von Dominique Strebel

Empörung in Deutschland, Alltag in der Schweiz

In Deutschland wurde das Strafverfahren gegen netzpolitik.org nach lautstarken Protesten eingestellt. In der Schweiz hingegen werden Journalisten wegen ähnlicher Taten verurteilt. Jahr für Jahr. Und kein Hahn kräht danach.

Das Strafverfahren wegen Landesverrats gegen die beiden deutschen Journalisten Markus Beckedahl und André Meister der Internetplattform netzpolitik.org wurde am 10. August 2015 eingestellt. Beckedahl und Meister hatten Auszüge aus den Haushaltsplänen des Verfassungsschutzes publiziert, die belegten, dass der Verfassungsschutz 75 zusätzliche Mitarbeiter anstellen will, die das Internet nach verdächtigen Mitteilungen durchsuchen. Am 30. Juli war bekannt geworden, dass der Generalbundesanwalt gegen die Redaktion von netzpolitik.org ermittelt.

Beckedahl fiel aus allen Wolken, als er von den Ermittlungen hörte: «Ich wusste gar nicht, dass Journalisten wegen Landesverrates angeklagt werden können. Ich dachte sowas ist einmal beerdigt worden», sagte er in einem Interview mit dem «Medienmagazin» von Radio Eins.

Tja, Herr Beckedahl – in der Schweiz ist das üblich! Da braucht es nicht einmal den Vorwurf des Landesverrats: Pro Jahr ergehen gemäss Polizeistatistik durchschnittlich zwei Anzeigen gegen Journalisten, weil sie aus geheimen Dokumenten zitiert haben. Meist werden sie verurteilt, denn dem Bundesgericht genügt es bereits, wenn Journalisten aus einem Schriftstück zitieren, das für geheim erklärt wurde. Den höchsten Schweizer Richtern ist egal, wenn die ganze Schweiz dieses Geheimnis bereits kennt. Und dabei kann es um Banalitäten gehen – weit weg vom Landesverrat.

Das musste zuletzt ein Journalist der NZZ am Sonntag erfahren, der aus einem (geheimen) Kommissionsprotokoll des Nationalrats Äusserungen der damaligen Justizministerin Eveline Widmer Schlumpf über den damaligen Bundesanwalt zitierte. Das alleine genügte dem Bundesgericht 2013 für eine Verurteilung.

Es war egal, dass die ganze Schweiz wusste, dass die Justizministerin und der Bundesanwalt das Heu nicht auf der gleichen Bühne hatten. Immerhin wurde der Entscheid an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergezogen. Vielleicht muss hier Strassburg der Schweiz ein weiteres Mal beibringen, was Medienfreiheit heisst. Doch bis zu einem Entscheid dauert es in der Regel rund sechs Jahre.

Denn die Schweiz erscheint im Vergleich zu Deutschland wie ein Entwicklungsland in Sachen Medien- und Pressefreiheit. Der entscheidende Unterschied liegt in Artikel 293 des Schweizer Strafgesetzbuches, der jeden unter Strafe stellt, der aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde, zitiert, die als geheim erklärt worden sind. Da braucht es keinen Landesverrat, sondern simpelste Geheimnisse (die manchmal gar keine sind) genügen. Das Parlament diskutiert zwar erneut über diesen Strafartikel, will ihn aber nicht streichen, sondern nur geringfügig modifizieren.

In Deutschland wurde ein vergleichbarer Straftatbestand 1980 gestrichen. Das Land lebt gut damit. Verwaltung und Parlament sind nicht zusammengebrochen. Und das Verfahren wegen Landesverrats wirkt wie das letzte Aufbäumen eines alten Staatsverständnisses, das offenbar nur noch wenige teilen – wie die Proteste und Reaktionen der letzten Tage gezeigt haben.

Leserbeiträge

coolray 12. August 2015, 19:03

mich wundert das verhalten nicht. wer will schon das heraus kommt, was hinter dem rücken der bürger beschlossen wird ?? auf jeden fall kein politiker. auchnicht wenn sie abfällig über kollegen reden, soll das möglichst geheim bleiben. und inder schweiz scheint man davor besonder viel angst zu haben. die wahrheit ist halt ungeliebt und unbequem, vor allem wenn sie trotz aller lügen herauskommt.

Jorge Gabriel Pinto 12. August 2015, 21:32

Viva a liberdade de expressão e de imprensa!

away 12. August 2015, 22:53

Hängt vielleicht damit zusammen, dass die inflationär und bei jeder Gelegenheit nach Medienfreiheit schreienden Journalisten nicht respektieren (wollen), dass auch diese ihre Grenze findet. Steht im selben Erlass, aber dafür müsste man ja nachschlagen, nicht…

Germanicus Minimus 14. August 2015, 15:34

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Deutschen den Straftatbestand des Geheimnisverrats in der heutigen Zeit auch nicht mehr abschaffen könnten. Ein Glück ist das bei uns schon vor 35 Jahren passiert, heute würde man sich da bestimmt die Zähne dran ausbeißen.

Ich weiß nicht, wie man sich so als Durchschnittbürger in der Schweiz fühlt, aber nördlich von euch bekommt man wirklich unverschämt schnell den Eindruck, dass die Regierung das Volk als Feind ausgemacht hat. Ist wohl der Zeitgeist gerade, wenn man sich in der Welt mal umhört.

Zufallsleser 14. August 2015, 18:36

Wer die Medienfreiheit der beiden Länder vergleicht, sollte seinen Blick auch auf den unterschiedlichen Umgang mit der Deklaration richten.
In der Schweiz gilt das Öffentlichkeitsprinzip. Aufgrund dessen kann die Einsicht -zwar auf mühsamen Wege, aber es geht- verlangt werden kann, respektive die Deklaration „geheim“ wird überprüft, notfalls gerichtlich.
In Deutschland ist das Öffentlichkeitsprinzip deutlich geringer. Man erinnere sich nur an die „Empörung“ über Veröffentlichungen im Amtsblatt für Betroffene eines Steuerverfahrens.
Da bestehen zwischen den beiden Ländern unterschiedliche Strategien/Handlungsweisen im Umgang mit dem Verhältniss zwischen Staat und Medien. Es drängt sich daher die Frage auf, welches Land, wo und welcher Form, Entwicklungsland ist.

Ich wundere mich allerdings über das Rechtsverständniss des Autors (Jurist). Das BG hatte nur zu beurteilen was der Angeklagte ausgeführt hatte. Zwischen „allgemein bekannten Tatsachen zu erwähnen“ und „zitieren aus Protokollen die als geheim klassiert sind“, besteht ein erheblicher Unterschied. Ganz egal was andere vorher schon veröffentlicht haben. Die Richter hatten den konkreten Fall zu beurteilen und haben dazu ein Urteil gefällt.
Es ist nun mal so, wo kein Kläger, ist auch kein Richter.
Allerdings ist der verurteilte Journalist wohl kaum ohne Hilfe an das besagte Protokoll gekommen. Der „Mittäter“ wäre demnach ebenso zu bestrafen.
Es hätte den Weg gegeben, dieses Protokoll, von geheim auf öffentlich zu bekommen.

Ansonsten ist das Ganze nicht mehr, als dass sich ein Journalist (ob bewusst oder unbewusst) für ein politisches Intrigengeplänkel hat einspannen lassen.

Gary Rann 17. August 2015, 00:01

Die Schweiz ist nach außen hin ein souveränes, neutrales Staatsgebilde. Der Artikel 293 im Strafrecht unterbindet Informations.- und Meinungsfreiheit. Investigativer Journalismus ist unmöglich und das Recht auf Informationen, nachdem was veröffentlicht wird zu beurteilen von offizieller Stelle, dass ist Zensur. Journalisten und freie Journalisten haben ihren Codex. Schweigen, Vertuschen, Angst vor der Wahrheit sind irrelevante Begleitmusik. Politiker, Verfassungsschutz und Gerichte in Deutschland schiessen bei Netzpolitik.org über das Ziel hinaus. Da ist es auch nicht verwunderlich das Whistleblower keinerlei Schutz eingeräumt wird und Geheimdienste munter agieren.

freakpants 27. August 2015, 08:36

Dass das Strafmass 400 Franken beträgt hat aber geflissentlich niemand im Urteil nachgelesen… Das mag zwar immer noch falsch sein ist aber nicht gerade eine langjährige Gefängnisstrafe…