von Lothar Struck

In den Weiten des rechten Raums

Roland Tichy bringt mit einigem Erfolg ein «Meinungsmagazin» heraus, das sein Potenzial bei einer von Kanzlerin Merkel enttäuschten CDU-Wählerschaft sieht. Kritiker werfen «Tichys Einblick» zusammen mit rechtsextremen Publikationen in einen Topf. Beklagen darf sich der langjährige Wirtschaftsjournalist und einstige Mitarbeiter im Planungsstab des Bundeskanzleramtes in der Regierung Kohl indes nicht. Legt er doch bisweilen selbst weit nach rechts aus.

Auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise im Winter 2015/2016 entdeckte der «Spiegel»-Journalist Cordt Schnibben in seinem Leitartikel «Das Attentat» unter denjenigen, die mit der Politik der Bundeskanzlerin nicht einverstanden waren, «Salonhetzer» und warnte mit grossem Gestus vor einer «grossen Koalition gegen Merkel, die von Pegida und der AfD über die CSU bis zu den Salonhetzern in der ‹FAZ›, der ‹Welt›, in ‹Cicero› und nationalkonservativen Blogs wie ‹Tichys Einblick› reicht…»

Der Ausdruck «Salonhetzer» ist eine Anspielung auf den Leitartikler des «Cicero»-Magazins Alexander Kissler, der als «Redaktionsleiter Salon» geführt wird. Es ist eigentlich so etwas wie der ultimative publizistische Todesstoss, wenn eine sogenannte «Edelfeder» wie Schnibben Teile des journalistischen Betriebs derart heftig attackiert. Tatsächlich hatten einige Autoren bei der FAZ und der Welt sich kritisch zur Aufnahme von Flüchtlingen geäussert; beim «Cicero» sowieso.

Der Begriff der «Hetze» wird als «unsachliche und verunglimpfende Äusserungen zu dem Zweck, Hass gegen Personen oder Gruppen hervorzurufen, Ängste vor ihnen zu schüren, sie zu diffamieren oder zu dämonisieren» erklärt. Die Definition ist schwammig; der Interpretation Tür und Tor geöffnet. Schnibbens Urteil mag seine Klientel bestätigen, in Bezug auf die genannten Organe und deren Artikel ist es jedoch kaum haltbar. Bei böswilliger Betrachtung dürfte sein pauschales Urteil den Tatbestand der Diffamierung erfüllen.

Verunglimpfung als Ritterschlag
Für Roland Tichy, gewesener Chefredaktor der Wirtschaftswoche, und sein damals noch eher unbekanntes Blog «Tichys Einblick» stellte die Verunglimpfung allerdings zunächst so etwas wie ein Ritterschlag dar. Zum einen wurde er damit auch für den «Spiegel»-Leser bekannt. Und zum anderen konnten sich er und seine Autoren nun als Opfer einer Diffamierungskampagne gerieren (was später auch geschehen sollte).

Schnibbens Invektive ist exemplarisch für eine seit mehr als einem Jahr sich potenzierende Hypererregbarkeit im Diskursraum der Medien. Als der Kommentar im «Spiegel» veröffentlicht wurde, sickerten gerade die Nachrichten von den Übergriffen zu Silvester 2015 in Köln (und anderswo) in die Massenmedien. Von diversen Kommentatoren wurden diese von Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum begangenen Taten in Verbindung mit der Aufnahme der Flüchtlinge im Herbst und Winter 2015 in Zusammenhang gebracht. Womöglich lässt sich so die Vehemenz erklären, mit der andere Sichtweisen und Meinungen von Journalistenkollegen unter «Hetze» subsumiert werden.

Aber was ist dran an dem Vorwurf? Roland Tichy schreibt am 5. Januar 2016 in einem Beitrag mit dem Titel «Warum versagen Medien in der Flüchtlingskrise?»: «Derzeit kommen weiterhin täglich 4000 Zuwanderer nach Deutschland. Merkels Politik der Zuzugsbegrenzung greift nicht. Also liegt vor uns ein Jahr, in dem durch neue Flüchtlinge und Familiennachzug die Zahl von 3 bis 5 Millionen ‹Flüchtlingen› nicht zu niedrig sein dürfte […] Es kommen sicherlich die guten Menschen; neben den Gerechten aber auch jede Menge Ungerechte. Die Asylverfahren dauerten bisher lange, weil sich die Aufnahmebürokratie bemühte zu differenzieren. Merkel faselt noch von europäischen Lösungen, während die humanitäre Grossmacht Schweden gerade die Grenze zu Deutschland dicht macht.»

Tichy sieht die Versäumnisse in der Vergangenheit und rechnet demzufolge ein Zukunftsszenario hoch: «Die Kölner Polizei vermutet unter den Tätern Flüchtlinge, die seit 2 Jahren hier leben. Die allseits versprochene Integration hat also nicht so gut geklappt. […] Köln zeigt dramatisch das Scheitern der Flüchtlingspolitik, wie sie von der Bundesregierung, aber auch von der Mehrheit der Medien gefeiert wird.» Am Ende knüpft er an seine Kritik über die Berichterstattung in den deutschen Medien zu Beginn des Textes an: «In ganz Europa heissen Zuwanderer in den dortigen Medien illegale Immigranten, nur in Deutschland verwenden alle Medien den Sammelbegriff Flüchtlinge, die Unterscheidung in Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge wurde abgelehnt oder für belanglos erklärt. Bis gestern. Jetzt betont die refugee-welcome-Gemeinde, dass die Übeltäter in Köln keine Flüchtlinge sind, sondern Zuwanderer, die ursprünglich in andere Länder geflohen sind und von dort nach Köln kamen. Einverstanden, unterscheiden wir bitte – allerdings immer! – zwischen Verfolgten und Zuwanderern aus anderen Gründen.»

Er dürfte für Aussenstehende schwierig sein, nach der oben genannten Definition entsprechende «Hetze» in diesen Zeilen zu erkennen. Natürlich sind Tichys Schlüsse sehr spekulativ, teilweise auch arg pauschaliert, aber auch Schnibben rekurriert in seinem Kommentar sogar auf tatsachenwidrige Behauptungen, in dem er beispielsweise die sexuellen Übergriffe in Köln mit denen auf dem Münchner Oktoberfest relativiert.

Deutsche «Debattenkultur»
Von der Charakterisierung «nationalkonservativ» war es nur ein kleiner Schritt zur Einschätzung, dass Einwände und kritische Fragen in Bezug auf die massenweise und zum Teil unkontrollierte Aufnahme Geflüchteter pauschal als «neurechte» Positionen bezeichnet werden. Als der Philosoph Peter Sloterdijk in einem Interview mit «Cicero» vor einem Jahr prognostizierte, dass die «Politik der offenen Grenzen…final nicht gut gehen» könne, Unterschiede zwischen islamischen und westeuropäischen Rechtssystemen konstatierte und vom «Lügenäther» sprach, der sich in der politischen (und womöglich auch medialen) Klasse Raum verschafft habe, wurden er und ähnlich argumentierende Intellektuelle (von allen Kritikern gleichermassen neben Sloterdijk genannt: Rüdiger Safranski und Reinhard Jirgl) als «Revisionisten» und Munitionäre von Rechtsradikalen diffamiert.

Erstaunlich in diesem Zusammenhang ist die in diversen Medien fast parallel und zuweilen auch wortähnlich daherkommenden Beurteilungen: Christian Schröder begann am 1. Februar 2016 im Tagesspiegel. Zwei Tage später legte Hans Hütt für Zeitonline nach. Ein paar Tage später sprach Thomas Schmid in der «Welt» gar von einem «neuen, deutschen Hass». Schmid baute vermutlich darauf, dass kaum jemand die ursprünglichen Äusserungen von Sloterdijk und Safranski gelesen hatte. Ansonsten hätte man seine Interpretation als vollkommen absurd wahrnehmen müssen.

Entsprechend der Logik der Medien wurden die vermeintlich kritischen Stimmen auch im Radio und den Kulturformaten im Fernsehen artikuliert. Dabei blieb der Tenor überall gleich. Die Einschätzung als «Stammtisch»-Niveau war noch die harmloseste. Zwischenzeitlich wurde Sloterdijk sogar «Nazi-Vokabular» attestiert und er in die Nähe von Massenverbrechern wie dem Auschwitz-Kommandanten Höss gebracht. Als bekannt wurde, dass mit Marc Jongen ein ehemaliger wissenschaftlicher Assistent Sloterdijks als «stellvertretender Sprecher und Programmkoordinator des AfD-Landesverbands Baden-Württemberg sowie als Mitglied der AfD-Bundesprogrammkommission» tätig ist, wurde dies zum Anlass genommen, Sloterdijk in eine Art Sippenhaftung zu nehmen. Aus dem Assistenten wurde ein «enger Vertrauter». Sogar der deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel sah sich genötigt, Sloterdijk als «rechten Ideologielieferanten» zu titulieren. Dieser wehrte sich publizistisch, «distanzierte» sich von der AfD, wie es einige Medien ausdrückten (ohne dabei zu erklären, wann sich Sloterdijk denn zur AfD bekannt hatte), aber das Attribut «umstritten» wird ihm nach diesen Auseinandersetzungen für immer anheften.

Dieser Exkurs in die Niederungen deutscher Debattenkultur (falls man diesen Begriff für diese eher inquisitorischen Diffamierungsorgien noch verwenden möchte) zeigt exemplarisch die Idiosynkrasien in der deutschen Publizistik an. Aus Furcht vor einem dauerhaften Erstarken der AfD wird in vorauseilendem Gehorsam Kritik an politischen und sozialen Zuständen denunziert, die auch nur von Ferne als «rechts» zugeordnet werden könnten. Der Eifer mit dem Personen differenter Meinungen in den Dunstkreis oder gar als Unterstützer der AfD gebracht werden erinnert an die Hysterie in den 1970er Jahren, die in Deutschland aus Furcht vor einer kommunistischen Unterwanderung den sogenannten «Radikalenerlass» produzierte, der verlangte, jeden Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf die Verfassungstreue zu untersuchen und beispielsweise dazu führte, dass Lokomotivführer (die damals einen Beamtenstatus besassen), die Mitglied der (nicht verbotenen) Deutschen Kommunistischen Partei DKP waren, gekündigt wurde. Ähnliches wird heute offen für AfD-Mitglieder sowohl in Kirchen wie auch für den öffentlichen Dienst diskutiert.

Tatsächlich gibt es bereits seit sehr vielen Jahren konservative und rechte publizistische Strukturen in Deutschland. (Wenn hier im weiteren Verlauf von «rechts» gesprochen wird, bedeutet dies ausdrücklich nicht rechtsextremistisch oder rechtsradikal. Gemeint sind konservativ–bürgerlich, respektiv liberal-konservative Politikentwürfe auf dem Boden demokratischer Regeln.) Zwei Faktoren veränderten jedoch die Situation. Zum einen die Flüchtlingskrise und die entsprechende Reaktion der Bundesregierung, der politischen Parteien im Bundestag und in den Medien. Hier wurde für den Grossteil der Rezipienten überdeutlich, dass die veröffentlichte Meinung sehr stark mit der öffentlichen Meinung divergierte. Ein Katalysator für diese Differenz war das Internet. Aber die (moderierten) Kommentarspalten in diversen Onlinemedien wurden geschlossen, sobald es um die Flüchtlingsproblematik ging. Bei der FAZ ist das heute noch so. So blieben nur einschlägige Foren, in denen sich vom schleichenden Unbehagen bis zum rassistischen Mob eine veritable Gegenöffentlichkeit bildete.

Beschleunigt wurde dieser Effekt durch die grossmehrheitlich positive Berichterstattung in den Massenmedien über die Flüchtlingssituation. Im August 2016 schrieb der Chefredakteur der «Zeit», Giovanni di Lorenzo, dass die «undifferenzierte Solidarisierung vieler Medien mit der von der Politik praktizierten Willkommenskultur» dem Journalismus nachträglich einiges an Vertrauen gekostet hätte: «Ich glaube, dass wir eine ganze Weile zu sehr dazu tendiert haben, uns zu Mitgestaltern der Flüchtlingsbewegung zu machen und uns nicht auf die Rolle der Beobachtung konzentriert haben», so di Lorenzo. Diese Einsicht kam spät, war aber auch die Ausnahme. Eine selbstkritische Fehlerkultur ist im deutschen Journalismus nicht besonders ausgeprägt.

Die publizistischen Leerstellen werden derweil von Nischenmedien gefüllt. Dabei hilft es zwischen den Medien zu trennen, die sich bereits seit Jahren im rechtskonservativ-nationalistischen Umfeld bewegen und denen, die sich erst seit kurzer Zeit gebildet haben. Auf Correctiv gab es neulich eine kleine Reihe über die Medien der sogenannten «neuen Rechten». Die Texte wirken zum Teil eher lustlos und sind leider wenig analytisch. Des Weiteren erstaunt die Diskrepanz zwischen dem Anspruch, die «einflussreichsten rechten Medien» vorzustellen und dabei «Tichys Einblick» auszulassen. Vielleicht liegt der Grund auch darin, dass sich die junge Publikation in Print und Blog nicht pauschal als rechtskonservativ bzw. –radikal einordnen lässt.

Tichy und seine Autoren
Roland Tichy, 1955 geboren, ist diplomierter Volkswirt. Er war in den 1980er Jahren kurz Mitglied des Planungsstabes des Bundeskanzleramtes Helmut Kohls. Seit jeher interessierte sich Tichy auch für den Journalismus. Er arbeitete für die «Wirtschaftwoche», war stellvertretender Chefredakteur von «Capital» und gehörte 1990/91 kurz zum Beraterstab des Rundfunkbeauftragten, der mit der Abwicklung des DDR-Fernsehens und Rundfunks beauftragt war. Es folgten Chefredakteur-Positionen diverser Wirtschaftsmagazine. 2014 verliess er die «Wirtschaftswoche», angeblich im Streit mit den Herausgebern und gründete kurz darauf den Blog «Tichys Einblick».

Die Webseite ist aufgemacht wie eine Zeitung. Als Logo dient das Bild von Athene, der griechischen Göttin der Weisheit, der Strategie und des Kampfes, der Kunst, des Handwerks und der Handarbeit. Es gibt zumeist mehrere Beiträge pro Tag; der Schnitt liegt aktuell bei rund 40 Beiträgen pro Woche . In der Zwischenzeit wird auf eine stattliche Anzahl von 49 AutorenInnen neben Tichy verwiesen. Die Mischung reicht vom Model über die ehemalige Kulturfunktionärin, den Software-Entwickler, dem Weltreisenden, einem Informatiker, einem (Promi-)Rechtsanwalt, einem Arzt und Schriftsteller, natürlich vielen (zum Teil ehemaligen) Journalisten (die Tichy auf seinen diversen beruflichen Stationen kennengelernt haben dürfte), Comedians, aber auch neuen, jüngeren Kolumnisten bis hin zu politischen Mandatsträgern.

Bei einer näheren Betrachtung entdeckt man, dass sich die AutorInnen sowohl soziologisch als auch in politischer Weltanschauung nach repräsentativen Kriterien einordnen lassen und damit einen Querschnitt durch die Mittelschicht suggerieren. So scheint die Rolle der jungen, modernen Frau von Anabel Schunke besetzt zu werden, die als «Model, Studentin und Bloggerin» geführt wird. Wolfgang Herles, ehemaliger ZDF-Redakteur unter anderem für das Kulturmagazin «aspekte» zeichnet für feuilletonistische Themen und interviewt Schriftsteller oder schreibt kleine Theaterglossen. Der Politologe Raphael Seligmann beschäftigt sich mit aussenpolitischen Fragestellungen. Frank Schäffler wurde während der Zeit als FDP-Bundestagsabgeordneter einer der stärksten Kritiker der Euro-Rettungspakete und der Politik der Europäischen Zentralbank. Hugo Müller-Vogg war von 1988 bis 2001 einer der Herausgeber der FAZ und wurde danach Kolumnist unter anderem für die «Bild»-Zeitung. Müller-Vogg wird auch heute noch gerne in deutsche Polittalkrunden als Vertreter eines wertkonservativen Weltbilds eingeladen. Bettina Röhl, die Tochter Ulrike Meinhofs, kritisiert in ihren Essays vor allem das politische und gesellschaftliche Erbe der 68er und den aktuellen Feminismus. Mit Kristina Schröder, Klaus-Peter Willsch und Michael Fuchs hat das Magazin gleich drei Autoren, die im aktuellen Deutschen Bundestag vertreten sind. Willsch gründete zusammen mit Schäffler und fünf anderen Abgeordneten in der letzten Legislaturperiode eine «Allianz gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM». Der Anlageberater Manfred Gburek spielt die Rolle des Börsenpropheten. Die könnte auch Hans-Peter Canibol übernehmen, der es jedoch vorzieht, aktuelle «Spiegel»-Ausgaben zu rezensieren. Die Rolle des aufgeklärten, in der Gesellschaft angekommenen Muslim, der sich kritisch zu Integrationsthemen äussert ist gleich mehrmals besetzt: Mit dem hessischen CDU-Landtagsabgeordneten Ismail Tipi, dem Arzt und Publizisten Mimoun Azizi und dem Regisseur Imad Karim. Mit Ludger Kusenberg und Achim Winter hat Tiichy zwei Kabarettisten bzw. Comedians.

Bei der Fülle der Autoren und nicht im Impressum aufgeführten Gastautoren bleibt es nicht aus, dass das qualitative Niveau der Beiträge sehr stark variiert. So sind beispielsweise die «Spiegel»-Besprechungen recht informativ. Auch Rafael Seligmans Aufsätze gehören dazu. Hier wird nüchtern referiert und der Leser nicht von vornherein mit der Meinung des Autors konfrontiert. Klaus-Peter Willsch plaudert gelegentlich Interna aus den Fraktionssitzungen aus. Bei Alexander Wallasch und Dushan Wegner dominiert hingegen die Polemik; mal mehr, mal weniger gekonnt. Andere Beiträge sind extrem alarmistisch, etwa wenn ein Gerhard Held in einer «Ausblick»-Kolumne für das Jahr 2017 konstatiert: «In diesem Land steht ein Migranten-Mob, eine vagabundiere Masse aus einzelnen, gutvernetzten Grüppchen und Banden. Gewaltbereit, oft mit Messern bewaffnet, ständig bereit zum Gelegenheitsdiebstahl oder sexuellen Übergriff, aber auch vor schwerem Raub, Vergewaltigung und Mord nicht zurückschreckend. Sie belagert und besetzt Plätze, sie verfolgt, vertreibt oder umzingelt Passanten und Anwohner, macht die Wege zur Arbeit, zur Schule, zum Sport oder zum Abendvergnügen unsicher» und hierfür die «Pädophilie-Grünen» verantwortlich macht. Das ist Paranoia nach Pegida.

Die unterschiedlichen Charaktere und Qualitäten der AutorInnen kann man zunächst einmal recht gut an dem Beitrag «Was Autoren 2017 wollen» erkennen. Hier trennt sich der Spreu vom Weizen, der Krawallrhetoriker und Alarmist vom geschliffenen Polemiker. Aber so unterschiedlich die einzelnen AutorInnen im Detail auch sind – sie eint die politische Verortung im liberal-konservatievn Spektrum, wo sich auch Gründer und Namensgeber Roland Tichy mit seiner Publikation verortet.

Prägungen und Überzeugungen
Überdeutlich wird hier Tichys Prägung durch die Ära Helmut Kohl (1982-1998). Kohl vertrat als CDU-Vorsitzender einen gemässigt-modernen, gesellschaftlichen Konservatismus; aussenpolitisch proeuropäisch. Der Koalitionspartner FDP fungierte als das wirtschaftsliberale Korrektiv. Tichy versteht Liberalität zunächst vor allem ökonomisch als marktwirtschaftlich-deregulierte Ordnung, die emphatisch mit dem Begriff «Freiheit» versehen wird. Staatliche Eingriffe, so die (zugegeben vereinfachende) Doktrin ist eher schädlich für den wirtschaftlichen Fortschritt, der als politisches Kernziel fungiert. Staatliche Regulierung wird als Bürokratisierung oder gar Bevormundung betrachtet; der Staat soll lediglich «Schiedsrichter»-Funktion haben. Der Unterschied zum amerikanischen Libertären besteht darin, dass die Tichy und die meisten seiner Autoren im Bereich der Innen- und Sicherheitspolitik einen starken Staat fordern.

Dieser «starke Staat» ist durchaus wörtlich zu verstehen: Die Europäische Union soll eher zu einer Art Freihandelszone werden; Nationalstaaten sollten ihre Politik wieder weitgehend selber bestimmen dürfen. Der Euro in seiner jetzigen Form wird abgelehnt. Im Bereich der Zuwanderung vertritt Tichy in groben Zügen das kanadische Modell. Der Staat soll gezielt hochqualifizierte, von Unternehmen dringend benötigte Fachkräfte anwerben. Dies propagierte Tichy schon seit den 1990er Jahren («Ausländer rein! Warum es kein Ausländerproblem gibt») bis heute. Zur Flüchtlingsproblematik hingegen äussert er sich stark vereinfachend und rigoros: «Flüchtling ist nicht Flüchtling. Politisch Verfolgte geniessen Asyl; Wirtschaftsflüchtlinge nicht.» Die komplexe Frage, welche Kriterien für eine politische Verfolgung anzulegen sind, umschifft Tichy einfach.

Vernetzung im Bürgertum
Tichys wirtschaftspolitische Gesinnung zeigt sich nicht zuletzt in seinem Vorsitz der Ludwig-Erhard-Stiftung. Diese tritt «politischem Opportunismus und Konformismus mit einem klaren Leitbild entgegen: Freiheit und Verantwortung als Fundament einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung für den mündigen Bürger.» Erhard gilt als Schöpfer der sozialen Marktwirtschaft und Vater des deutschen Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit. Die Mitgliederliste der Erhard-Gesellschaft zeigt aktive wie ehemalige Politiker, Universitätsprofessoren und auch Journalisten (u. a. Heike Göbel von der FAZ). Tichy ist ebenfalls Mitglied im Kuratorium der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung, die nach eigenen Angaben «die Festigung und Förderung der Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung auf nationaler wie auf internationaler Ebene im Sinne Friedrich August von Hayeks» fördert. Mitglieder sind hier u. a. der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler (Roman Herzog als weiterer Bundespräsident ist unlängst verstorben) und Holger Steltzner, einer der aktuellen Herausgeber der FAZ. Tichys Verwurzelungen in den Erhard- und Hayek-Stiftungen zeigen seine gute gesellschaftspolitische und auch publizistische Vernetzung.

Tichy findet sich mit dem progressiv-gesellschaftsliberalen Kurs der Merkel-CDU nicht ab. Der Einfachheit halber macht er die politischen Probleme ausschliesslich an der Bundeskanzlerin fest. Sie dient ihm als Projektionsfigur für seine Kritik. Dabei scheut er wie auch die bayerische CSU nicht die Nähe zu den rechtskonservativen und extremistischen Parolen, die mit ihrem «Merkel muss weg!» die Unzufriedenheit bündeln und populistisch ausweiden wollen. Zwar verwendet Tichy die inkriminierte Parole selber nicht, aber er balanciert hier auf einem schmalen Grat: Gerät er zu sehr in den Ruch extremistische Positionen zu übernehmen, kollidiert dies nicht nur mit seinem Image in den Wirtschaftsstiftungen, sondern würde ihn auch als Diskursfigur in den diversen Diskussionsrunden in den öffentlich-rechtlichen Medien unmöglich machen. Andererseits ist es nicht per se ehrenrührig in einer Demokratie einen Machtwechsel zu befürworten, zumal in den 1990er Jahren die vergleichbare Aussage «Kohl muss weg» nicht als anrüchig galt.

Auch mit dem «Unwort» der «Lügenpresse» spielt Tichy. Auf einer Veranstaltung der «Bürgerinitiative Faire Medien» im Mai 2015 mit dem Titel «Wie vertrauenswürdig sind die Massenmedien» nimmt er hierzu Stellung. Das im Netz verfügbare Video ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst konstatiert Tichy den überdimensionierten Einfluss einer politisch-korrekten Darstellungsweise in den öffentlich-rechtlichen Medien und bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die Unterlassung von Fakten auch Lügen seien. Danach kritisiert er, dass es in den «Tatort»-Krimis der ARD keine migrantischen Straftäter gebe (2:09), ja: dass es keine geben dürfe. Der Eindruck mag stimmen, verkennt jedoch, dass solche Filme Fiktionen sind und nicht beanspruchen, die Realität abzubilden. Im weiteren Verlauf seiner Rede zitiert Tichy dann als Beleg für einen überdimensionierten Persönlichkeitsschutz aus dem Pressekodex des Deutschen Presserats den Paragraph 12 wie folgt (4:05): «Die Zugehörigkeit von Straftätern zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten darf nicht genannt werden». In Anbetracht der Aussage wenige Minuten zuvor, dass auch Unterlassungen den Lügentatbestand erfüllen können, wirkt dieses verstümmelte Zitieren verstörend. Tatsächlich lautet der Passus 12.1 vollständig: «In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht.» Man fragt sich, ob das Weglassen des zweiten Teils des Satzes ein rhetorischen Stilmittel ist oder gar eine Lüge?

Tichys Journalismusbegriff
Das Internet habe, so Tichy in diesem Vortrag weiter, die «Spielregeln» des Journalismus verändert. Im Gegensatz zu den meisten Journalisten, die das Netz hassen würden, begrüsst er jedoch die neuen Möglichkeiten. Seine Begeisterung scheint derart gross zu sein, dass er sich zu einer Entgleisung hinreissen lässt (18:16): «Im Internet wird ab sofort zurückgeschrieben». Man fragt sich, ob der Anklang an eine Formulierung in Hitlers Rede vom 1. September 1939 vor dem Deutschen Reichstag («Seit fünfuhrfünfundvierzig wird jetzt zurückgeschossen.») gewollt ist oder nur eine Geschmacklosigkeit darstellt. Tichy ist im Übrigen bekannt für sein Temperament. So geriet er in einer «Presseclub»-Sendung der ARD im Oktober 2010 zunächst vor der Kamera in einen heftigen Streit mit dem damaligen «Spiegel»-Feuilletonchef Matthias Matussek. Nach der Sendung hätte es, wenn die Nachricht stimmt, fast ein Handgemenge gegeben.

Aber es wäre voreilig, Tichys Engagement zu diffamieren. Auch die linksliberalen Journalisten, auf die er und seine Kolumnisten stetig eindreschen, sind nicht frei von belehrendem, missionarischem Tonfall, Einseitigkeiten und brachialen Metaphern. Tichy sieht sein Magazin als Korrektiv zum medialen «Einheitsbrei» (so einer seiner Kolumnisten). Auf seine «Meinungsfreudigkeit» angesprochen führt Tichy in einem Gespräch vom letzten September mit dem Chefredakteur des Bayerischen Rundfunks Siegmund Gottlieb dieses subjektive Verständnis von Journalismus aus (ab 4:55): Es gehe um die «Faktengrundlage» und dann die Position, die man auf dieses «Faktenfundament» aufbaue. Man werde «meinungsstark», weil man dann beginne für die «richtige Seite, die richtigen Fakten zu kämpfen». Tichy plädiert dafür, dies offenzulegen: «Meinung, die offen legt was sie will, was sie tut…ist fair, daran kann man sich orientieren, daran kann man sich auch reiben.»

Tichy unterläuft damit die Trennung von Nachricht und Kommentar. Damit bewegt er sich zwar in der Tradition des Magazinjournalismus, macht aber gleichzeitig selber das, was er seinen publizistischen Gegnern (zum Teil zu recht) vorwirft. Tichy ist auch nicht die Ausnahme, wenn in Bezug auf den Journalismus von einer «Haltung» des Journalisten geschwärmt wird, die erkennbar sein müsse. Die Unterschiede bestehen allerdings darin, welche Haltung gemeint ist. Zumeist bezieht sich dies nämlich auf die «politische» Haltung und zwar die jeweils «richtige» (siehe oben «richtige Fakten». Diese ist beim linksliberalen Heribert Prantl von der «Süddeutschen Zeitung» allerdings eine dezidiert andere als bei Roland Tichy. Beiden muss man – unabhängig von Sympathien oder eigener Anschauung – eine «Haltung» bescheinigen. Fraglich ist aber, ob diese zuweilen offensiv vertretene Einseitigkeit dann noch Journalismus ist. Und war der Leser damit anfangen soll.

Zuspruch und Gefahren
Mit seinem meinungs- und auch reichweitenstarken Journalismus ist Roland Tichy längst zu einer Marke in der rechts-liberalen Publizistik geworden. Hierin liegt zum einen die Gefahr, schnell schubladisiert und als rechtsextrem abgestempelt zu werden. Zwei Mal ist dies in den zwei Monaten geschehen. Zum einen als ein Mitarbeiter der Werbeagentur Scholz & Friends in einer privaten Aktion Unternehmen zu einem Werbeboykott bei als rechtslastig empfundener Publikationen aufforderte («Kein Geld für rechts»), ausgehend von einer ähnlichen Kampagne gegen das US-Portal Breitbart News. Getroffen hat der Boykottaufruf neben anderen auch «Tichys Einblick» und das Autoren-Blog «Achse des Guten». Dessen Autor Henryk M. Broder reagierte mit einem wütenden Kommentar auf dem eher libertären . . Die «Achse des Guten» wurde im Blogbeitrag insgesamt dreimal als Beispiel für «neurechte» Medien genannt wurde (auf der Liste der zu boykottierenden Webseiten aber nicht gestanden haben soll). Die genauen Details sind nicht mehr nachzuvollziehen, da die entsprechende Webseite des Initiators inzwischen nicht mehr zugänglich ist. Tichy übernahm Broders Text auch auf seiner Seite und rückte den Boykott in die Nähe des Nazi-Aufrufs gegen jüdische Geschäfte. Dies wiederum erzeugte einen enormen Druck auf den Initiator (der inzwischen nicht mehr für die Werbeagentur tätig ist) – bis hin zu Morddrohungen.In einem eigenen Kommentar rückte Tichy den Autor des Werbeaufrufs in die Richtung des stalinistischen Terrors und Massenmordes.

Die überschäumenden Reaktionen Tichys sind verständlich. Denn eine Kategorisierung als rechtsextreme Publikation passt nicht in das bürgerlich-liberale Image. Die Angelegenheit scheint jedoch schnell behoben zu sein, denn inzwischen werben auf «Tichys Einblick» sowohl Banken und Versicherungen wieder, wie auch Touristikanbieter, der Lebensmitteldiscounter Lidl und viele andere.

Der zweite Vorfall, der einen Shitstorm diesmal direkt gegen Tichy auslöste, war eine Veröffentlichung eines Textes des «Gastautors» Jean Fritz auf «Tichys Einblick» vom 6. Januar. Schon in der Überschrift klang der Tenor des Textes an: «Warum Sie mit psychopathologisch gestörten Gutmenschen nicht diskutieren sollten». Im Text selber werden mehrmals sogenannte «Gutmenschen» (die der Verfasser im linkgrünen Milieu verortet) als «krank», «gestört» oder «pathologisch» verunglimpft. Dies erzeugte eine erste Protestwelle über Twitter und Facebook. Tichy hatte den Beitrag (und einige Kommentare; 138 Kommentare sind immer noch online) schliesslich gelöscht, sich entschuldigt und konstatiert, dass der Text «hätte hier nicht erscheinen dürfen». Damit ebbte aber die Welle nicht ab. Mathias Richel von der Werbeagentur TLGG problematisierte daraufhin Tichys Rolle als Herausgeber der Rubrik «Klartext» auf «Xing» und erklärte die Kündigung seiner Mitgliedschaft beim Karrierenetzwerk. Der Nebensatz in seinem Tweet «das könnt ihr auch» will er nachträglich nicht als Boykottaufruf verstanden haben. Nach Angaben des Branchendienstes «Meedia» gab es allerdings eine veritable Kündigungswelle.

Tichy gab wenig später die «Xing»-Tätigkeit auf. Tatsächlich hätte der Beitrag von Fritz aus strategischen Gründen nie auf «Tichys Einblick» erscheinen dürfen, wenn Tichy sich sein Image als bürgerlicher Liberaler erhalten möchte. Selbst als Satire wirkt der kindlich-dümmliche Text nicht (er kann hier auf der Webseite des Autors nachgelesen werden). Auf Fritz‘ Webseite lässt sich auch ein Text mit der Überschrift «Warum der Islam von diesem Planeten verschwinden muss» lesen. Mit Autoren wie Jürgen Fritz, der den Rubikon von liberal-konservativ längst in Richtung rechtsextrem überschritten hat, sabotiert Tichy die politischen Koordinaten seines Nischenmedium zwischen wertkonservativ und rechts. Das scheint Roland Tichy inzwischen eingesehen zu haben. Anstelle des nach den Protesten gelöschten Beitrags entschuldigte er sich: «Unterstellung von Pathologie ist für ‹Tichys Einblick› keine politische Diskussionsbasis. Davon distanzieren wir uns ausdrücklich.»

Aber die beiden Vorgänge zeigen, wie sensibel und im Einzelfall auch hysterisch inzwischen die Wahrnehmungen in Bezug auf rechte und vermeintliche oder tatsächliche rechtsextreme Publikationen sind. Inzwischen kursieren bereits Sprachmonitore, in denen das Vokabular der «neuen Rechten» benannt wird. Dies umfasst auch Vokabeln wie «Political Correctness» oder «Mainstream-Medien». Demnach wird zunächst einmal jeder verdächtigt, der diese Vokabeln verwendet bzw. in einem anderen Zusammenhang als den, den man selber wünscht. Der Vorteil dieses affektierten Umgangs mit Sprache, der Kontexte, in denen Begriffe verwendet werden, zunächst ausblendet, liegt darin, politische Stellungnahmen schnell zu bewerten. Nicht nur Journalisten lieben diese einfachen Denkschablonen, weil sie ihnen die Arbeit, sich mit Texten und Zusammenhängen zu beschäftigen, abnehmen.

Derzeit kommt die Mischung aus ruppig-salopper Politikbeschimpfung, Bierthekenparolen und konservativer Gesellschaftskritik, die «Tichys Einblick» bietet, gut an. So lässt sich eindrücklich nachverfolgen, wie sich die Beiträge sehr schnell auf Facebook verbreiten und fleissig kommentiert werden. Dies gilt insbesondere für Beiträge über Migration und Geflüchtete, die Bundeskanzlerin und, ganz im Trend, zur «Fake-News»-Debatte. Auch die Kommentare im Medium selber sind fast immer dreistellig pro Beitrag. Tichy publiziert seit Oktober 2016 die Online-Beiträge in einem Printmagazin. Es wird eine Auflage von 60.000 Exemplaren genannt; sicherlich ein ökonomisches Risiko. Herausgeber der Printausgabe ist der «Finanzen-Verlag» des Publizisten Frank B. Werner (weitere Publikationen: «Euro», «Euro am Sonntag», «Börse online»). Über den Erfolg am Zeitschriftenmarkt gibt es derzeit keine verlässlichen Angaben. Mittelfristig ist wohl geplant, auch eigene Texte für das Print-Magazin hinzuzufügen. Auch selbstproduzierte Videos soll es verstärkt auf der Online-Seite geben.

Tichys Hybris
Im bereits zitierten Vortrag Tichys vom Mai 2015 kritisiert er unter anderem die «Hinrichtungsjournalisten», die ihr Medium in einen «Gerichtshof » verwandeln würden und dies «ohne Verteidigung» für die vermeintlichen Angeklagten (16:19). Aber manche seiner Beiträge wirken wie Spiegelbilder dessen, was er beklagt. Exemplarisch zeigt dies ein Text vom 22. Dezember letzten Jahres , erschienen zwei Tage nach dem Terror-Anschlag in Berlin. Tichy erhöht sich zunächst als Intellektueller, was sich sofort am Titel des Textes zeigt. Mit prominentem Verweis auf «J’accuse» stellt er sich in eine Reihe mit dem französische Dichter Émile Zola, der in dem gleichnamigen Text aus dem Jahr 1898 dem wegen Landesverrats inhaftierten jüdischen Hauptmann Dreyfus beistand und die Beweisfälschungen und Schlampereien der Behörden nebst deren Antisemitismus anprangerte. Zolas Aufsatz gilt heute als die Geburt des kritischen Intellektuellen.

Aber Tichy hält sich in seinem Text nicht an die Fakten. Er macht die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin für den Anschlag mitverantwortlich, obwohl der Attentäter nachweislich nicht der Flüchtlingswelle 2015/2016 entstammte. «Der vermutliche Mörder von Berlin wurde wegen Brandstiftung in Italien verurteilt; er gelangte ohne Kontrolle nach Deutschland», schreibt Tichy. Er vergisst dabei zu erwähnen, dass Grenzkontrollen im Schengenraum kaum mehr stattfinden; die Freizügigkeit im Reisen wird daher auch immer von Kriminellen ausgenutzt werden. Daher taugt in diesem Fall der Vorwurf nicht, dass in der «unbegrenzten Grenzöffnung» eine Ursache für den frei umherreisenden Terroristen liegt. Mit grosser Geste, in einfachen Hauptsätzen wird im Text eine Dramaturgie erzeugt, die in dem Satz «Frau Bundeskanzlerin, treten Sie zurück» mündet, mit dem Text auch endet. Der Jubel ist Publikums ist garantiert (638 Kommentare; nur sehr wenige kritische). Aber Tichys Inszenierung des Intellektuellen ist desaströs. Sein Text bietet keine Aufklärung, sondern nur Ressentiment, die ein affektgeiles Publikum als Balsam für ihre Erregungen verwenden kann.

Journalisten verstünden sich als Propheten einer Sache, «sie kämpfen für etwas, statt über etwas zu berichten» – so der Originalton Tichys in seinem Vortrag im Mai 2015 (16:50). «Der Sache einen Spin zu geben», überschlage sich im Augenblick. Da hat er Recht. Aber auch Roland Tichy kämpft für eine «Sache». Und für ihn sind es immer die anderen, die den «Spin» produzieren, ähnlich dem Autofahrer, der in den Radiohinweisen von einem Geisterfahrer hört und dann entsetzt ausruft «Einer? Alle!».

Tichy sieht sich durch die (nicht nur) von ihm wahrgenommene Einheitsberichterstattung zu diesem Verfahren legitimiert. Er setzt eine Gegenmeinung auf. Aber welcher Wert hat dieses Meinung-Gegenmeinung-Spiel? Und welchen Zweck verfolgt Tichy mit dem publizistischen Dauerbeschuss in Richtung der von ihm eigentlich bevorzugten Partei? Nicht wenige entdecken dabei eine veritable Nähe zur AfD bzw. sogar eine Art Wahlkampfhilfe. Dabei unterscheidet sich die aktuelle AfD von der AfD aus dem Jahr 2013, in der der damalige Vorsitzende Bernd Lucke für ein wirtschaftsliberales und dezidiert euroskeptisches Programm engagierte (und mit 4,7% nur knapp an der Parlamentshürde von 5% scheiterte). Mit der allerdings in grossen Teilen inzwischen eher nationalistisch-extremistischen AfD der Jetztzeit hat Tichy politisch eigentlich wenig bis nichts im Sinn.

Die politische Neuorientierung der CDU als «moderne» Partei unter Angela Merkel und vor allem die Euro- und Flüchtlingspolitik der Grossen Koalition (CDU/CSU und SPD) hat nicht nur den wertkonservativ-marktliberalen Tichy politisch heimatlos gemacht. In Deutschland habe sich, so Wolfgang Büscher, «das geistige Koordinatensystem derart kräftig nach links verschoben, dass alles, was nicht links ist, seitlich herausfällt».

Konservative Positionen würden, so der Befund, in Deutschland allzu schnell als «rechtsextrem» eingestuft. Die CDU sei «ausgebrannt»; eine Diagnose, die man übrigens auch 1998, nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Helmut Kohl, vernahm. Sehr viele ehemalige Wähler der Unionsparteien vermissen das konservative Profil. Die bayerische Schwesterpartei der CDU, die CSU, versucht mit allzu lauten und voreiligen Parolen gegenzusteuern. Tichy und seine Mitstreiter versuchen dies ebenfalls. Sie könnten damit am Ende denen nutzen, die sie politisch ebenso nicht wünschen wie das von ihnen so verhasste Rot-Grün. Aber vielleicht gibt es kurz vor der Bundestagswahl dann noch einmal einen ähnlichen Text wie den von Hugo Müller-Vogg vom August 2016: «Unter Rot-Grün wäre alles noch viel schlimmer».

Leserbeiträge

Jürgen Fritz 27. Januar 2017, 18:02

Gut recherchiert, Lothar Struck, und flüssig geschrieben, im Grunde aber wenig verstanden. Zumindest bleibt alles schön brav an der Oberfläche. Gleichwohl danke für die Erwähnung, wenn auch auf etwas seltsame Weise, was die Rubrizierung anbelangt.

Beste Grüße
Jürgen Fritz