von Nick Lüthi

«Wir haben keine falschen Berührungsängste»

Seit einem halben Jahr amtet Eric Gujer als Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung NZZ und seit zwei Wochen trägt die NZZ ein neues Kleid. Im Gespräch mit der MEDIENWOCHE erklärt Gujer, was der jüngste Relaunch bezwecken soll und wie er das liberale Profil der Zeitung stärken will. Ausserdem nimmt er Stellung zur Kritik an seinen Kontakten zum Nachrichtendienst, sowie zum Schreibverbot für zwei pensionierte, langjährige NZZ-Redaktoren.

MEDIENWOCHE: Eric Gujer, Sie haben den Relaunch von Anfang an begleitet, waren bereits Teil der Projektgruppe «Neo» als sie noch Auslandchef waren. Wo erkennt man ihre Handschrift in der neuen NZZ?
Eric Gujer: Es war ein sehr enges Teamwork in der ganzen Projektgruppe unter Einschluss unserer Designer von «Meiré und Meiré». Nach dem Unterbruch wegen des Abgangs von Markus Spillmann haben wir noch einmal neue Akzente gesetzt. Zum Beispiel entschieden wir uns ganz bewusst dafür, den zweiten Bund der Zeitung fortan mit den Inland-Seiten zu eröffnen. Damit wollen wir die Bedeutung der NZZ als nationales Leitmedium unterstreichen. Das war ein ganz wesentlicher Entscheid.

Die NZZ wolle sich mit dem Relaunch «konsequent an den veränderten Bedürfnissen der Leserinnen und Leser» ausrichten, hiess es. Haben Sie gewisse Anpassungen auch contre-coeur vorgenommen, weil der Leser das halt so will?
Zuerst einmal glaube ich, dass die meisten Änderungen, die einem Leserwunsch entsprachen, durchaus auch den Wünschen der Redaktion entsprechen, wie zum Beispiel die neue Vierbundstruktur. Wir haben natürlich immer wieder verschiedene Varianten getestet, zum Beispiel mit einem grösseren Bildanteil und haben gemerkt, dass dies den Leuten nicht gefällt, weil sie das nicht mehr als NZZ identifizieren. Wir haben auch andere Varianten getestet, die sehr viel weniger Tagesaktualität enthielten und stattdessen auf mehr Hintergrund setzten. Dabei stellten wir fest, dass die Leute eigentlich von der NZZ beides erwarten. Diesen Anspruch wollen wir insbesondere auch mit dem fünften Bund am Freitag einlösen.

Mit der neuen Freitagsausgabe, quasi dem Herzstück des Relaunchs, und dem weiterhin substanzhaltigen Samstagsblatt bietet die NZZ viel Lesestoff für das Wochenende. Ist die Binnenkonkurrenz zur NZZ am Sonntag gewollt?
Ich spreche da ganz dezidiert nicht von einer Binnenkonkurrenz. Sondern im Gegenteil: Wir haben sehr klar versucht, etwas anderes zu machen als die NZZ am Sonntag, die ein sehr gutes Produkt macht, aber ganz anders auftritt. Sie unterscheidet sich zum Beispiel in einzelnen Ressorts stark von uns, etwa bei der Wirtschaftsberichterstattung. Sie bietet zudem einen grossen Anteil an Lifestyle-Themen. Nicht nur im Stil-Bund. Wir halten diese Themen daher bewusst sehr begrenzt.

Den Leserbedürfnissen sind sie nachhaltig nachgekommen mit dem Relaunch. Und jenen der Werbung?
Wir haben neue Formate geschaffen. Zum Beispiel auf der Front. Wir sind generell variabler geworden in den Formaten. Unsere Verkaufsabteilung, die NZZ Media Solutions, hat ihre Bedürfnisse klar angemeldet. Genau so klar war von unserer Seite her, dass die Werbung die Marke NZZ nicht beschädigen darf. Knallige Sticker im Titel gehen bei anderen Medien, bei der NZZ geht das nicht. Der Diskussionsprozess verlief insgesamt sehr entspannt. Es war kein Duell zwischen Werbemarkt und Redaktion, sondern vielmehr ein Ping-Pong-Spiel, in welches auch der Verlag involviert war.

Sie sind auch angetreten, um das liberale Profil der Zeitung zu stärken. Wo stehen sie bei diesem quasi inhaltlichen Relaunch?
Das würde ich nicht als Relaunch bezeichnen. Das ist ein kontinuierlicher Diskussionsprozess in der Redaktion, um das liberale Profil, das wir haben, weiter zu stärken und noch unüberhörbarer als in der Vergangenheit die liberale Stimme der Schweiz verkörpern.

Muss man unter dieser Fokussierung auch eine Wiederannäherung an die FDP verstehen? In ihrem ersten Leitartikel im neuen Blatt klingen sie dazu ja direkt euphorisch.
Wir sind keine Parteizeitung. Wir ergreifen Partei für die liberale Sache. Aber wir haben auch keine falschen Berührungsängste. Gleichzeitig sind wir kritisch und werden das auch bleiben. Sie können sich denken, dass uns die Berichterstattung zum Kasachstan-Lobbying von der FDP nicht nur Lob eingebracht hat. Eine liberale Stimme zu sein, heisst nicht, dass man eng mit einer Partei verbandelt ist. Ich würde auch in Anspruch nehmen, dass die Passage zur FDP im erwähnten Leitartikel nicht als euphorisch zu bezeichnen ist. Ich habe nur die Fakten sehr präzise abgebildet.

Heute sind alle Zeitungen irgendwie liberal. Eine Weltwoche ist liberal, aber auch ein Tages-Anzeiger. Wofür steht die liberale NZZ?
Wir stehen für einen Liberalismus, der stark die Wirtschaftsfreiheit und die Freiheit des Einzelnen betont und dem überbordenden Engagement des Staates kritisch begegnet. Wir unterscheiden uns von vielen, die auch das Adjektiv liberal im Mund führen, dadurch, dass wir im Verhältnis zwischen der Schweiz und der Welt für eine klare Offenheit plädieren.

Dazu die Gretchenfrage: EU-Beitritt ja oder nein?
Die NZZ ist als NZZ noch nie für einen EU-Beitritt eingetreten. Wir finden, dass diese Debatte im Moment nicht ansteht, weil wir mit der EU sehr viel schwierigere Fragen zu klären haben, etwa die Personenfreizügigkeit. Erst danach, wenn die Schweiz eines Tages wirklich weiss, wie ihr Verhältnis zur EU aussehen soll, wären die Voraussetzungen für eine Beitrittsdebatte geschaffen. Ich bin aber sehr skeptisch, dass wir so schnell an diesen Punkt gelangen werden.

Haben Sie für Ihren liberalen Kurs die richtigen Leute?
Unser Wirtschaftsressort ist seit jeher klar wirtschaftsliberal ausgerichtet. Denen kann niemand in der Schweiz etwas vormachen. Auch unser Inland-Ressort trägt unter der Führung von René Zeller eine klar liberale Handschrift. Und im Auslandteil, der sich mit allen Weltgegenden befasst, gab es schon immer Platz für eine etwas breitere Sichtweise. Aber auch dort habe ich als Ressortleiter in den letzten Jahren ein paar neue Leute eingestellt. Und ich glaube, an meiner politischen Prägung besteht kein Zweifel.

Das Auslandressort lebt ja ungleich stärker als die anderen Ressorts von seiner Autorenautonomie. Wird die von der liberalen Akzentverschärfung tangiert?
Die Autorenautonomie war noch nie sakrosankt. Sie musste sich immer einfügen in die Gesamtlinie des Blattes. Politisch sehe ich da aber im Moment keine spannenden Diskussionen. Das ist für die wenigsten Korrespondenten ein Thema, sondern viel eher: Wie weit geht die Autonomie im Zeitalter des Internets mit den ungeheuer schnellen Reaktionszeiten? Ein Korrespondent, der allein vor Ort ist, erfährt oft weniger schnell von einem Vorgang in seiner Umgebung als die weit entfernte Stammredaktion. Die zentrale Frage ist heute also, wie ein Korrespondent seine Autonomie als Autor unter diesen Umständen wahren kann.

Das Auslandressort ist seit ihrem Abgang weiterhin ohne Führung. Dieser Tage hat das Treffen der Auslandkorrespondenten stattgefunden, ein Grossteil der Mitarbeitenden wäre vor Ort gewesen, um ihren neuen Chef zu begrüssen. Wen konnten Sie vorstellen?
Erstens ist das Ressort nicht führungslos, sondern liegt in den bewährten Händen des interimistischen Leiters Andreas Rüesch. Zweitens werde ich in Bälde, wenn es nun auch nicht am Korrespondententreffen war, den neuen Chef oder die neue Chefin präsentieren. Wir haben in den letzten Monaten sehr viel gearbeitet. Da muss man Prioritäten setzen. Gerade weil ich das Auslandressort in so guten Händen weiss, fand ich, dass ich mich vorerst den grösseren Baustellen zuwenden kann.

Eine gewichtige Personalie haben Sie bereits vor ein paar Wochen bekanntgegeben. René Scheu wird neuer NZZ-Feuilleton-Chef. Warum er?
Da gehört sicher die liberale DNA dazu. Da gehört auch dazu, dass René Scheu ein ausgewiesenermassen spannender Journalist ist, der den «Schweizer Monat» zu einem interessanten Forum gemacht hat. Er ist drittens ein sehr guter Blattmacher und viertens braucht es nach einer dermassen prägenden und dominierenden Figur wie Martin Meyer, der so lange amtiert hat, eine Zäsur und eine Blutauffrischung.

Wo verorten Sie René Scheu politisch?
Was mich an ihm am meisten beeindruckt, ist sein wacher, kritischer Geist, mit dem er in der Lage ist, sich ohne Scheuklappen die verschiedensten Positionen anzuschauen, sei es philosophisch, politisch, in der Kultur oder sonst wo. Er ist dabei wirklich extrem wach. Das ist mir das Wichtigste.

Wollten Sie eigentlich schon immer Chefredaktor werden?
Nein, ein Bubentraum war das nicht. Ich träumte nicht einmal davon, Korrespondent zu werden. Für eine solche Position muss eine Konstellation um eine Person herum stimmen. Man muss zum Beispiel im richtigen Alter sein. Und vieles mehr. Stellen Sie sich vor, Markus Spillmann hätte bis zur Pensionierungsgrenze weitergearbeitet, dann würde die ganze Gleichung völlig anders aussehen. Es sind sehr viele Facetten, die jetzt zusammengespielt haben. Aber klar ist: Ich bin gerne Chefredaktor dieser Zeitung. Weil diese Redaktion in der schweizerischen Medienlandschaft ein schon fast einzigartiges Symphonieorchester darstellt, im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern, die mit immer kleineren Combos aufspielen müssen. Die NZZ führen zu dürfen, das ist ein Traum. Kein Bubentraum. Aber ein Traum.

Sie sagen es: Ein Chef führt. Wo haben Sie das gelernt?
Journalisten sind nicht die geborenen Führungspersonen. Ich habe nun zwei Jahre lang das Ausland-Ressort geleitet. Wie man mir attestiert hat, konnte ich das Ressort sehr positiv weiterentwickeln. Über alles andere, wie weit ich die nötigen Fähigkeiten mitbringe, müssen andere urteilen.

Ausbildungen im Führungsbereich?
Nein, ich habe keine solchen Sachen gemacht. Das schliesst aber nicht aus, dass ich vielleicht noch ein bisschen auftanken gehe, wenn sich die Zeitung in ruhigerem Fahrwasser bewegt.

Ein Chefredaktor muss auch die Krisenkommunikation beherrschen, gerade auch in eigener Sache. Die beiden Affären «Geheimdienst» und «Schreibverbot» haben Sie nicht besonders souverän gemeistert.
Die Sache mit dem Nachrichtendienst ist keine Affäre, sondern eine politische Auseinandersetzung zwischen jenen, die wie ich glauben, dass die Schweiz ein modernes und zeitgemässes Nachrichtendienstgesetzt braucht und jenen, die das mit allen Mittel zu verhindern trachten. Letztere Kreise haben jetzt wieder versucht, mich persönlich zu diskreditieren. Ich habe zu keinem Zeitpunkt für den Nachrichtendienst gearbeitet. Ich habe von Anfang an sehr deutlich gesagt, was ich gemacht habe und was nicht. Nämlich: Wie andere Experten auch, habe ich meine Meinung zum Projekt eines Nachrichtendienstgesetzes geäussert. Ich weiss nicht, was erst durch weitere Recherchen herausgekommen sein soll.

Wie auch immer: Unter dem Strich bleibt ein Reputationsschaden.
Das sehe ich überhaupt nicht so. Die gleiche Diskussion habe ich schon anlässlich meines Buchs über den BND 2005 geführt. Die Gegner eines zeitgemässen nachrichtendienstlichen Instrumentariums versuchten schon damals, mich mit den genau gleichen Argumenten zu diskreditieren. Insofern ist an der neuerlichen Diskussion rein gar nichts neu. Es ist der Aufguss einer Diskussion aus Deutschland aus dem Jahr 2006.

Apropos Geheimdienste: Täuscht mein Eindruck oder hat die NZZ tatsächlich sehr schmalspurig über die staatlichen Ermittlung gegen zwei deutsche Journalisten des Blogs Netzpolitik.org berichtet?
Es gab in der NZZ eine sehr dezidierte Kritik am Vorgehen der staatlichen Behörden. Ich glaube, die Generalbundesanwaltschaft und die anderen involvierten Stellen haben mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Im vorliegenden Fall ging es aber nicht um die letzten Fragen, wie etwa die fundamentale Pressefreiheit. Es ist deshalb auch keine zweite «Spiegel-Affäre». Es war ein unverhältnismässiges, unkluges Vorgehen des Generalbundesanwalts.

Keine gute Figur machten Sie jüngst im Umgang mit zwei langjährigen, inzwischen pensionierten Kollegen, denen Sie ein Schreibverbot erteilt haben. Dies als Reaktion auf ein kritisches Flugblatt der beiden Autoren gegen den Kurs der NZZ-Führung. Es gebe kein solches Schreibverbot, sagen Sie.
Lassen wir die Kirche im Dorf. Es handelt sich um zwei pensionierte Mitarbeiter, nicht mehr und nicht weniger. Es gehört zu den regelmässigen Gepflogenheiten von Redaktionen, dass sie immer mal wieder ihre freien Mitarbeiter überprüfen. Wenn wir eine Kolumne auslaufen lassen und einen neuen Autor nehmen, dann hat der eine Kolumnist doch auch kein Schreibverbot. Wir entscheiden uns einfach für andere Leute. Das ist auch hier der Fall. Aber was man schon auch sagen muss: Wer die Zeitung und ihre führenden Personen zum Gegenstand einer Schmähkritik macht, sollte sich schon fragen: Will ich überhaupt für die schreiben, wenn es so schlimm ist? Die Diskussion ist auch ein bisschen skurril: Wir wollen die Redaktion verjüngen und neue Leute holen, da müssen ältere Kollegen akzeptieren, dass sie mal pensioniert sind. Das ist so.

Warum haben Sie die Massnahme den betroffenen Autoren nicht direkt mitgeteilt, sondern es via einen Ressortleiter ausrichten lassen?
(erstaunt) Woher haben Sie das? Dem ist nicht so.

Haben Sie es ihnen direkt gesagt?
Wir haben darüber kommuniziert. Über die Einzelheiten werde ich öffentlich keine Auskunft geben. Es ist für Journalisten manchmal bitter zu erfahren, dass jüngere ihren Platz eingenommen haben. Ich mag mich an Zeiten erinnern, als die noch älteren Kollegen über die Generation der jetzt Pensionierten gesagt hat: Ihr macht alles falsch und wir könnten es viel besser.

Leserbeiträge

Tobias Hoffmann 08. September 2015, 11:39

Liberale sind die eifrigsten Buddhisten: Sie reden in Mantras und wiederholen ihre Glaubenssätze in ewiger Wiederholung und ohne sie zu hinterfragen. Einer dieser Sätze ist die Rede von den immer weiter steigenden Staatsquoten – und das in einer Zeit, wo
1. weltweit daran gearbeitet wird, privaten Firmen ein Klagerecht einzuräumen, mit dem Staaten dazu gezwungen werden können, auf den Schutz ihrer Bevölkerung gegen Umweltschäden, Lohndumping usw. zu verzichten
2. die Umsätze grosser Konzerne schon längst die Staatsbudgets vieler kleiner Staaten übersteigen
3. die Steueroptimierungsstrategien vieler internationaler Unternehmen ganze Staaten zu Steuerwüsten machen.
Der NZZ würde es im Übrigen gut anstehen, sich einmal von den Denkschablonen zu lösen und darüber nachzudenken, wie viele Dinge in den Ministerien vieler Staaten direkt oder indirekt von privaten Unternehmen gesteuert werden und wie eng die Verflechtung von Wirtschaft und Staat in den Staatsstellen der meisten Länder ist. Was Liberale als Staatsquote rechnen, ist in Wahrheit in vielen Fällen privatwirtschaftliche Manipulation unter dem Deckmantel des Staates.