von Lothar Struck

Transparenz ohne Wert

Und wieder ist ein Meisterstück des investigativen Journalismus gelungen. Das Geheimnis, wer sich hinter dem Pseudonym der italienischen Bestsellerautorin Elena Ferrante verbirgt, ist gelüftet. Über eine Recherche als Selbstzweck und ohne Erkenntnisgewinn.

Die gesamte europäische Literaturwelt rätselte lange Jahre um den richtigen Namen. Elena Ferrante begann 1992 in Italien Romane zu publizieren. Erst mit ihrer vierbändigen «Neapolitanischen Saga» (ab 2011) stellte sich der Erfolg auch jenseits von Italien ein. Der erste Band «Meine geniale Freundin» erschien Ende August auf Deutsch im Suhrkamp-Verlag. Und keine Rezension, kein Gespräch kam ohne eine Spekulation oder mindestens den Wunsch nach Aufklärung aus, wer sich nun hinter diesem Pseudonym verberge.

Es ist in der Tat eine Zumutung für das Feuilleton, das auf diese Art und Weise seinem Biographismus beraubt wird. Keine Altersangabe, kein Geburtsort, keine Vita, nicht einmal die Gewissheit, ob es sich um eine Frau, einen Mann oder gar ein geheimnisvolles Autorenkollektiv handelt. Und wo käme man denn hin, einen Roman ausschliesslich auf dessen literarische Qualitäten hin zu untersuchen?

Wie es heisst, haben nun Abrechnungsbelege zur Enthüllung des Geheimnisses geführt. Die Indizienkette sei eindeutig, aber der Konjunktiv wird zuweilen noch bemüht. Die entsprechenden Unterlagen hat man angeblich über eine «anonyme Quelle» erhalten, weitere Einzelheiten werden nicht genannt. Wie man dies entsprechenden Unterlagen gekommen ist und wie sich genau diese «Recherche» vollzogen hat wird nicht genauer erläutert. «Spiegel online» spricht schönfärberisch von einer «Schnitzeljagd» und berichtet, der «Enthüllungsjournalist» legitimiere sein Vorgehen damit, dass Ferrante gesagt habe, in ihren Bücher zuweilen zu lügen. Die Autorin habe, so der Richterspruch, damit «ihr Recht aufgegeben… hinter ihren Büchern zu verschwinden».

Vermutlich kennt dieser Journalist den Unterschied zwischen Literatur und Bericht, also zwischen Fiktion und Reportage, nicht. Ansonsten könnte er einen solchen hanebüchenden Unfug nicht ernsthaft behaupten. Er sei dafür da, Antworten auf Fragen zu finden und das grösste Geheimnis Italiens sei nun einmal die Identität von Elena Ferrante gewesen, so lautet seine Rechtfertigung. In Wirklichkeit dürfte es ihm weder um die Literatur Ferrantes noch um das Informationsbedürfnis eines Publikums gegangen sein. Die Aktion dient einzig dazu, seinen Ruhm zu steigern. Das Recht auf Anonymität, auf Privatsphäre, das ansonsten jedem Verbrecher zugestanden wird, wird eigenmächtig und nonchalant eines pervertierten Transparenzwahns wegen ausser Kraft gesetzt.

Der italienische Verlag Ferrantes (Edizioni E/O) hat wenig Verständnis für die Enthüllung. Die Autorin sei weder Mitglied der Camorra noch des Berlusconi-Clans, sagte die Verlegerin gegenüber der New York Times. Auch der Suhrkamp-Verlag wollte die «Recherche» nicht kommentieren.

Interessant ist, wie schnell nach der sogenannten Enthüllung die Interpretationsmaschine einsetzt. Da die «wahre» Autorin Bücher von Christa Wolf übersetzt hatte, werden plötzlich auch Parallelen zwischen Figuren und Motiven in Ferrantes Romanen und Christa Wolfs Werken entdeckt. Aufmerksame (= belesene) Rezensenten hätten dies vorher schon bemerken können.

Auch wenn man nicht die Strafe von Diktatoren zu fürchten hat, kann es angebracht sein, unter einem Pseudonym zu publizieren. Dieser Wunsch ist zu respektieren; er mag Gründe haben, die sich dem Publikum entziehen. Natürlich kann es passieren, dass, wenn ein unter Pseudonym verfasstes Buch erst einmal erfolgreich ist, die Spekulation nach dem realen Namen des Autors unter Umständen den Verkauf noch zusätzlich befeuert. Der Fall der Harry-Potter-Autorin Joanne K. Rowling, die unter dem Pseudonym «Robert Galbraith» einen Kriminalroman publizierte, der kaum verkauft wurde, zeigt das Gegenteil: Als Rowling ihr Pseudonym selber aufdeckte, erlebte das Buch einen Verkaufssturm.

Anmerkung: Der Respekt gebietet es, den Namen der mutmasslichen Autorin nicht zu nennen. Und auch die Achtung vor investigativen Journalismus verbietet es, den Namen des «Quarkschlägers» (ein Wort von Balzac) zu verschweigen.

Leserbeiträge

FritzIv 04. Oktober 2016, 09:31

Ihr Beitrag ist richtig und gut. Meine erste Reaktion war genauso: Wem fällt es eigentlich ein, die Autorin aus dem selbst gewählten Schutz der Anonymität herauszuziehen, um sie der Presse zum Verwurstung hinzuwerfen?! Wozu?! Im Zweifelsfall ist das auch justiziabel, wenn für den Scoop noch Kontoauszüge beschafft worden sind.
Und dann fällt der Zeitpunkt der Enthüllung auf: Perfekt passend zur Buchmesse. Ich bin mir keineswegs sicher, auch wegen der augenscheinlich benutzten internen Dokumente, ob nicht der Verlag die „Enthüllung“ initiierte. Zumindest kann man bemerken, dass die PR (je mehr, umso besser) geglückt ist und dass ferner nun der ganze Promotion-Fächer aufgeht – Interviews, TV-Porträts, etc ad infinitum. Das Interesse ist geschürt, die Enthüllung ist eine echte Story. Ob da die Quelle liegt, beim Verlag, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Und ob es Verrat war oder ob die Autorin einbezogen war, ebenso. Doch egal, was im Ende tatsächlich der Fall ist – so oder so gibt der Journalist eine lausige Gestalt ab.

Lothar Struck 04. Oktober 2016, 10:52

Naja, an eine Konspiration mit dem Verlag glaube ich nicht. Auch die Koinzidenz zur deutschen Buchmesse erscheint mir eher zufällig. Der erste Band in Deutschland hat sich bereits sehr gut verkauft. Zudem ist Ferrante längst ein weltweites Phänomen; sogar die New York Times berichtet über die Enttarnung. Einiges spricht vielleicht sogar dafür, dass es aus kommerziellen Gründen noch besser gewesen wäre. das Pseudonym noch länger „geheim“ zu halten.

FritzIv 04. Oktober 2016, 15:59

Tja, was soll man glauben? Ich glaube nicht, dass die Autorin mit im Komplott sitzen würde. Sie soll schon vorher angedroht haben, nicht mehr zu schreiben, wenn ihre Identität offen gelegt würde. Diese Drohung dürfte sie auch gegenüber dem Verlag geäußert haben. Die einzige Möglichkeit aus Verlagssicht, wenn der Verlag denn eine leibhaftige Autorin hätte haben wollen, wäre demnach gewesen, dass es anders herauskommt. Seltsamerweise ist da ein ganzer „internationaler Recherche-Verbund“ tätig geworden – wie denn das eigentlich?! Dass ein einzelner Journalist nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, ist ja immer möglich.
Literarisch interessant ist ja sowieso etwas ganz anderes, nämlich wie hier aus der intensivsten Beschäftigung, die bei Literatur überhaupt möglich ist, aus dem Übersetzen heraus, eine literarische Traditionslinie weitergeführt wird. Vor dem Schreiben steht Leseleistung von hoher Qualität. Es gibt nicht viele Schriftsteller, die ihr eigenes Schreiben durch Übersetzungen herausfordern, vertiefen, erweitern, mit alten Linien zusammenführen, um damit Hauptschlagadern der Literatur fortzusetzen. Nabokov war so ein Intensiv-Leser. Borges auch, aber ein anderer Typus. Und natürlich, wenn vom Übersetzen die Rede ist, fällt einem auch Handke ein, der seine vielen Adern, bis zurück in die Antike, immer wieder mit Übersetzungen frisch durchblutet hat.

al ta 04. Oktober 2016, 10:50

Rowling hat ihr Pseudonym NICHT selber aufgedeckt, sondern eine vorlaute Pseudo-Journalistin via Twitter.

Lothar Struck 04. Oktober 2016, 10:53

Das ist richtig. Aber sie hat den Bericht sofort bestätigt.

gelesen in der FAS 04. Oktober 2016, 12:13

danke,
ich habe den artikel in der FAS nur überflogen, aber mich gefragt, was ausser reiner tratschsucht eigentlich so eine „recherche“ rechtfertigt, und wie eine zeitung mit dem anspruch, wenigstens durchschnittlich seriös zu sein, sowas abdruckt — und sich sonst wundert, dass journalismus vielfach einen schlechten ruf hat.

coolray 06. Oktober 2016, 08:34

Der Journalist der das getan hat, hat das damit begründet, das die Autorin bei Angaben in ihrem Lebenslauf „gelogen“ habe. Selbst wenn dem so wäre, geht ihn das nichts an. Aber manchen gehen bei der Jagd nach Ruhm über Leichen. Mich interesiert nicht wer hinter dem Pseudonym eines Autoren steht. Wenn das Buch , das Sie/Er geschrieben hat, gut it, ist das das unwichtigste. Wenn ein Autor/in unerkannt bleiben will, ist das Sein/Ihr gutes Recht.