von Lukas Leuzinger

Den Flüchtlingsstrom gab es nur in den Medien

In einer neuen Serie geht die MEDIENWOCHE Geschichten nach, die einst für Schlagzeilen gesorgt haben und danach in Vergessenheit gerieten. Wie beispielsweise die Flüchtlingswelle aus Nordafrika – die erst dann kam, als sich kein Journalist mehr dafür interessierte.

Die Schlagzeile: «Flüchtlingswelle kommt in wenigen Wochen.»
Februar 2011: Nordafrika befindet sich im Umbruch. Hunderttausende gehen auf die Strasse. In Ägypten, Tunesien und Libyen fallen die Autokraten wie Dominosteine. Und die Schweiz hat vor allem eine Sorge: die grosse Flüchtlingswelle aus Nordafrika.
Wochenlang wird in den Medien über den bevorstehenden «Ansturm» diskutiert. Der Migrations-Sonderbotschafter des Bundes, Eduard Gnesa, spricht von «berechtigten Befürchtungen» vor einer Flüchtlingswelle. Für die Schweizer Medien ist die Sache klar: Die «Flüchtlingswelle kommt in einigen Wochen», titelt Newsnet (24.02.2011). «Wie gross wird die Flüchtlingswelle?», fragt die Aargauer Zeitung (26.02.2011). Und die Weltwoche konstatiert: «Die Schweiz ist nicht bereit» (03.03.2011).

Die «Arena» vom Schweizer Fernsehen widmet dem Thema eine Sendung. Dort warnt FDP-Nationalrat Philipp Müller: «Das Dublin-Abkommen wird kaum funktionieren.» Sein Kollege Hans Fehr von der SVP schlägt gar vor, die Armee an der Grenze zu stationieren. Und Christoph Mörgeli befürchtet, dass sich die Schweiz auflösen werde «wie der Zucker im Tee» – alles wegen der Flüchtlingswelle aus Nordafrika.

Was seither geschah: Tsunami statt tunesische Flüchtlinge
Von einer Welle war dann aber weit und breit keine Spur. Der allgemein erwartete Flüchtlingsstrom blieb weitgehend aus. Stattdessen beschäftigte bald eine ganz andere Welle die Schweiz: In Japan traf im März 2011 ein Tsunami auf die Küste, verwüstete mehrere Städte, löste im Atomkraftwerk Fukushima eine Kernschmelze aus und spülte die nordafrikanischen Flüchtlinge aus den Schlagzeilen der Schweizer Presse.

Für die ersten drei Monate 2011 liefert der Suchbegriff «Flüchtlingswelle» in der Schweizer Mediendatenbank SMD 302 Treffer. Im zweiten Quartal sind es mit 157 noch etwas mehr als halb so viele, im dritten Quartal sinkt die Zahl auf 35 und im vierten schliesslich auf 29.
Umso interessanter sind diese Zahlen, wenn man sie der offiziellen Asylstatistik gegenüberstellt. Diese weist für das gesamte 2011 2574 Asylgesuche von Tunesiern aus – das sind etwas mehr als 10 Prozent aller Anträge in diesem Jahr. Die meisten Gesuche aus Tunesien – nämlich 879 – fielen in den letzten drei Monaten des Jahres an. Fazit: Zuerst berichteten die Schweizer Medien während Wochen über die bevorstehende Flüchtlingswelle. Doch als schliesslich so etwas Ähnliches wie eine Flüchtlingswelle kam, interessierte sich bereits niemand mehr dafür.

Für das dritte Quartal 2013 weist die Statistik des Bundes noch 251 Asylanträge aus Tunesien aus. Das ist der tiefste Wert seit dem Beginn des sogenannten arabischen Frühlings. Von den 4813 Tunesiern, die 2011 oder 2012 ein Asylgesuch stellten, befinden sich nach Auskunft des Bundesamts für Migration noch 417 in der Schweiz. (Allerdings sind 1660 weitere Personen unter der Kategorie «Unkontrollierte Ausreise» aufgeführt, d.h. es ist unklar, ob sie tatsächlich ausgereist oder in der Schweiz untergetaucht sind.)

Wie es weiter geht: Journalismus vs. Realität
Ist heute von einer Flüchtlingswelle die Rede, dann im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien, der die Bewohner über die Grenzen in die anliegenden Länder treibt. Migration aus Nordafrika ist in dem Schweizer Medien vom Radar verschwunden. Selbst die Flüchtlingsinsel Lampedusa sorgt nur noch selten für Schlagzeilen.

Dass Medien zeitlich versetzt und inhaltlich verzerrt über Migrationsbewegungen berichten, ist kein schweizerisches Phänomen. So hat kürzlich der britische Guardian  zu diesem Thema fünf nationale Zeitungen auf die Kluft zwischen Berichterstattung und Realität abgeklopft. Und siehe da: Während die Arbeitsmigration aus Bulgarien und Rumänien von 2005 bis 2006 um 35% anstieg, nahm die Berichterstattung dazu im gleichen Zeitraum um das Zehnfache zu (plus 325%).

Leserbeiträge

Heer Grau Charlotte 14. Januar 2014, 15:35

Hier hätte ich mir am Schluss des Artikels mindestens ein zweites Fazit gewünscht, auch wenn es sich um eine Serie handelt und also Fortsetzung theoretisch angesagt ist.
Denn dass Medien verzerrt über Migrationswellen berichten, ist tatsächlich kein neues Phänomen. Dass Medien sich von Parteiinteressen instrumentalisieren lassen, dass sie sich für Kampagnen vor den Wagen spannen lassen, ist mindestens in Spuren Teil einer neuen Qualitätsdebatte in vorderhand kleinen interessierten Kreisen.

Die Frage ist, was löst eine derartige Berichterstattung bei der Leserschaft aus? Eine These in 9 Sätzen:

1. Schlagzeilen über zu erwartende Flüchtlingswellen überschwemmen das Land.
2. Bei einem grossen Teil der Leserschaft löst das diffuse Ängste aus.
3. in den Medien wird kein Korrektiv angeboten.
4. Umfragen stellen fest, dass Schweizerinnen und Schweizer ein grosses Unbehagen hegen, welches von der Politik nicht Ernst genommen werde, außer von der SVP.
5. Moderatoren und Moderatorinnen fragen mit ernsten Mienen in Talkshows sich zierende Politiker, was sie denn gegen diese Angst der Schweizer zu tun gedenken.
6. Vielen Parteien fällt nichts Gescheiteres ein, als sich selbst in die Nähe der SVP zu rücken.
7. Es gibt in den wirkungsmächtigen Massenmedien nirgends ein Korrektiv, nirgends ein Zurechtrücken, nirgends ein „die Flüchtlingsströme sind ausgeblieben“.
8. Was bleibt ist die diffuse Angst in grossen Kreisen.
9. Die Schweiz staunt, dass wieder eine fremdenfeindliche Initiative mehr angenommen wurde. – Und stellt lakonisch fest: Der Souverän hat immer recht.

Es ist dies ein Mechanismus, der munter bewirtschaftet wird, von allen Seiten. Es ist ein Mechanismus, der eine Gesellschaft nicht nur an, sondern in den Abgrund fahren kann, ohne dass sie sich dessen bewusst ist. Es ist ein widerlicher Teufelskreis. – Unterbrochen werden kann er nur von gutem Journalismus. Von Journalistinnen und Journalisten, die von ihren Verlagen die Zeit einfordern, die sie brauchen, um seriös arbeiten zu können. Nach wie vor im Print, nicht nur bei den Öffentlich-Rechtlichen, sondern auch bei den Privaten und für alle auch Online. Und von der Politik brauchen sie die Unterstützung für diese Forderungen gegenüber den Verlagen.

Geld verdienen mit Medien ist ein legitimes Anliegen. Aber Medien stellen kein beliebiges Produkt her, sondern sind ein wichtiges Fundament einer aufgeklärten Gesellschaft. Das ist, was wir heute einfordern müssen, als Gesellschaft. Zwingend!

Frank Hofmann 14. Januar 2014, 18:03

„Guter Journalismus“ wäre, aufzuzeigen, um was für Flüchtlinge es sich denn da genau handelt. Dies, nachdem ja die Autokraten weggespült worden sind in Nordafrika. Sind es gar Anhänger dieser Ben Alis & Co.? Wenn ja, soll man ihnen hier Asyl gewähren und warum? Warum kommen sie trotz Dublin überhaupt in die Schweiz?
Was verstehen Sie, Frau Heer, genau unter einem Flüchtling? Genügen Armut und Arbeitslosigkeit? Die tiefe Anerkennungsquote spricht wohl für sich, hat aber für die politisch korrekte und sich im Recht wähnende Medienschaffende wenig bis keine Bedeutung.
Es ist ein bisschen einfach, gegen Rechts zu bashen, ohne der Sache auf den Grund zu gehen.