Reichweite oder Bezahllösung?
Die Medienmarken im Netz stehen am Scheideweg: Entweder sie setzen auf die Karte Reichweite und optimieren die Besucherzahlen ihrer Websites in jeder erdenklichen Weise. Oder sie setzen auf die Karte Bezahllösung – und vergessen die hohen Besucherzahlen und die damit verbundenen Werbeeinnahmen. Die klare Trennung von Masse und Klasse könnte eine Chance sein für beide Modelle.
«Das erste Werbebanner der Geschichte wurde von 44 Prozent der Nutzer angeklickt, die es sahen. Heute, 20 Jahre später, gilt eine Klickrate von fünf Promille als Erfolg.» Und: «Nur noch jeder Zehntausendste findet Werbe-Einblendungen im Web so interessant, dass er darauf klickt, um mehr zu erfahren.» Zwei Sätze aus dem Brandeins-Artikel «Die kurzen Arme der Datenkraken» zeigen auf, dass klassische Online-Werbung heute kein einfaches Geschäft ist. Dass Print-Anzeigen besser beachtet werden, ist nicht zu belegen, was Print-Verleger glücklich macht, denn so können sie mangels Gegenbeweis ungestraft behaupten, dass dem so ist.
Tatsache ist, dass Print-Werbung nach wie vor gute bis sehr gute Einnahmen garantiert, und auch mit Online-Werbung ist Geld zu machen, wenn man denn eine hohe Reichweite (Anteil der Zielpersonen, die durch einen Werbeträger erreicht werden) ausweisen kann. Um die zu erreichen, muss man den Lesern nicht das liefern, was sie zu lesen vorgeben und behaupten, sondern das, was sie tatsächlich anklicken. Und das ist, wie jeder weiss, der schon mal die Statistiken seiner Website konsultiert hat: Boulevard, Sex, Listen, Breaking News in allen Facetten, Emotionen (Freude, Streit, Hass, …), Promis (Blocher, Federer, Winiger, …), aber natürlich auch herzige Tierfotos oder neue Erkenntnisse über Nazis oder Ufos.
Das erste Problem der Schweizer Zeitungen im Internet ist, dass sie die Reichweite ausbauen wollen, ohne die (dem Leser bekannte) Marke zu verändern, also so genannte «Qualität» einzubüssen. Sie wissen alle, wie eine hohe Reichweite zu erreichen wäre, möchten aber den traditionellen Leser nicht vergraulen und fahren die Website deshalb mit angezogener Handbremse. Keine Überraschung also, dass bei der Reichweitenmessung ganz oben die Boulevardportale 20min.ch («Hose runter, Fudi raus – so wird man bekannt») und Blick.ch («Kelly Brooks Freund ist teilweise Rechtsträger») stehen, die keine Scheu haben, die Region unter der Gürtellinie zu bewirtschaften.
Der englischsprachige Raum wurde in letzter Zeit von neuen Playern wie Buzzfeed oder Upworthy belebt, die das Leserinteresse konsequent (und zum Teil inhaltlich brillant) bedienen. Felix Salmon ist gar der Meinung, in den letzten acht Monaten habe sich das Nachrichtengeschäft stärker verändert als in den fünf Jahren zuvor. Watson.ch («Iouris Gold-Musen: Welcher Frau schenkte ‹iPod› den Yolo-Flip?») und Blickamabend.ch («Schülerin behauptet: Uma Thurmans Bruder ist ein Yogi-Grüsel!») gehören zu diesen neuen Websites, die sich nicht schämen, das Ziel einer hohen Reichweite zu verfolgen. Wer nicht höhere Ziele hat als Visitors, Visits und Page Impressions zu bolzen, sollte dementsprechend konsequent sein und die Handbremse lösen.
Das zweite Problem ist die Ausgestaltung der Bezahllösung. Eine Runde hiesiger Kadermitarbeiter schaffte es kürzlich am Communication Summit zum angekündigten Thema Gratiskultur und digitale Herausforderungen, nicht ein konkretes Wort über mögliche Bezahllösungen zu verlieren. Man schweigt und hofft auf Einnahmen, selbst wenn dazu nicht viel Anlass besteht. Christine Maier, die Chefredaktorin vom SonntagsBlick, konnte nicht mal die Frage beantworten, ob ihre Zeitung Digitalabos verkaufe und falls ja, wie viele. Die Ringier-Pressestelle macht auf Anfrage keine Angaben zu den Verkaufszahlen; aber selbstverständlich gebe es den SonntagsBlick als E-Paper, hier und hier.
Einige wenige Schweizer Printprodukte, so beispielsweise die Weltwoche, die Basler Zeitung oder die Schaffhauser Nachrichten, sind im Internet kaum frei zugänglich, was ihre Texte von der sich dort abspielenden Debatte fernhält. Diese Marken entfernen sich nach und nach aus dem Bewusstsein einer Leserschaft mit veränderten Nutzungsgewohnheiten. Doch immerhin bringen sie den Mut auf zu einer harten Bezahlmauer. Die anderen Marktteilnehmer glauben (in vielen Fällen völlig zurecht) nicht daran, dass irgendjemand bereit ist, für das, was sie produzieren, zu bezahlen. Als Faustregel gilt: Wer bringt, was andere auch bringen, sollte sich gar nicht erst um eine Bezahllösung bemühen.
Die im Oktober 2012 im deutschsprachigen Raum erstmals von der NZZ lancierte Metered Paywall ist bisher weniger ein Schutzwall als vielmehr ein höchstens hüfthohes Mäuerchen mit vielen Lücken. Das Modell dient in erster Linie dem Marketing und ist deshalb interessant, weil es die Nutzer dazu bringt, Profile anzulegen – so setzt der Kunde selbst den Grundstein zur Kommunikation und zu einer möglichen Geschäftsbeziehung. Welche Art von Mauer Tagesanzeiger.ch in den nächsten Wochen aufziehen wird, erwartet die Branche mit Spannung: Sie soll flexibel sein und mal diesen und mal jenen Artikel dem freien Zugang entziehen. Was NZZ und Tagi verbindet, ist die grosse Angst vor einem Verlust an Reichweite und die damit verbundene Verminderung der Online-Werbeeinnahmen. Die ja, wie man oft und gerne betont, völlig unbefriedigend sind.
Ist ein Vergleich zum Internet-Porno-Business unangemessen? Dort ist die Situation jedenfalls aktuell so, dass das Kurzfutter, also Fotos und Kurzvideos in allen Bereichen, analog den News frei zugänglich sind. Bezahlt dagegen wird für Vollständigkeit, Qualität und die Befriedigung von Spezialinteressen – was exakt das ist, was echter Journalismus liefert. Wer also meint, er verfüge über Inhalte, für die Kunden zu bezahlen bereit sind, sollte Geld dafür verlangen. Zur Verfügung stehen Bezahlmauern oder das Freemium-Modell.
Ob Reichweite oder Bezahllösung: Gewinnen wird,
- wer seine Strategie konsequenter und mit mehr Einsatz verfolgt als die Konkurrenz.
- wer das bessere CMS, die bessere Software hat.
- wer die besseren Journalisten und Informatiker für sich gewinnen kann.
- wer seine Journalisten und Informatiker besser zusammenarbeiten lässt.
Witzig dabei ist nur, dass die Informatiker, die diese Software erarbeiten und die Journalisten, die diese Software umsetzen sollen, von jenen Herren gefunden werden sollen, die die letzten 15 Jahre damit verschwendet haben, einander an Verlegerkongressen in altehrwürdigen Luxushotels die Unverzichtbarkeit von Papier zu versichern.