBZ porträtiert und akribisch erklärt wurde, wie Tram-Sensoren Leute zählen und Menschen von Kinderwagen unterscheiden», sagt Haemmerli. Daraufhin habe sich die Diskussion versachlicht und die aggressive Kritik sei verstummt. Haemmerli ist überzeugt: «Ein journalistisch geführter Dialog ist die Zukunft der Firmenkommunikation.»
Dass ein Konstrukt wie westnetz.ch bei traditionellen Medienunternehmen auf Skepsis stösst, liegt auf der Hand. Vorbehalte gab und gibt es viele. Sei es die Finanzierung mit öffentlichen Geldern, sei es das Abweichen von der reinen Lehre des unabhängigen Journalismus, sei es die muntere Bloggerei quer durch die Themenpalette. Zum Start von westnetz.ch Ende 2011 ignorierten die lokalen Medien westnetz.ch weitgehend. Nur die NZZ präsentierte das Projekt und liess Kritik anklingen an den Kosten für die neue VBZ-Plattform. Stärker in den öffentlichen Fokus rückte die Plattform allerdings erst, als die westnetz.ch-Autorin Linda Solanki eine ihrer Sex-Kolumnen nicht dem Tram-, sondern dem Analverkehr widmete. Damit standen erneut die Kosten der Plattform im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Mit Tram-Werbung finanziert
210’000 Franken für einen Sex-Blog, wunderte sich daraufhin die Weltwoche. Viel (Steuer)geld für einen zweifelhaften Nutzen, lautete der Tenor. Und auch der Tages-Anzeiger VBZ-Mann Vögeli gibt Entwarnung. Den Grossteil der Mittel für westnetz.ch habe man über die versponserten Fahrzeugnasen der Cobra-Trams hereingeholt (siehe Bild). Ausserdem hätte man das gleiche Geld auch «für einige wenige Zeitungsinserate ausgeben können» – mit weit weniger nachhaltiger Wirkung als der Investition in eine Online-Plattform. Dieser Entscheid dürfte die Lokalmedien nicht freuen. Denn hier zeigt sich ein Prozess, bei dem die traditionellen Medien nur verlieren können: Werbegelder fliessen vermehrt in die eigenen Kommunikationsaktivitäten von Unternehmen und Behörden. Die Zeitung als Transmissionsriemen wird zunehmen obsolet.
Die Kritik an westnetz.ch ist heute weitgehend verstummt. Das mag zum einen damit zu tun haben, dass die VBZ-Quartierplattform mit seinen täglich rund 600 Besuchern eine kleine Nische bedient und wirtschaftlich keine ernst zu nehmende Konkurrenz für Tages-Anzeiger und NZZ darstellt. Zum anderen pflegen die Zürcher Medien ein schon fast symbiotisches Verhältnis zu westnetz.ch. «Wir finden hier immer wieder Themen für unsere Zeitung und entdecken Schreibtalente», sagt Edgar Schuler, Ressortleiter Zürich am Tages-Anzeiger. Kollege Thomas Ribi von der NZZ ist in seiner Einschätzung zur ungewöhnlichen Unternehmenskommunikation der VBZ skeptischer. Die Verkehrsbetriebe sollten ihre Informationspflicht nicht mit «einem so stark an kommerziellen journalistischen Formen orientierten Angebot erfüllen», findet Ribi. Im Berufsalltag sieht er aber westnetz.ch durchaus als Bereicherung nach dem Motto: Konkurrenz belebt das Geschäft. «Klar ärgern wir uns, wenn wir eine spannende Geschichte zuerst bei westnetz.ch lesen müssen», sagt der NZZ-Lokalchef.
Einfluss auf Lokalzeitungen
Ribi und Schuler stimmen grundsätzlich darin überein, dass ein Unternehmen der öffentlichen Hand eine Informationspflicht hat und diese auch bestmöglich erfüllen solle. Die Macher von westnetz.ch wiederum stellen fest, dass ihre Arbeit, die Berichterstattung der Lokalzeitungen beeinflusst. «Der Tages-Anzeiger ist viel schneller als vorher, wenn es um Zürich-West geht», beobachtet Redaktionsleiter Thomas Haemmerli. Aber manchmal ist auch er schneller. Etwa mit einem Interview mit Richard Wolff als Stadtratskandidat. Einzelne Aussagen daraus machten danach die Runde durch die anderen Lokalmedien, inklusive NZZ und Tages-Anzeiger.
In der Schweizer Medienlandschaft stellt westnetz.ch ein Novum dar. Bis jetzt sind es vor allem private Firmen, die verstärkt mit journalistischen Formen in der Unternehmenskommunikation hantieren. Zum Beispiel der Lebensversicherer Swiss Life mit einem gleichnamigen Magazin, wo bekannte Autorinnen schreiben, wie etwa Margrit Sprecher. Verwaltung und Behörden informieren zwar auch was das Zeug hält, aber keine öffentliche Körperschaft wäre bisher so weit gegangen, die Zügel aus der Hand zu geben und dem Journalismus so viel Raum zu bieten, wie dies die VBZ mit westnetz.ch tun.
Unklar, wie es weitergeht
Zum Schicksal eines Pioniers gehört es auch, dass seine weitere Entwicklung nicht klar vorgezeichnet ist. Westnetz.ch kann scheitern und zusammen mit anderen Online-Magazinen auf dem Müllhaufen der Netzgeschichte landen. Die VBZ wissen noch nicht genau, wohin genau die Reise gehen soll mit ihrer Quartierplattform. «Wir prüfen verschiedene Möglichkeiten», sagt Heinz Vögeli heute nur. Naheliegend wäre es, die Berichterstattung auf das gesamte VBZ-Einzugsgebiet auszuweiten. Aus westnetz.ch würde zürinetz.ch. Damit einhergehen könnte eine Integration der Plattform in die Hauptseite der Verkehrsbetriebe. Wie eine «Westnetzisierung» von vbz.ch genau aussehen würde, weiss Heinz Vögeli aber noch nicht. Klar ist nur, dass damit die journalistischen Leistungen einem breiteren Publikum zugänglich gemacht würden und sich der Mitteleinsatz gegenüber Kunden und Steuerzahlenden besser legitimieren liesse.
Anton Keller 08. Oktober 2013, 10:46
So etwas gehört nicht zum Grundauftrag der VBZ so etwas zu machen.
Das erwähnte Medium erreicht sowieso paraktisch niemanden. So musste die VBZ trotzdem Inserate in 20min schalten, um auf Gleisarbeiten und Fahrplanänderungen wegen Anlässen hinzuweisen.