von Christian Bernhart

«Le Temps»: Ikarusflug zur Hautevolée

«Le Temps» ist die einzige überregionale Tageszeitung der Westschweiz. Doch die letzten Westschweizer Affären von überregionaler Bedeutung, jene um die FDP-Regierungsräte Broulis (Waadt) und Maudet (Genf), enthüllte die Konkurrenz. Stattdessen kungelt «Le Temps» lieber mit der Hautevolée von Politik und Wirtschaft.

«Sehr, sehr stolz», sei er, seinen «ersten Beitrag über die #FashionLeaks im @tagesanzeiger mitverfasst zu haben», teilte Sylvain Besson am 25. Januar auf Twitter seinen Followern mit. Bessons Stolz und Freude bedeuten gleichzeitig einen herben Verlust für «Le Temps». Die Zeitung verliert damit nicht nur ihren stellvertretenden Chefredaktor und aktivsten investigativen Journalisten, sondern auch einen profunden Islamkenner. Bessons Buch «La Conquête de l’Occident» gilt als ein Standardwerk zur Geschichte der Muslim-Brüder mit ihren markanten Genfer Spuren im Ramadan-Familienclan.

Zur Geschichte von «Le Temps»: Vom frechen «Nouveau Quotidien» zum vornehmen «Le Temps».

Den Verlust wird «Le Temps» zu verschmerzen wissen, denn Recherchen im eigenen Einzugsgebiet waren nie die Stärken der Zeitung. Das zeigt auch die Zurückhaltung bei der Berichterstattung zu den unter Korruptionsverdacht stehenden FDP-Regierungsräten Pierre Maudet in Genf und Pascal Broulis in der Waadt. Pierre Maudets gesponserte Reise nach Abu Dhabi sowie weiteres korruptionsverdächtiges Verhalten kamen nach Recherchen von «Tribune de Genève» und «Radio Lac» ans Licht. «Le Temps»-Leser mussten nach den ersten Enthüllungen der Konkurrenz fast eine Woche warten, bis sie über Maudets mögliche Verfehlungen ins Bild gesetzt wurden.

Als mögliche Erklärung für die Beisshemmung nennt der Freiburger Geschichtsprofessor Alain Clavien, Autor eines Standardwerks über die Westschweizer Presse, die beiden grossen Prozesse gegen «L’Hebdo» als Folge von Recherchen des Wochenmagazins zu den Bankiers Safra (1991) und zum Genfer Richter Trembley (1989). «Da sagte man sich, Recherchen können gefährlich werden», so Clavien gegenüber der MEDIENWOCHE.

Wie «Le Temps» die Broulis-Affären publizistisch verarbeitete, bietet einen tiefen Einblick, wie sich die Zeitung gegenüber Politik und Wirtschaft verhält.

So erstaunt es nicht weiter, wie zurückhaltend «Le Temps» die beiden bis heute nich gänzlich erhellten Affären rund um den Waadtländer Staatsrat Pascal Broulis (FDP) abhandelte. Recherchen des Tages-Anzeigers zu Steuertricks und Reisen nach Russland zusammen mit der Waadtländer Ständerätin Géraldine Savary (SP), mit Milliardär Frederik Paulsen und Reiseleiter Eric Hoesli, Ex-Chefredaktor von «Le Temps», führten zu behördlichen Untersuchungen. Doch diese wurden eingestellt, bevor alle Fakten auf den Tisch kamen. Nun hat Broulis den Spiess umgedreht und klagt gegen den Tages-Anzeiger wegen Ehrverletzung. Peter Rothenbühler, langjähriger Chefredaktor von «Schweizer Illustrierte» und «Le Matin», meinte Ende März in der «Sonntagszeitung» zur jüngsten Wendung der Affäre: «Dass ein gut verdienender Freisinniger wie Pascal Broulis jetzt wegen missliebiger Berichterstattung Geld will, das kommt ganz schlecht an.»

Wie «Le Temps» die Broulis-Affären publizistisch verarbeitete, bietet einen tiefen Einblick, wie sich die Zeitung gegenüber Politik und Wirtschaft verhält. Im Scheinwerferlicht der Russlandreisen-Affäre stand der Milliardär Paulsen, der im Kanton Waadt der Pauschalbesteuerung untersteht. Am 21. September 2018 veröffentlichte «Le Temps» zunächst ein wohlwollendes Porträt unter dem Titel «Frederik Paulsen, un (riche) ami qui vous veut du bien». Dieser «reiche Freund, der Ihnen nur Gutes will», wird als Persönlichkeit «ausserhalb der Norm» präsentiert: als Unternehmer, der das Pharma-Unternehmen seines Vaters zum Florieren brachte, als neugieriger Reisender ins ewige Eis des hohen Nordens, als Mäzen, der die Lausanner Oper unterstützt oder das Bolschoi-Ballett ins Beaulieu-Theater nach Lausanne einlädt. Paulsen wirkt zudem als Honorarkonsul von Russland und als Sponsor der ETH Lausanne. Das Zeitungsporträt ist aber erst der Auftakt. Zwei Monate später widmet ihm «Le Temps» das traditionelle, zweiseitige Samstags-Gefälligkeitsinterview. Aufgrund fehlender Aktualität sind diese Gespräche gewöhnlich im hinteren Teil des ersten Bundes platziert. Doch das Paulsen-Interview vom 17. November 2018 erscheint an vorderster Stelle, auf den Seiten zwei und drei.

Als Schlussbouquet bekundet Paulsen im Interview unwidersprochen seinen feudalistischen Standpunkt, als er auf sein Privileg der Pauschalbesteuerung angesprochen wird.

Die Einstiegsfragen des Interviews betreffen Paulsens Gemütszustand, ähnlich wie sie Lokalradio-Volontäre stellen. Man spüre, dass er zornig sei. Und schon zieht Paulsen über die Medien vom Leder, die ein falsches Bild von ihm zeichneten und lässt sich über «Tages-Anzeiger»-Korrespondent Philippe Reichen aus. Dieser habe den integren Broulis mit unzähligen (!) Artikeln attackiert – einen Mann, der einen bankrotten Kanton in ein «ökonomisches Powerhaus» transformiert habe. Als Schlussbouquet bekundet Paulsen unwidersprochen seinen feudalistischen Standpunkt, als er auf sein Privileg der Pauschalbesteuerung angesprochen wird. Zehnmal mehr Geld habe er gespendet, als er als normal Besteuerter hätte entrichten müssen. «Indem ich direkt den Leuten Geld gab, glaube ich effizienter gewesen zu sein, als wenn ich es dem Staat überwiesen hätte, wo es durch eine Bürokratie geflossen wäre.»

Mit diesem Interview ist die Russlandreise für «Le Temps» aber noch nicht abgehakt. Es gilt auch noch die Rolle von Reiseleiter Eric Hoesli, dem ehemaligen «Le Temps»-Chefredaktor, ins beste Licht zu rücken. Einen Tag bevor Staatsanwalt Eric Cottier seinen entlastenden Bericht vorstellt, veröffentlichte «Le Temps» am 15. Januar 2019 bereits Auszüge davon. Und lässt Hoesli dazu in einem Interview zu den zwölf von ihm mitorganisierten Russlandreisen sagen: «Alle haben ihre Kosten immer selber bezahlt.» Aber nur die Leser des Konkurrenzblatts «24 Heures» erhalten eine Übersicht der bezahlten Beträge und der Destinationen. Sie dürften sich danach gefragt haben, wie man während sieben Tagen am nördlichen Polarkreis für nur 2072 Franken pro Person reisen kann, wenn Hoesli sonst für eine 20-tägige Reise nach Sibirien 18’000 Franken im Einzelzimmer verrechnet. Hoesli begründete die geringen Kosten mit dem Verzicht auf Komfort bei der Unterbringung.

Die publizistische Begleitung der beiden Affären in «Le Temps» legt den Schluss nahe, dass es der Zeitung darum geht, der liberalen politischen und wirtschaftlichen Elite im Kanton bloss nicht an den Karren zu fahren. Das zeigt sich auch sonst im Blatt: In jeder Ausgabe wird als Abschluss eine erfolgreiche Person mit ihrem Engagement porträtiert. «Le Temps» ist eine Zeitung für Arrivierte des oberen Mittelstands oder für junge Erwachsene auf dem Weg nach oben.

«Le Temps» stellt das Silicon Valley gerne als Vorbild für den Arc Lémanique dar.

Die Genferseeregion vergleicht «Le Temps» gerne mit dem Silicon Valley – mit der ETH-Lausanne als Innovationstreiberin und einer blühenden Start-up-Landschaft. Folgerichtig schickte «Le Temps» zu ihrem 20-jährigen Bestehen im vergangenen Oktober einen Teil der Redaktion nach San Francisco. Es kamen vornehmlich enthusiastische Berichte aus dem Silicon Valley, wenig Kritisches, bestenfalls ein paar Zeichnungen aus der spitzen Feder von Karikaturist Patrick Chappatte. In zwei Artikeln berichtete man über prekäre Arbeitsbedingungen bei Tesla und über die Gentrifizierung in San Francisco. Insgesamt wird in «Le Temps» das Silicon Valley aber als Vorbild für den Arc Lémanique dargestellt. Start-ups der Romandie feiern in der Zeitung das High-Tech-Tal als ihre Inspirationsquelle. Und auch Patrick Aebischer, ehemaliger ETH-Lausanne-Präsident, darf mitschwärmen.

Überhaupt gibt sich «Le Temps» ausserordentlich technologiefreundlich. Das Abenteuerunternehmen «Solar-Impulse» mit dem Flug eines Leichtbauflieger-Einplätzers rund um den Globus, angetrieben von eigenem Solarzellen-Strom, wird in den Jahren 2015 und 16 enthusiastisch in zahlreichen Artikeln gefeiert. Redaktoren fliegen dafür zweimal nach Abu Dhabi, um Vorbereitung und Start der beiden Piloten Bertrand Piccard und André Borschberg zu begleiten. «Ein Erfolg, drei Verdienste und eine Botschaft», bilanziert Wissenschaftsredaktor Olivier Dessibourg das Flugereignis. Die Botschaft: saubere Energie für die Rettung unseres Planeten. Einer der Verdienste: die Verwirklichung des eigenen Traums für 170 Mio. Franken. Derweil hinterfragen andere Medien, ob dieser teure und aufwändige Flug nicht eher die Abenteuerlust älterer Herren befriedigt hat. Wissenschaftsredaktor Dessibourg fliegt auch schnell nach Moskau für einen Bericht über den Neuenburger Abenteurer Raphaël Domjan, der dort einen Raumanzug testet. Und wenn der Genfer Milliardär Ernesto Bertarelli im Namen seiner Stiftung nach London bittet, um die von ihm unterstützte Forschung der Universität Stanford an Haien im Indischen Ozean zu präsentieren, steigt Redaktor Florian Delafoi sofort ins Flugzeug und zitiert Positives von Bertarelli im Artikel. Die Frage, ob «Le Temps» für die Reisespesen an diese Orte selbst aufgekommen sei, oder ob sich hier um «embedded Journalism» handelt, wollte Dessibourg gegenüber der MEDIENWOCHE weder mündlich noch schriftlich beantworten. Eine Schweigepflicht in dieser Sache gegenüber «Le Temps» hätte er eigentlich nicht. Seit einem Jahr schreibt Dessibourg nicht mehr für die Zeitung.

Die Redaktion ist inzwischen derart ausgeblutet, dass sie für die wichtige Bundeshausberichterstattung eine Kooperation mit der Freiburger Zeitung «La Liberté» eingehen musste.

Am Ende bleibt die Frage, ob sich die Strategie von «Le Temps» auszahlt. Ob die Rechnung aufgeht mit einer Berichterstattung, die sich auf das gehobene Bildungsbürgertum ausrichtet und sich bei der Oberschicht mit Hochglanzbeilagen voller Luxusartikel anbiedert. Die Redaktion ist inzwischen derart ausgeblutet, dass sie für die wichtige Bundeshausberichterstattung eine Kooperation mit der Freiburger Zeitung «La Liberté» eingehen musste und ihre Artikel veröffentlicht.

Betrug die Auflage von «Le Temps» zu ihren Glanzzeiten im Jahre 2000 noch 50’900 Exemplare, so schrumpfte sie bis 2018 auf knapp 29’950 verkaufte Exemplare. Nicht nur die bezahlten Westschweizer Tamedia-Zeitungen haben «Le Temps» den Rang abgelaufen («24 Heures» 47’893 verkaufte Exemplare, «Tribune de Genève» deren 30’898). Selbst die Freiburger «La Liberté» steht mit 31’310 verkauften Exemplaren besser da. Auch online sieht es nicht besser aus. Bei allen gemessenen Kennwerten bewegt sich die Nutzung von letemps.ch bestenfalls seitwärts. Die von Net-Metrix gemessene Besucherzahl stagniert bei etwas über drei Millionen pro Monat. Das ist zwar etwas mehr als bei 24heures.ch, aber nur einen Drittel der Besucherzahlen von lematin.ch.

«Le Temps»-Co-Chefredaktor Gaël Hürlimann gibt sich auf Anfrage trotzdem optimistisch und verweist auf gestiegene Leserzahlen, die in der kommenden MACH-Studie der Wemf publiziert würden. Doch diese Studie hat eine beschränkte Aussagekraft, da sie vor allem den Bekanntheitsgrad einer Zeitung abbildet und nicht die tatsächliche Nutzung. Den Abgang von Sylvain Besson begründet Hürlimann damit, dass Besson gerne in einem Recherche-Team arbeiten wollte, das ihm «Le Temps» nicht bieten konnte.

Für «Le Temps» sieht es eher düster aus. Alain Clavien, der Geschichtsprofessor und Kenner der Westschweizer Presse sagt es so: «Le Temps ist halt keine Regionalzeitung, auch keine Zeitung für jedermann, sondern richtet sich an die Elite der Romandie. Man kann sich durchaus fragen, ob es eine gute Positionierung ist.» Clavien lässt durchblicken, dass man sich ebenso fragen könne, ob der Verlust in der Romandie wirklich so gross wäre, wenn «Le Temps» eines Tages nicht mehr erschiene.

Vom frechen «Nouveau Quotidien» zum vornehmen «Le Temps»
Hervorgegangen aus der Fusion des Lausanner «Nouveau Quotidien» und des «Journal de Genève», markierte «Le Temps» den Schlussstrich eines aufreibenden Konkurrenzkampfs. Der Medienkonzern Edipresse hatte den «Nouveau Quotidien» 1991 als Kampfansage an die vornehme liberale Konkurrenz aus Genf gestartet. Mit ins Boot holte Edipresse den Ringier-Verlag, der seinerseits den Publizisten und «Hebdo»-Gründer Jacques Pilet als Chefredaktor auf die Kommandobrücke stellte. Mit ähnlichem Anspruch – eine europäische Zeitung wie das «Journal de Genève» zu sein – positionierten sich «Nouveau Quotidien» als die frechere Version mit ressortübergreifender Berichterstattung unter aufmüpfigen Schlagzeilen und mit kulturellen Schwerpunkten. Dafür griffen die Verleger tief in die Taschen und machten Millionenverluste. Doch 1998 waren sie soweit, um die vornehme Genfer Zeitung in die Fusion zu zwingen. «Le Temps» sollte den frischen Ansatz des «Nouveau Quotidien» verinnerlichen, ummantelt mit dem distinguierten Gehabe aus Genf. Bemüht um den Goodwill der Genfer Privatbankiers, die zuvor die Millionen-Verluste der ortsansässigen Zeitung deckten, wurde die Redaktion vorerst in Genf angesiedelt.

Statt zwei defizitäre, hatte die Romandie nun noch eine Zeitung mit einem überregionalen Anspruch. In Zeiten schrumpfender Werbeeinnahmen und der Selbstzerfleischung mittels Gratisblättern bei gleichzeitig gestiegenem Renditeanspruch der Verlagshäuser kam es nicht nur in der Westschweiz zu Personalabbau, Fusionen und Verkäufen. Die beste Übersicht dazu bietet der Freiburger Geschichtsprofessor Alain Clavien in seinem Standardwerk «La Presse Romande» (2017). «Le Temps» ging zuletzt durch die Hände von Tamedia und landete schliesslich bei Ringier Axel Springer Schweiz, die das Blatt 2014 in Lausanne mit L’Hebdo und dem Magazin «Edelweiss» in einen gemeinsamen Newsroom quetschten – und alsbald «L’Hebdo» und «Edelweiss» liquidierten.

***

Als Abonnent seit der Lancierung von zuerst «Nouveau Quotidien» und später «Le Temps» wusste man den Elan zu schätzen und freute sich über die oft unkonventionellen Sichtweisen auf Themen, die Reportagen aus publizistisch vernachlässigten Regionen wie Afrika und Indien, sowie über die oft erlesene Bildauswahl. Umso mehr nahm man dann in den letzten Jahren die Ausdünnung wahr. Ab 1. Oktober 2015 reichte für «Le Temps» an Wochentagen ein Zeitungsbund vollauf und auch dieser wurde immer dünner. Es war nicht nur dem Wegfall von Inseraten geschuldet, ebenso dem kontinuierlichen Aderlass der Redaktion: Offiziell wurden 2009 zehn Vollstellen, 2017 weiter 20 im Zuge der Liquidation von L’Hebdo gekürzt. Im Gegenzug gab es immer häufiger Hochglanzbeilagen, nicht nur jene für die Uhrenhersteller, sondern auch das «T-Magazin», eine Lifestylebeilage, konzipiert als Luxuseldorado für die Oberschicht. Alain Claviens Fazit der jüngsten Entwicklung in einem Satz: «Auf geschrumpften Seitenzahlen findet man weniger Artikel und Recherchen, dafür mehr Interviews.»

Richtigstellung:

Gemäss seinem Rechtsvertreter legt Regierungsrat Pascal Broulis Wert auf folgende Richtigstellung:

«Contrairement à ce qui a été affirmé dans la présentation de cet article depuis le 2 avril, les investigations préliminaires du Procureur général du canton de Vaud ont permis, en ce qui concerne M. Broulis, d’établir l’absence du moindre indice d’infraction pénale. Il ne saurait dès lors être question de corruption ou de scandale.»

Übersetzung auf Deutsch:

«Im Gegensatz zu dem, was in der Präsentation dieses Artikels seit dem 2. April gesagt wird, haben die Voruntersuchungen des Generalstaatsanwalts des Kantons Waadt es ermöglicht, gegen Herrn Broulis festzustellen, dass es keine Beweise für eine Straftat gibt. Von Korruption oder Skandal kann daher keine Rede sein.»