von Silke Fürst

Die Nicht-Themen zum Thema machen

Die Forderung ist altbekannt: Redaktionen sollen offenlegen, wie sie arbeiten – Transparenz als Wundermittel gegen die Vertrauenskrise. Oft bleibt das aber ein Lippenbekenntnis. Nicht so bei der NRC. Die Mediengruppe aus den Niederlanden legt sogar offen, worüber sie nicht berichtet.

Die Kommunikationswissenschaft hat auch einen gesellschaftlichen Auftrag: Den Medienwandel nicht nur zu beobachten, sondern ihre Analysen auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. In der MEDIENWOCHE startet mit diesem Beitrag eine Reihe zu aktueller kommunikationswissenschaftlicher Forschung. Daran beteiligen sich zunächst Forscherinnen des DGPuK-Mentoring Programms, der MFG – MedienforscherInnengruppe sowie der Zürcher Hochschulen (IKMZ und PHZH).

In der nun schon länger anhaltenden Debatte um «Fake News» wird immer wieder der Ruf laut nach mehr Transparenz im Journalismus. Auch der Fall Relotius hat dieser Forderung starken Auftrieb gegeben – aus Furcht, die Fälschungen könnten nicht nur die Reportage in Verruf bringen, sondern gleich die Glaubwürdigkeit der gesamten Medienbranche untergraben.

So stellte auch die TV-Journalistin Susanne Wille in der Aargauer Zeitung klar: «In Zeiten von Fake News und dem Kampf um die Glaubwürdigkeit der etablierten Medien wiegt jeder Vertrauensverlust doppelt schwer.» Entsprechend sei nach dem Fall Relotius Transparenz «das Losungswort der Stunde». Hier sind sich Journalismus und Wissenschaft einig. Drei Bereiche journalistischer Transparenz müssen gestärkt werden:

  • transparenter Umgang mit eigenen Fehlern
  • umfassende Offenlegung von Quellen
  • Einblicke in den Entstehungsprozess eines Beitrags (Making-of)

Zum Making-of gehören auch Informationen darüber, welche Interessen und Vorannahmen ein Redaktor hatte und was er trotz Recherche nicht herausfinden konnte.

All das ist mit Blick auf die Qualität des Journalismus und das Vertrauen der Nutzer wichtig. Allerdings bedeutet dies, wie NZZ-Medienredaktor Rainer Stadler abwägt, auch «mehr Bürokratie». Transparenz verlangt Ressourcen, die im Journalismus immer knapper werden. Daher verwundert es nicht, dass sie seit einigen Jahren in aller Munde ist, sich aber nur begrenzt in der redaktionellen Praxis niedergeschlagen hat. Zwar stellt Journalismusforscher Klaus Meier fest, dass sich Transparenz-Instrumente in den letzten zehn Jahren stärker etabliert haben. Grund dafür sind insbesondere das Internet mit neuen und einfachen Möglichkeiten, solche Beiträge zu veröffentlichen, sowie der zunehmende Druck seitens des kritischen Publikums. Allerdings zeigen Studien auch, dass regelmässig betriebene Redaktionsblogs noch immer die Ausnahme sind.

Ein blinder Fleck von Wissenschaft und journalistischer Praxis ist etwa, dass wir bei Transparenz-Instrumenten fast automatisch nur an die veröffentlichten Beiträge denken.

Zum einen stellt sich also die Frage, ob die nun wieder lauter zu vernehmenden Forderungen nach mehr Transparenz wirklich etwas ändern werden. Zum anderen lässt sich auch hinterfragen, ob die bisherigen Instrumente reichen, um die wichtigsten Probleme und Missstände anzugehen – oder ob Transparenz auch noch anders denkbar wäre. Ein blinder Fleck von Wissenschaft und journalistischer Praxis ist etwa, dass wir bei Transparenz-Instrumenten fast automatisch nur an die veröffentlichten Beiträge denken. Das Credo ist also: Lege offen, warum dieser Beitrag eine Nachricht ist, worauf er basiert und wie er entstanden ist. Woran wir in der Regel nicht denken, ist die andere Seite der Nachrichtenauswahl: Was wir nach einer Überprüfung doch nicht veröffentlichen. Also jene Informationen und Meldungen, deren Nachrichtenwert und Faktengehalt sich als unklar herausstellt oder im Zuge eigener Recherche auflöst.

Dieser blinde Fleck wurde mir erst bewusst, als ich Ende letzten Jahres in Brüssel die Tagung «What’s (the) News?» besuchte, die Kommunikationswissenschaftler, Linguisten und Journalisten zusammenbrachte. Die leitende Journalistin Jisca Cohen der niederländischen NRC Media hielt den Abschlussvortrag der Tagung.

Das Haus NRC gibt je eine gedruckte Morgen-, Abend- und Wochenendzeitung heraus und unterhält eine Onlineplattform. In ihrem Vortrag «No news (yet)» berichtete Cohen von ihren Erfahrungen mit dem im September 2018 gestarteten Redaktionsblog «Is dit nieuws?». Ein Link zum Blog befindet sich auf der Startseite, wenngleich etwas unscheinbar.

Im Blog veröffentlicht die Redaktion regelmässig Beiträge zu Informationen, die (noch) keiner Nachricht würdig sind und sich entsprechend auch nicht in den Ressorts der NRC Online- und Printausgaben finden. Mit einem Link zu Google News macht die Redaktion deutlich, dass andere Medien die betreffende Information bereits stark verbreiten. Zugleich begründet die Redaktion in einem kurzen Text, warum es sich aus ihrer Sicht nicht um eine Nachricht handelt.

Die bisherigen Blog-Einträge lassen sich fünf Kategorien zuordnen:

  1. «Das wissen wir bereits.» Beispiel: Die Regierung teilt mit, dass pflegebedürftige Menschen in naher Zukunft bestimmte finanzielle Mittel erhalten. Dies war jedoch bereits seit Längerem bekannt und im Koalitionsvertrag festgelegt.
  2. «Das ist falsch.» Beispiel: Ein Abgeordneter behauptet, dass auf sein Haus geschossen wurde und führt diesen Angriff darauf zurück, dass er sich am Vortag sehr kritisch gegenüber bestimmten Moscheen positioniert hat. Die Polizei konnte in ihrer Untersuchung jedoch kein Einschussloch feststellen.
  3. «Das ist noch nicht schlüssig oder ausreichend fundiert.» Beispiel: Laut einem anonymen Brief soll eine Gruppe von Amsterdamer Feuerwehrleuten kein Vertrauen mehr in ihre Führung haben. Die Redaktion konnte auch durch Recherchen nicht ausfindig machen, wer und wie viele Personen zu dieser Gruppe gehören.
  4. «Das ist Teil einer PR-Kampagne». Beispiel: Laut der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes gehören die Niederlande zu den Top 3 des Kindersextourismus in Kambodscha. Die Recherche der Redaktion ergab, dass dazu gar keine Daten vorliegen und die Kinderrechtsorganisation eine Kampagne zu Sextourismus in Kambodscha plante. Die Redaktion ordnet das Ranking daher als Spekulation ein, die lediglich Publizität erzeugen sollte.
  5. «Das ist erst eine Drohung.» Beispiel: Eine Verbraucherschutzorganisation droht einer Fluggesellschaft mit einer Klage und stellt ein Ultimatum auf. Da faktisch noch keine rechtlichen Schritte unternommen wurden und auf diese Weise lediglich öffentlicher Druck aufgebaut werden soll, ist dies für NRC Media keine Nachricht.

Ein Blog-Eintrag wird nur erstellt, wenn solcherart Nachrichten in mindestens zwei seriösen Medien bereits veröffentlicht worden sind. Stellt die NRC-Redaktion später doch fest, dass es sich um eine relevante Nachricht handelt (zum Beispiel: die angedrohte Klage ist jetzt tatsächlich erfolgt), wird dies im Blog vermerkt und ein entsprechender Artikel geschrieben.

Auffällig ist, dass die Redaktion auch dann prüft und abwartet, wenn Geschichten besonders aufmerksamkeitsträchtige Schlagzeilen bieten würden. Etwa im angesprochenen Fall des angeblich bedrohten Abgeordneten, aber auch im Fall einer Ausbreitung von Meningokokken, bei der die Regierung durch verspätetes Handeln für Todesfälle mitverantwortlich gemacht wurde.

Das Blog «Is dit nieuws?» gibt Einblicke, wie die eigene Nachrichtenüberprüfung und -auswahl funktioniert.

Zudem zeigt die NRC-Redaktion einen besonders kritischen Umgang mit Zahlen und Statistiken. Während andere Medien auf Basis von Umfragen und Studien kurzerhand über klare Trends und Probleme berichten, macht sie im Blog «Is dit nieuws?» nach eigener Recherche kenntlich, welche Zahlen keine Nachricht wert sind. Dabei zeigt sie Interessen auf, die die Erhebung geprägt haben; fragt, ob die Studie überhaupt gemessen hat, was sie zu belegen vorgibt; und hinterfragt, ob die Datenbasis tatsächlich jene Verallgemeinerungen zulässt, die andere Medien in ihren Berichten gerade verbreiten.

Eine solche unaufgeregte, prüfende und kritische journalistische Praxis trifft den Kern dessen, was in der breit geführten Debatte im Anschluss an den Fall Relotius in den vergangenen Tagen diskutiert wurde. Angesichts beständiger «Erregungs-, Banalisierungs- und Vereinfachungswellen», so Journalismusforscher Tanjev Schultz, stehe der Journalismus vor der verantwortungsvollen Aufgabe, sich auf Substanz zu besinnen, auf «Ruhe, manchmal Gelassenheit. Beharrlichkeit. Langer Atem».

Der frühere Chefredaktor des Spiegel, Georg Mascolo, schliesst sich dieser Position an. Anstatt im Wettkampf um die allerneuesten und aufsehenerregendsten Nachrichten mitzuspielen, müsse Journalismus gerade in diesen Zeiten wieder «langsamer und zurückhaltender» werden, «ein Ort der Mäßigung und des zweiten Gedankens. Er macht nicht Kleines groß und lässt Großes liegen». Die Wichtigkeit dieser Selbstreflexion wird besonders deutlich, wenn wir uns vor Augen führen, wie zuletzt über den Angriff auf den Bremer AfD-Vorsitzenden oder ein virales Video aus den USA berichtet wurde, das jugendliche Trump-Anhänger in einer Konfrontation zeigt.

Für die NRC-Journalisten dürfte der Blog dazu beitragen, dass eine Kultur der Entschleunigung entstehen kann, die sorgfältige Recherche wertschätzt.

Der Blog «Is dit nieuws?» gibt Einblicke, wie die eigene Nachrichtenüberprüfung und -auswahl funktioniert. Er signalisiert dem Leser und der Leserin: Du kannst von uns einen professionell ausgewählten und geprüften Überblick über das aktuelle Nachrichtengeschehen erwarten. Auch entsteht für Nutzer auf diese Weise mehr Raum, andernorts verfolgte Nachrichten hinterfragen zu können.

Für die NRC-Journalisten dürfte der Blog dazu beitragen, dass eine Kultur der Entschleunigung entstehen kann, die sorgfältige Recherche wertschätzt. Zugleich nimmt die Veröffentlichung eines Blog-Beitrags den Druck raus, ein bestimmtes Thema bedienen zu müssen, weil es alle Medien bedienen und es die eigenen Nutzer entsprechend vermissen könnten. Ein Problem, das in einer deutschen Studie bereits augenfällig geworden ist. Denn manche Leser bemerken, wenn bestimmte Themen in ihrer Zeitung ausbleiben und schreiben entsprechende Kommentare. Nur: Wenn die Redaktion dokumentiert, worüber sie nicht berichtet, dann kann man ihr schlecht vorwerfen, das Thema verschwiegen zu haben. Nicht zuletzt ist das Blog auch ein Spiegel für all jene Nachrichtenmedien, die jeweils auf den Zug der übereilten Berichterstattung aufgesprungen sind.

Deshalb kann für die Schweiz der Blick auf die Niederlande, die ein ähnliches Mediensystem haben, und auf dortige Transparenz-Instrumente interessant sein. Die Forderung nach mehr journalistischer Transparenz ist in den Niederlanden stark präsent. Das niederländische Online-Magazin «De Correspondent», das im Bereich Crowdfunding als Vorreiter gilt, zeichnet sich einer Studie zufolge besonders durch seine innovative journalistische Transparenz aus. Hier spielen Making-of Beiträge, die natürlich entsprechende Ressourcen erfordern, eine grosse Rolle. NRC Media sticht dagegen nicht nur mit dem Redaktionsblog hervor, sondern hat auch einen eigenen Ethik-Kodex, einen Ombudsmann und veröffentlicht eine tägliche Medienseite. Zusammen dürfte dies dazu beitragen, dass NRC laut dem aktuellen Digital News Report des Reuters Institute bei seinen Lesern als besonders vertrauenswürdig gilt und auch wirtschaftlich erfolgreich ist.

Nutzer erwarten vom Journalismus, dass Informationen geprüft werden und ein aktueller Überblick über das wichtigste Geschehen geliefert wird. Zugleich gibt es auch heute noch die soziale Norm, dass man als Bürger dieses wichtigste Geschehen kennen sollte. Diese Erwartungen tragen trotz des digitalen Wandels zu einer gewissen Stabilität in der Mediennutzung bei. Das Jahrbuch «Qualität der Medien» 2018 des fög zeigt, dass noch immer 51 Prozent der Schweizer als Hauptnachrichtenmedium eine Print- oder Onlineausgabe einer Zeitung nutzen (S. 37). Danach folgen das Fernsehen mit 31 Prozent, Social Media mit 10 Prozent und das Radio mit 8 Prozent. Daher drängt sich der Eindruck auf: Nicht eine unaufhaltsame Digitalisierung und Aufmerksamkeitskonkurrenz wird die Zukunft des Journalismus in Frage stellen, sondern die Art, wie der Journalismus mit den Erwartungen des Publikums umgeht, aus Fehltritten lernt und selbstkritischen Reflexionen Taten folgen lässt.