Zuerst das Fressen, dann die freie Meinung
Von freien Medien ist Kuba noch meilenweit entfernt. Daran ändern auch die jüngsten Signale einer politischen und wirtschaftlichen Öffnung wenig bis nichts. Der sozialistische Staat hält die veröffentlichte Meinung weiter unter strenger Kontrolle. Im Internet können Bloggerinnen, etwa die bekannte Dissidentin Yoani Sánchez, einigermassen frei publizieren – nur liest das kaum jemand auf der Insel, weil der Internet-Zugang exorbitant viel kostet.
Wie meist bei Kuba ist die Sache mit der freien Presse auf den ersten Blick ganz einfach. Es gibt nur drei nationale staatliche Zeitungen. «Juventud Rebelde», «Trabajadores» und die als einzige täglich erscheinende «Granma», das Zentralorgan der kommunistischen Partei. Dazu vier staatliche TV-Programme und diverse Radiostationen. Darunter das «Radio Reloj». Seit 1947 auf Sendung bringt es nur Wortbeiträge, jede Minute unterbrochen von der Zeitansage, somit wohl der älteste 24-Stunden-Nachrichtensender der Welt.
Punkt acht Uhr abends beschallt der «Noticiero», die kubanische Tagesschau, die Insel. Wie alle Staatsmedien unterteilt er die Nachrichtenlage nach einem einfachen Prinzip: Es gibt gute Nachrichten aus Kuba, eher schlechte Nachrichten aus allen Ländern der Welt, die nicht unterwegs zum Sozialismus sind – und ganz schlechte Nachrichten aus den USA. Keine Planübererfüllung eines Staatsbetriebs bleibt unerwähnt, kein Protest der Massen gegen kapitalistische Ausbeutung überall auf der Welt, kein Zeichen von Rassendiskriminierung in den USA bleibt unbemerkt. Gebeutelt von Papiermangel wird das Weltgeschehen in der «Granma» meist auf acht Tabloidseiten zusammengefasst, gelegentlich auf zwölf. Aber immerhin, das in einer Auflage von 500’000 Exemplaren erscheinende Blatt kostet nur 20 kubanische Centavos und belästigt den Leser mit keinerlei Inseraten.
Auf den zweiten Blick ist die Informationslage der Kubaner doch nicht so schlecht. Vor einigen Jahren fing «Granma» mit etwas unerhört Neuem an, dem Abdruck von Leserbriefen. Das war eine Revolution in der Revolution, denn zum ersten Mal wurde in einem Staatsorgan Kritik aus der Bevölkerung über bürokratische Hindernisläufe, schlampig ausgeführte Reparaturen an öffentlichen Einrichtungen, mangelhafte Müllabfuhr oder gar Versagen von Staatsbetrieben abgedruckt. Und in gelegentlichen Anfällen von investigativem Journalismus wird den Beschwerden sogar nachgegangen und die davon offensichtlich irritierten Funktionäre und Verantwortlichen werden sogar zu Stellungnahmen, Erklärungen, Entschuldigungen gezwungen. Es gilt nicht mehr länger das Prinzip: Revolutionsfeindliche Propaganda machen schon genügend Medien weltweit, hier bei uns herrscht noch die heile Revolutionswelt.
Als Ausdruck des absurden Verhältnisses zwischen den USA und Kuba strahlt seit 1985 «Radio TV Martí» aus Miami seine Sendungen ausschliesslich nach Kuba aus. In einem Hochsicherheitstrakt im Norden Miamis arbeiten rund 120 Mitarbeiter im Sold der US-Regierung, die sich diesen Spass jährlich rund 30 Millionen Dollar kosten lässt. Das stellt zwar einen Verstoss gegen alle internationalen Bestimmungen dar, soll die kubanische Bevölkerung aber mit «objektiven», in Wirklichkeit regierungsfeindlichen Nachrichten versorgen, hat aber einen kleinen Haken: Ich habe noch nie einen Kubaner getroffen, der diese Sender auch hört oder empfängt. Das liegt schon mal daran, dass Kuba die Signale natürlich stört.
Schon immer gab es in Kuba eine kleine Schar von offiziell akkreditierten ausländischen Journalisten, zu der ich auch zehn Jahre lang gehörte. Reuters, AFP, seit einigen Jahren auch CNN, spanische, kanadische und lateinamerikanische Agenturen haben ihre Vertreter in Havanna. Niemand kann sich über Repressalien oder Schwierigkeiten beim Ausüben seiner Tätigkeit beschweren; ich erlebte niemals, dass ich wegen eines Artikels in der nicht unbedingt revolutionsfreundlichen NZZ gerüffelt oder gar mit der Ausweisung bedroht wurde.
Ich ging allerdings davon aus, dass mein Telefon abgehört wird und ich bei jedem Treffen mit mehr als einem Kubaner damit rechnen musste, dass mindestens einer anschliessend einen Bericht zuhanden des Staatssicherheitsdiensts schreibt. Die Schwierigkeit bestand und besteht mehr darin, dass die offizielle Informationspolitik eher spröde ist. Es gibt zwar ein internationales Pressezentrum, das Interviewwünsche oder Anliegen wie den Besuch einer Fabrik, eines Krankenhauses oder einer Zuckerraffinerie entgegennimmt. Aber das kann dauern, und wird einem endlich einmal ein Termin bei einem Mitglied des Politbüros gewährt, hätte man auch genauso gut den entsprechenden Artikel in der «Granma» lesen können, etwas anderes hat der Genosse nicht zu sagen.
Der einzige Wortführer der Revolution war bis 2006 der Comandante en Jefe Fidel Castro. Allerdings gab der in seiner immerhin 47-jährigen Amtszeit niemals einem deutschsprachigen Organ ein Interview, obwohl man ein Weilchen über meinen noch kühneren Antrag, ein Gespräch zwischen ihm und dem inzwischen verstorbenen Literaturnobelpreisträger und Freund Fidels Gabriel García Márquez moderieren zu wollen, nachdachte. Aber da es bis Ende des letzten Jahrtausends nur zwei deutschsprachige Korrespondenten mit Wohnsitz Havanna gab, denjenigen des «Neuen Deutschland» und eben der NZZ, und der Kollege des ND ist inzwischen pensioniert, ist die Berichterstattung in den deutschen Medien entsprechend.
Es ist bis heute äusserst schwierig und zeitraubend, ein temporäres Journalistenvisum für Kuba zu erlangen. Also reisen die meisten Journalisten als Touristen ein, was sie schon mal vom sowieso spärlichen offiziellen Informationsfluss völlig abschneidet. Werden sie journalistisch tätig, verstossen sie damit gegen die Einreisebestimmungen. Nützen sie ihren Aufenthalt auf Kuba dazu, sich mit Dissidenten zu treffen oder kritisch zu berichten, was zusätzlich unter den Straftatbestand «feindliche Propaganda» fällt, riskieren sie die sofortige Ausweisung. Die kubanischen Überwachungsbehörden funktionieren, ganz im Gegensatz zu vielem anderen, beeindruckend gut und effizient. Und schliesslich handelt es sich hier doch nicht um Zensur, sondern jeder Staat hat wohl das Recht, seine Gesetze durchzusetzen.
Dementsprechend ist leider auch die Berichterstattung, nicht nur in deutschsprachigen Medien. Hunderte, tausende Male wurden seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrtausends die letzten Tage, Stunden, Minuten, Sekunden des castristischen Regimes heruntergezählt. Immer wieder wurden Spannungen in der Gesellschaft, Unruhe in der Bevölkerung, deutliche Anzeichen eines bevorstehenden Aufstands herbeifantasiert. Wie bedauerlich, dass dahinter die unglaublich spannende, widersprüchliche, bunte, einzigartige Realität dieser Insel des real existierenden Surrealismus verschwindet. Denn genauso, wie hier jedes Problem seine Lösung findet, und jede Lösung ihr Problem, gibt es auf jede Frage eine Antwort, und jede Antwort provoziert eine neue Frage.
Aber wie auch immer, bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 30 Franken kann es sich kein Kubaner leisten, ein Abonnement der NZZ, der «New York Times» oder des «Nuevo Herald», der spanischen Ausgabe des «Miami Herald» zu halten. Aber dennoch, sonst wäre es nicht Kuba: Der durchschnittliche Inselbewohner ist über die Weltlage und auch über Vorkommnisse auf seiner Insel normalerweise ausgezeichnet informiert. Bis in die Details. Unvergesslich, wie ich auf der Strasse von einem Kubaner mit der üblichen Frage angehauen wurde, woher ich denn komme. Zuerst wollte ich ihn ignorieren, denn die übliche Fortsetzung ist das Angebot von gefälschten Zigarren, echten Mulatas oder die direkte Bitte nach einem Bakschisch. Als ich dann «Suiza» murmelte, überraschte mich die Reaktion: «Schweiz? Wunderbar, darf ich Sie fragen, wie in der Schweiz der Tod des bedeutenden Schriftstellers Hugo Loetscher aufgenommen wurde?» Im sich natürlich anschliessenden geselligen Zusammensein bei einer Flasche Rum erwies sich mein Gesprächspartner als exzellenter Kenner nicht nur des Werks von Loetscher, sondern der gesamten Schweizer Literatur.
Genauso verhält es sich, wenn es in einem Quartier von Havanna zu Unmutsbekundungen kommt, weil in der «Bodega» der staatlichen Verteilungsstelle für die wenigen subventionierten Lebensmittel mal wieder das Brot ausgegangen war. Innerhalb weniger Stunden weiss das die ganze Stadt, dafür sorgt «Radio Bemba», die Buschtrommel, der mündliche Informationsfluss.
Vor Kurzem war ich in einem beeindruckenden «Paladar»; das Privatrestaurant war vom Feinsten eingerichtet, beleuchtet und beschallt, aus der Profiküche, die sich hinter keinem Schweizer Restaurant zu verstecken braucht, kamen exzellente Gerichte, darunter das wohl beste Roastbeef, das ich jemals gegessen habe. Meine Neugier, wem das wohl gehöre, wurde dann, durch andere Quellen rückbestätigt, in einem Vorort von Havanna durch die Besitzerin eines anderen Paladars gestillt: «Ach, das, das gehört der Tochter von Raúl Castro.»
Aber wie steht es denn mit der Wirkung von regierungskritischen Bloggern, den Betreibern von Internetseiten wie beispielsweise «Generación Y» von Yoani Sánchez, der sogar auf Deutsch erscheint? Gibt es wirklich eine Szene von dissidenten Journalisten, die mit modernen elektronischen Mitteln eine Art Gegenöffentlichkeit zu den staatlich kontrollierten Medien herstellen können? Werden die geduldet, schikaniert, zensuriert, spielen sie bei der Meinungsbildung auf der Insel eine Rolle? Da wird es schnell kompliziert.
Lange Jahre verfolgte Kuba die Politik, dass das Internet eine kapitalistische Erfindung sei, die im Falle Kubas nur das Einfallstor für systemdestabilisierende Einflüsse darstelle, man also die Bevölkerung davor schützen müsse. Bis vor wenigen Jahren hatten nur Angestellte von Staatsfirmen beschränkten Zugang zum Internet. Wer beispielsweise die Webseite des «Miami Herald» aufrief, bekam entweder einen Balken zu sehen, dass er hier etwas Unerlaubtes tue oder aber gleich den Besuch des für die Überwachung zuständigen Genossen, dass sich der Surfer nun ein sehr ernsthaftes Problem eingehandelt habe.
Allerdings müssen auch Staatsfirmen E-Mail benützen, was zur typisch kubanischen Lösung führte, dass ein an beispielsweise Pablo Rodriguez geschickte Mail über drei, vier Zwischenstationen am Schluss bei ihm ankam und er gegen entsprechende Bezahlung auch in der Lage war, normalerweise innerhalb von 24 Stunden zu antworten. Dann kam schlagartig die nächste Generation, Nauta. Immer mehr Kubaner haben auf ihren Smartphones dieses E-Mail-Programm, dass es ihnen ermöglicht, zu einigermassen erträglichen Preisen wireless zu mailen und Mails zu empfangen. Allerdings ist es nicht empfehlenswert, Anhänge, die schwerer als 50 kB sind, zu verschicken, schnell ist die Leitung verstopft. Und als neuste Errungenschaft des Eintritts ins Internet-Zeitalter gibt es immer mehr Hotspots in den grösseren Städten Kubas, wo man sich gratis ins Internet einstöpseln kann. Zuvor schon konnte jeder Kubaner die Infrastruktur von Touristenhotels benützen, wo allerdings eine Stunde Internet den im Vergleich zum Einkommen exorbitanten Preis von 3 bis 5 Franken kostet. Und auch hier sorgt ein Tröpfchenzähler dafür, dass das Laden einer Webseite (oder das Herunterladen einer E-Mail) einige Minuten dauern kann. Ein direkter Kabelanschluss ans Internet in der Privatwohnung ist bis heute für Kubaner verboten; ausländische Firmen zahlen für eine Leitung, die maximal 1 MB empfängt, exorbitante Preise von bis zu 10’000 Dollar. Im Monat.
Also hätte heutzutage mehr oder weniger jeder Kubaner, vorausgesetzt, er hat ein Smartphone, mehr oder minder freien Zugang zum freien Informationsfluss im Internet, mit Neuigkeiten und Meinungen aus Kuba und aus der ganzen Welt. Bloggerinnen wie Yoani Sánchez werden dabei weitgehend in Ruhe gelassen, Sánchez durfte sogar, wie die meisten Kubaner, frei ausreisen, um auf einer kleinen Welttournee ihre Ansichten über die kubanische Revolution zu verbreiten. Sie durfte auch wieder einreisen. Allerdings ist auch sie in der teuflischen Zwickmühle, die jegliche mediale Dissidenz, das Errichten einer Gegenöffentlichkeit, die freie Debatte in Kuba so schwierig macht.
Jeder dissidente oder oppositionelle Medienschaffende in Kuba handelt per Definition illegal, denn es gibt kein Recht auf die Publikation nicht staatlich autorisierter Druckerzeugnisse, und das gilt natürlich auch für das Internet. Zudem ist jeder Kubaner, will er auch nur einen Blog ins Netz stellen, auf finanzielle Unterstützung von aussen angewiesen. Und damit macht er es dem herrschenden Regime natürlich leicht, ihn als Söldling des Imperialismus, als nützlichen Idioten der Feinde der kubanischen Revolution, als Helfershelfer all derjenigen, die die revolutionäre Regierung Kubas stürzen wollen, zu denunzieren. Also schlichtweg als Vaterlandsverräter, der die Geschlossenheit, die Einheit Kubas in Frage stellt, die offizielle Überlebensgarantie für alle zweifellos vorhandenen Errungenschaften der Revolution.
Zudem verwenden die meisten Kubaner ihren kostbaren Zugang zum Internet nicht dazu, sich aus unabhängigen Nachrichtenquellen zu informieren. Sondern sie halten Kontakt mit ihren Verwandten im Ausland, damit deren Milliardenüberweisungen nicht versiegen. Oder, deshalb erkennt man jeden Hotspot in Havanna und anderswo sofort, jugendliche Kubaner benützen den freien Internetzugang dazu, Filme oder Videoclips von Youtube und anderswo herunterzuladen, die dann auf Memory Sticks kopiert an diejenigen Kubaner verscherbelt werden, die noch keinen Zugang haben.
Und schliesslich ist es so, dass es in Kuba noch nie, niemals so etwas wie eine freie öffentliche Debatte und Meinungsbildung gab. Vorher weiss man es nicht so genau, aber von 1492 an, als Kolumbus Kuba betrat, bis 1898 war die Insel eine spanische Kolonie. Anschliessend, bis 1959, faktisch ein US-Protektorat, in dem als Präsidenten verkleidete Diktatoren regierten. Bis 1989 übernahm dann die revolutionäre kubanische Regierung das elende Prinzip von «Prawda», «Neues Deutschland» und Konsorten, dass es genauso wie eine Partei nur eine offizielle öffentliche Meinung geben darf. Seit 2006, seit dem Amtsantritt von Raúl Castro, werden langsam, vorsichtig und misstrauisch Anpassungen vorgenommen. Mehr der Not gehorchend, dass ein vom Internet abgeschottetes Land im 21. Jahrhundert einen Anachronismus darstellt, als der Absicht, freie und unkontrollierte öffentliche Meinungsbildung zuzulassen.
So wurden im Vorfeld des ersten Besuchs eines amtierenden US-Präsidenten seit fast 90 Jahren wieder eine ganze Reihe von Dissidenten vorsorglich verhaftet, anderen bedeutet, dass sie von konterrevolutionären Aktionen bitte schön Abstand nehmen sollten. Die werden anschliessend alle wieder freigelassen, auch die trüben Zeiten, als vor einigen Jahren insgesamt über 70 dissidente Journalisten verhaftet wurden und zu insgesamt mehr als 1000 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, sind längst vorbei. Alle wurden inzwischen amnestiert. Allerdings unter der Auflage, die Insel gefälligst zu verlassen. Denn leider gilt auf Kuba noch das alte, schlechte Prinzip: Wenn’s dir hier nicht passt, dann geh doch rüber.
Da die USA bis heute jeden Kubaner, der trockenen Fusses ihr Territorium betritt, mit offenen Armen empfangen, eine verlockende Aufforderung. So wird es wohl auch hier noch viele Jahren dauern, bis man auf Kuba von einigermassen freien Medien sprechen kann. Und abgesehen von all dem: Im täglichen Überlebenskampf ist es der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung schnurzegal, ob sie frei ihre Meinung sagen darf oder sich aus verschiedenen Quellen informieren. Da kommt zuerst das Fressen, dann die freie Meinung.
Bild 1: Flickr/Doug Kay e (CC BY-NC-ND 2.0)
Bild 2: Flickr/People In Need Cuba (CC BY-NC 2.0)