Internet kaputt! Nicht kaputt!
2014 startet mit einer Grossdebatte um das Internet und die Überwachung. Nach einem Text von Sascha Lobo erscheinen Beiträge von Guido Berger, Wolfgang Michal, Evgeny Morozov, Stefan Betschon, Michael Seemann, Oliver Georgi, Jeanette Hofmann und Constantin Seibt. Ein Überblick mit Einordnung.
«Die digitale Kränkung des Menschen»
(faz.net, Sascha Lobo, 11. Januar)
«Ich habe mich geirrt, und zwar auf die für Experten ungünstigste Art, also durch Naivität.»
Hund beisst Mann – keine Nachricht. Aber Mann beisst Hund – unbedingt eine Nachricht! Wenn also «Deutschlands bekanntester Internet-Experte» Sascha Lobo sagt, das Ding sei «kaputt», dann ist das für alle, die durch das Ding bisher Nachteile erfahren haben, also zum Beispiel Zeitungsjournalisten, eine willkommene Nachricht, die sie sofort und gerne weiterverbreiten. Dass es womöglich eher banal ist, dass eine Einzelperson sich etwas vorgestellt hat und nun von seinen Vorstellungen enttäuscht wurde, spielt da keine Rolle. Was die im Text sechs Mal von Lobo erwähnte «Netzgemeinde» ist, will und macht, bleibt unklar und folglich auch unwichtig.
«Trau keinem Internet-Experten»
(srf.ch, Guido Berger, 13. Januar)
«Einer wie Sascha Lobo lebt von Zuspitzungen.»
SRF-Digitalredaktor Guido Berger war einer der ersten, der auf Lobos Artikel reagierte, mit dem Herunterholen der Thesen auf das Einerseits-Andererseits: «So wenig wie das Internet den Weltfrieden brachte und alle plötzlich kreativ und frei wurden, so wenig ist es jetzt plötzlich nur noch der verlängerte Arm von Tyrannen und Spionen.» Lobo erledige, was Journalisten von einem Experten erwarten, nämlich «komplexe Themen verkürzt erklärt zu bekommen». Dass Berger auch einer dieser «Experten» ist, kann man dem Schlusssatz entnehmen: «Wenn also selbsternannte Internet-Experten behaupten, sie könnnen dieses Internet in einem Satz erklären oder ein komplexes Problem ganz einfach lösen, dann ist gesunde Skepsis wohl die beste Reaktion.» Genau, gesunde Skepsis ist ein hervorragender Ratgeber, hat doch Lobo weder sich selbst zu einem Internet-Experten ernannt, noch das Internet in einem Satz erklärt, noch behauptet, ein komplexes Problem ganz einfach lösen zu können.
«Sascha Lobos Busse und Neubeginn»
(carta.info, Wolfgang Michal, 14. Januar)
«Nachdem Lobo viele, viele Absätze lang über seine Abkehr von den alten Illusionen philosophierte und seine frühere Naivität öffentlich geißelte, kommt er uns schon wieder mit … naivem Idealismus. Sollen wir darüber frohlocken?»
Wolfgang Michal analysiert Lobos Büssertum auf lesenswerte Weise und vergleicht die Blindgläubigen unter den Internetfreunden mit den «gutgläubigen Kommunisten der dreißiger Jahre». Enttäuscht ist Michal vor allem vom Schluss, den Lobo zieht, nämlich einfach weiter zu machen mit einem «neuen Internetoptimismus». Dazu gebe es gar keinen Anlass.
«Wir brauchen einen neuen Glauben an die Politik!»
(faz.net, Evgeny Morozov, 14. Januar)
«Nicht digitalen Optimismus sollten wir kultivieren, sondern Optimismus im Blick auf öffentliche Institutionen und einen neuen Glauben an die Politik.»
Zusammen mit dem die Debatte entzündenden Text von Lobo bereits geplant war die Antwort der Anti-Internet-Allzweckwaffe der deutschen Medien, Evgeny Morozov, dessen Geschäftsmodell es ist, jenen, die mit gedruckter Ware Geld verdienen, Argumente gegen das Internet zu verkaufen (siehe dazu auch «Kollektiv der Konservativen» vom 2. April 2013).
Morozov, geboren im realsozialistischen Weissrussland und ausgebildet an Universitäten in den USA, Bulgarien und Deutschland, fordert die Investition von «Milliarden in eine öffentliche Informationsinfrastruktur». «Sie muss dezentral und öffentlich sein, mit Bürgern, die ihre eigenen Daten von Beginn an besitzen», schreibt er. Es klingt wunderbar, aber ich scheitere sofort, wenn ich mir das in der Realität vorzustellen versuche. Man überlege sich nur mal, ob es das Internet, so wie wir es heute benutzen, überhaupt geben würde, wenn dessen Entwicklung nicht von privaten Unternehmen vorangetrieben, sondern von öffentlich-rechtlichen Gebilden vorgenommen worden wäre, von der ARD, dem ZDF, der SRG. Oder direkt von Deutschland, der Schweiz oder der EU. Man kann davon ausgehen, dass es in einem ganz anderen Zustand wäre. Mit weniger Überwachung? Morozov wird davon überzeugt sein.
Europa hat es trotz Hunderten von Millionen Euro Fördersubventionen nicht geschafft, eine welt- oder auch nur europaweit beliebte Suchmaschine zu etablieren, die Google das Wasser abgraben hätte können (Stand aktuell: Google hat in Deutschland einen Suchmaschinen-Marktanteil von über 90 Prozent). Das seit bald zehn Jahren geförderte Projekt Quaero beispielsweise kann bisher nicht viel mehr als ein paar Demos und Prototypen sowie einige auf YouTube (gehört Google) hochgeladene Image-Videos präsentieren. «Das Elend der europäischen Suchmaschinen» ist auf Faz.net nachzulesen.
«Ist das Internet kaputt?»
(nzz.ch, Stefan Betschon, 16. Januar)
«Nicht das Internet ist kaputt, wie Lobo schreibt, sondern der naive Internet-Enthusiasmus.»
Stefan Betschon zeigt verletzte Gefühle, musste doch jeder, der (wie er) der Internet-Euphorie der letzten Jahre kritisch gegenüber stand, «sich als Ewiggestriger, als Schallplattenverkäufer, Print-Journalist, als Verlierer abkanzeln lassen». Um so mehr freut er sich, «dass im Kopf von Sascha Lobo die Gedanken nun die Richtung gewechselt haben, dass der unbegrenzte Internet-Enthusiasmus einer differenzierteren Betrachtungsweise gewichen ist». Alles korrekt, aber will jemand wirklich behaupten, dass die Welt insgesamt durch das Internet schlechter geworden ist? Falls die Antwort «Ja» lautet, dann aber bitte auch für die Erfindung von Autos, Fahrstühlen, Kreditkarten, Mobiltelefonen und der Elektrizität generell. Neue Technik bringt nun mal neue Probleme mit sich.
«Lieber Sascha, wir müssen reden.»
(mspr0.de, Michael Seemann, 17. Januar)
«Wer seine Strategie darauf aufbaut, den Kontrollverlust wieder eindämmen zu können, hat keine Strategie.»
Viel um Verletzungen geht es auch bei der Antwort an Sascha Lobo, die, wie fast immer bei Michael Seemann, sehr ausführlich daherkommt. Es gehe bei der FAZ-Aktion um die Trophäe Sascha Lobo («Schaut her. DER deutsche Internetguru höchstpersönlich hat die Seiten gewechselt»), und anders, als die FAZ ständig abzulenken versuche, sei der Gegner der Staat, und nicht die Unternehmen. Aus dem generell staatsgläubigen und wirtschaftsfeindlichen Berlin ist also überraschenderweise ein «weniger Staat» zu hören: «Jeder Euro und Dollar, der – weltweit – nicht in Geheimdienste fließt, hilft die Überwachung einzuschränken oder zumindest nicht schlimmer werden zu lassen.»
«Das Internet ist nicht kaputt»
(faz.net, Oliver Georgi, 20. Januar)
«Wir sind es, die unsere Daten bereitwillig dem Internet überlassen, ohne uns großartig darum zu scheren, wer was damit anfängt.»
Oliver Georgi übernimmt von Sascha Lobo den ominösen Begriff «Netzgemeinde» und hält ihr vor, «sich das Internet als einen Ort erträumt zu haben, an dem die Realität keine Geltung haben würde». Doch das Netz sei «keine bessere Welt, sondern lediglich ein Abbild der bestehenden». Dankenswerterweise erinnert Georgi daran, das für Millionen Menschen in Unrechtsstaaten erst das Internet eine vorher undenkbare «Form des Protests und des öffentlichen Widerstands gegen den Repressionsapparat ermöglicht» habe. Das Verdienst von Edward Snowden sieht er darin, Sascha Lobo und uns alle mit der digitalen Realität bekannt gemacht zu haben.
«Das Internet ist nicht kaputt, aber die Tradition des Privaten»
(tagesspiegel.de, Jeanette Hofmann, 20.1.)
«Das Netz selbst ist intakt, unsere Traditionen des Privaten sind es, die einer Revision bedürfen.»
Jeanette Hofmann fühlt sich nach der Lektüre des Lobo-Texts wie «nach der Ouvertüre schon wieder nach Hause geschickt», leider komme «Lobos Lamento über den beklagten intellektuellen Trümmerhaufen nicht hinaus». Sie dagegen nimmt die neuenthüllten Entwicklungen als gegeben hin und setzt sich mit der Neuerfindung und dem Neubau der Privatsphäre auseinander. Die «traditionellen Grenzziehungen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten» gehörten auf den Prüfstand, glaubt sie, und fordert von der Gesellschaft einen «Neubau des Privaten».
«Die Auslöschung der Freiheit»
(tagesanzeiger.ch, Constantin Seibt, 20.1.)
«In Zusammenarbeit von Regierungen und Konzernen ist ein System fast absoluter Macht entstanden.»
Wie schön, im Tages-Anzeiger von der Sorge um die Freiheit zu lesen! Lobo habe «furchtbar recht», findet Constantin Seibt, denn «etwas Grundsätzliches» habe sich geändert. Die totale Überwachung bringe die zentralen Werte aller Parteien in Gefahr. «Das Einzige», was einen in dieser neuen Welt retten könne, sei, «sich nichts zuschulden kommen zu lassen» – was die Freiheit gefährde. «Internetüberwachung schlimm!» wäre ein angemessener Titel des Beitrags, der nicht den Ansatz einer Lösung bereithält. Es wäre wünschenswert, Seibt würde sich so wie Lobo in das Thema verbeissen und in weiteren Artikeln Lösungsansätze aufzeigen.
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Der Ausgangsbeitrag ist eher bedeutungslos, die Debatte hat aber durch Sascha Lobo als öffentliche Büsserfigur einer «Netzgemeinde» eine beträchtliche Breitenwirkung erfahren. Inhaltlich bleibt die Debatte oberflächlich. Einer langen und breiten Diskussion, ob das Internet jetzt «kaputt» oder «nicht kaputt» sei, ist das Schweigen vorzuziehen. In seiner Konstruktion der vernetzten Server ist das Internet eigentlich unkaputtbar; die Frage ist, ob die Überwachung diesen Raum unbenutzbar macht oder nicht.
Diskutiert werden muss die Frage, wie die Nutzer sich stellen wollen zur Überwachung durch private Firmen, denen man sich freiwillig ausliefert und durch den Staat, den man dafür mit Steuergeldern bezahlen muss. Die Frage ist und bleibt, mit welchen Mitteln der einzelne Bürger die Übermacht der Staaten, der Geheimdienste und der Grosskonzerne eindämmen kann.
Ein Sascha Lobo verdient Respekt, weil er sich nicht einfach mit den Tatsachen abfinden will und Woche für Woche auf «Spiegel Online» die Überwachungsmethoden und das Totstellen der Politik zur Kritik daran anprangert. Während eine Jeanette Hofmann die neue Lage offenbar bereits als gegeben akzeptiert und sich nur noch überlegt, wie sich die Gesellschaft damit arrangieren soll.
Wieso sich nicht mehr Schweizer Journalisten zu diesen Fragen einschalten, bleibt ein Rätsel: Wo bleiben die Debatten-Beiträge zur Überwachung und zur Zukunft des Internets in den Sonntagszeitungen, der Weltwoche, der Basler Zeitung, der Zeit Schweiz, dem NZZ-Feuilleton? Interessiert unsere Leser nicht? Wer’s glaubt! Nicht relevant? Constantin Seibt ist anderer Meinung: «Durch totale Überwachung sind die zentralen Werte aller Parteien in Gefahr: die Freiheit der Liberalen, die nationale Souveränität der Rechten, die Chancengleichheit der Linken. Zu diesem Thema bräuchte es eine grosse Koalition.»