von Antonio Fumagalli

In der Regel ein Artikel pro Redaktor und Tag

Richtig: Wenn ein Journalist sein Büro verlässt, kriegt er authentischere Eindrücke. Aber wer hat dafür heute noch Zeit? Ein Einblick in den Redaktionsalltag unseres Kolumnisten zeigt: Der Produktionsdruck ist hoch.

Manchmal braucht es im Leben auch ein bisschen Glück – besonders als Reporter, wie Nik Niethammer in seiner letzten Kolumne eindrücklich beschrieb. Aufgrund des krankheitsbedingten Ausfalls eines Kollegen erlebte er als junger Redaktor der Schweizer Illustrierte den Fall der Berliner Mauer hautnah mit. Zwei Tage später kehrte er mit tausend Bildern im Kopf, einer 15’000-Zeichen-Geschichte in petto und null Schlaf in den Knochen nach Zürich zurück.

Wer wünscht sich so etwas als Journalist nicht: Ein welthistorisches Ereignis, dem man live beiwohnen und seine Eindrücke danach nicht nur mit dem eigenen Tagebuch, sondern sozusagen mit der ganzen Welt teilen kann. Aus dem warmen Büro heraus geht das nicht. Folgerichtig schreibt Nik Niethammer, dass Ereignisse dieser Dimension auch heute noch nur mit Reportagen verständlich werden. Und: Dass gerade wir jungen Journalisten «rausgehen, in andere Menschen kriechen, zum Entdecker werden» sollen, da uns sonst das Handwerk der Reportagen verlustig geht.

Ich teile jedes Wort dieser Einschätzung. Wer etwas mit eigenen Augen sieht, kann besser beurteilen, welchen Quellen zu trauen ist, welche Information Gewicht erhalten sollte, welche Bilder aussagekräftig sind und damit letztlich eine authentischere Reportage schreiben. Nur: Zumindest bei den tagesaktuell arbeitenden Medien hat kaum ein Redaktor mehr die Zeit, einfach mal «rauszugehen» – so gern wir es auch tun würden.

Ich schätze mich in der glücklichen Situation, auf einer Redaktion arbeiten zu dürfen, bei der eine Geschichte nicht auf Teufel komm raus auf den kommenden Tag «abgeschossen» werden muss, sofern sie bei einem zusätzlichen Tag Reifezeit bedeutend besser wird und potenziell gar das Zeug zur Frontgeschichte hat. Der Zeitdruck ist dennoch allgegenwärtig. Zur Illustration dazu ein Einblick in den Alltag unserer je nach zählweise fünf- oder sechsköpfigen Inlandredaktion von «Nordwestschweiz» und «Südostschweiz» im Berner Medienzentrum.

Um 9 Uhr morgens sollten wir auf der Matte stehen, dann ist Morgensitzung. Via Konferenztelefon sind wir mit dem Blattmacher in Aarau verbunden und präsentieren unser Programm für den Tag. Das können Eigengeschichten, Interviewvereinbarungen oder sogenannte Agendatermine, wie zum Beispiel eine Pressekonferenz sein. Naturgemäss ist der Inhalt der daraus entstehenden Geschichten noch unausgegoren, die Stossrichtung sollte im Idealfall aber bereits skizziert werden. Wer clever ist, kontaktiert Gesprächspartner bereits am Vorabend.

Dann geht die Recherche los – und ja, die findet in erster Linie mit Computer und Internet statt. Nehmen wir an, ich habe mir zur Aufgabe gesetzt, die Auswirkungen eines Ja zur Pauschalbesteuerungs-Initiative auf den Steuerertrag von wohlhabenden Gemeinden zu untersuchen: Gerne würde ich dafür ins zürcherische Zollikon reisen, um mir vom Gemeindepräsidenten die Strasse zeigen zu lassen, wo seit der kantonalen Abschaffung ein paar Superreiche weggezogen sind (und wohl ebenso viele wieder hinzugezogen). Vielleicht wäre auch ein Besuch beim lokalen Bootsbauer oder in der englischsprachigen Privatschule aussagekräftig.

Das Gesamtbild meines Artikels würde damit sicherlich reicher werden, aber weil es sich nicht um eine bahnbrechende Fragestellung handelt und featuremässige Elemente nicht zwingend sind, wird der Artikel am folgenden Tag erscheinen müssen – was rein zeitlich den Augenschein am Zürichsee verunmöglicht. Also nehme ich das Telefon zur Hand und versuche mir die entscheidenden Fakten von der Gemeinde und dem kantonalen Steueramt zu geben. Ein paar Statements von Politikern runden die Geschichte ab.

Im Idealfall – der allerdings kaum je eintrifft – habe ich die Informationen bis 14 Uhr beisammen, denn dann findet die entscheidende Nachmittagssitzung statt. Wieder in enger Koordination mit der Tagesleitung in Aarau wird entschieden, welche Geschichte in welcher Länge am nächsten Tag ins Blatt kommt. Braucht es vielleicht noch ein Kurzinterview oder eine Informations-Box dazu? Dass jemand der anwesenden Redaktoren keine Zeile für die nächste Ausgabe schreibt, ist definitiv die Ausnahme. Im Regelfall gilt: Ein Artikel pro Redaktor und Tag. Ist es eine grössere Geschichte, können wegen Front-Text und Kommentar schnell auch drei daraus werden. Bei anderen Zeitungen mag diese Kadenz ein bisschen tiefer liegen, auf Online-Redaktionen dafür umso höher.

Welche schreibende Journalisten gehen also heute noch regelmässig raus? Gewiss, bei Wochen- oder Monatspublikationen ist der Zeitdruck geringer und sogar bei Tageszeitungen mag es ein paar Exoten geben, die ein Reporterleben aus dem Bilderbuch führen. Die Regel sind sie aber gewiss nicht. Am ehesten finden sich noch freie Journalisten, die sich, abgekoppelt vom redaktionellen Alltag, die Zeit für eine ausgiebige Recherche vor Ort nehmen können. Doch dann müssen sie für ihre Geschichte zuerst einen Abnehmer finden – und rechnen am Ende wohl besser nicht nach, wie hoch der Stundenansatz für ihre Arbeit war.

Leserbeiträge

Selina 17. November 2014, 19:03

Nett beschrieben. Aber was sagt uns das nun? Einordnung und Kritik fehlt. So bringt das niemandem was.

Marco 17. November 2014, 19:42

Es ist schade, dass die Zeitungen von heute kaum mehr ausführliche Reportagen abdrucken. Die Konsumenten sind selber schuld, wenn sie keine Abos mehr kaufen.

Tim Cole 19. November 2014, 07:45

Ich dachte, Ihr Schweizer hättet das Wort „Redaktor“ erfunden, eil Ihr verstanden habt, dass es zwei Arten von Journalisten gibt: Schreiber und Redakteure/oren. In einem Blogbeitrag (http://wp.me/p26C9O-18k) habe ich kürzlich auf den Unterschied hingewiesen und geschrieben: „Das Wort „redigieren“ kommt vom lateinischen Verb redigere und bedeutet “zurückführen“ oder „in Ordnung bringen”. In der Schweiz heißen Kollegen, die redigieren, „Redaktor“, sind also diejenigen, die redigieren. Es sind also nach helvetischem Selbstverständnis Mitarbeiter, die innerhalb der Redaktion eher Herstellungsaufgaben übernehmen, also bei einem Magazin beispielsweise die Heftplanung, die Beauftragung der Schreiber (sprich: der Journalisten) sowie die Korrektur von Rechtschreibung und Grammatik, aber auch Überwachung der inhaltlichen und stilistischen Qualität. Damit ist ein guter Redakteur mehr als ausgelastet; zum Schreiben bleibt ihm in aller Regel gar keine Zeit.“
Oder was meinen Sie?