von Daniel Puntas Bernet

Auf der Suche nach der besten Reportage der Welt

924 Texte aus 98 Ländern in 21 Sprachen nahmen an der ersten Austragung des True Story Award teil. Ende August kämpfte eine siebenköpfige Jury in Bern während sieben Stunden mit Argumenten und kürte die drei besten Reportagen. Einblicke in den Entscheidungsprozess von Daniel Puntas Bernet, Initiator des True Story Award.

Es ist morgens um neun, noch kühlt die Morgenfrische des Spätsommertages den Sitzungsraum im Herzen Berns. Im historischen Haus wird sich gleich Historisches ereignen: Sieben Jurorinnen und Juroren aus aller Welt sind Tausende von Kilometern angereist, um an diesem 30. August die drei besten der 39 nominierten Reportagen zu bestimmen.

Die meisten Jurorinnen und Juroren kannten sich vorher nur aus dem Internet: Margrit Sprecher (Schweiz), Jon Lee Anderson (USA), Patrick de Saint-Exupéry (Frankreich), Xiaolu Guo (China/UK), Rania Abouzeid (Libanon/AUS), Leila Guerriero (Argentinien) und Suthichai Yoon (Thailand). Aber auch für uns von der Organisation war es ein Abenteuer. Konnten so viele verschiedenartige Menschen aus so verschiedenen Kulturkreisen wirklich auf Anhieb zusammenarbeiten? Zwar hatten wir die Preis-Kriterien vorgegeben – ausgiebige Recherche, handwerkliches Können, gesellschaftliche Relevanz. Aber versteht man in Südamerika wirklich das Gleiche unter einer gelungenen Reportage wie in Indien oder China?

Ein Jurystuhl freilich bleibt leer. Wenige Tage vor dem Festival hatte mich der Schriftsteller Nuruddin Farah aus dem Sudan angerufen und in formvollendeter afrikanischer Höflichkeit gefragt, ob er wohl statt ans Berner Festival nach Südkorea reisen dürfe, um einen hochdotierten Buchpreis entgegenzunehmen. Er bleibt trotzdem präsent. Seine Meinung hatte er mir schriftlich und in langen Telefongesprächen zukommen lassen.

Keine Chance hatten Geschichten, deren minutiöser investigativer Wert zwar kaum zu übertreffen war, denen aber der erzählerische Schwung fehlte.

Während der Sommermonate hatten die Jurymitglieder die 39 nominierten Reportagen entweder auf Englisch oder in ihrer Muttersprache gelesen – der gesamte Textumfang entsprach rund zehn Büchern. Anfangs August bat ich sie um eine Vorauswahl ihrer sieben Favoriten. Es blieben 19 Texte im Rennen. Keine Chance hatten Geschichten, deren minutiöser investigativer Wert zwar kaum zu übertreffen war, denen aber der erzählerische Schwung fehlte, der die Leserin über den im Vordergrund stehenden Faktenreichtum trägt und fesselt. Andere Geschichten blieben zu sehr im konventionellen Mainstream gefangen. Gerade Umweltthemen, über die derzeit viel geschrieben wird, sollten besser und überzeugender erzählt werden, um das anfängliche Desinteresse des Lesers – «Nicht schon wieder!» – zu durchbrechen.

Als Sitzungsleiter ohne Stimmrecht stand ich vor einer Wandtafel und machte Striche. Jedes Jurymitglied durfte fünf Beiträge nennen, die seine Favoriten waren und fünf, die es, umgekehrt, keinesfalls unter den Gewinnern sehen wollte. Bei dieser Runde wurden die Urteile gnadenloser. Auf einmal waren es nur noch zwölf Texte.

Die gestellten Kriterien – geleisteter Rechercheaufwand, handwerkliches Können und globale Relevanz – reichten zur Beurteilung nicht aus. Viel wichtiger ist die Kraft der Erzählung.

Alle anfänglichen Bedenken hatten sich als grundlos erwiesen. Was eine gute Reportage war, darüber herrscht von Europa über Asien bis Amerika Einigkeit. Aber es zeigten sich auch mit jeder Stunde deutlicher: Die gestellten Kriterien – geleisteter Rechercheaufwand, handwerkliches Können und globale Relevanz – reichen zur Beurteilung nicht aus. Viel wichtiger ist die Kraft der Erzählung, die Zeitlosigkeit der Geschichte, der ungewöhnliche Zugang und die globale Relevanz. Hat die Story auch etwas mit mir als Leser und unserer Zeit zu tun? Bleibt sie in Kopf und Herzen zurück?

Bislang hatte sich die Jury mehr oder weniger friedfertig verhalten. Zu schön das Wetter, zu angenehm das Picknick in einem nahen Park. Am Nachmittag verschärfte sich der Tenor. «The rise and fall of the most bizarre Art Club in the world» war für die einen ein hervorragendes Porträt russischer Kunst-Aktivisten. Für die andern bestand die Leistung der Reporterin lediglich im Nacherzählen skurriler Schandtaten. «Dry, the beloved Country»: «Dieser Text aus Südafrika hat etwas Kolonialistisches. Hier wird die Mikro-Bewegung einiger weissen Gutmenschen zum Ende der Apartheid heraufstilisiert.» – «Ach was! Ein stark geschriebener, hoffnungsvoller und positiver Text mit einer überraschenden Wendung. Hinterlässt bei mir ein ausgezeichnetes Gefühl und lässt mich an das Gute im Menschen glauben.»

«A Template of Hate» und «Prisoners of the Fourth Floor» bleiben bei aller Zuneigung auf der Strecke – die anderen sind schlicht noch besser geschrieben.

Top-Favorit bis zum Schluss bleibt «A Template of Hate», eine Reportage über Indiens Religionskonflikte. «Dieser wichtige Text zeigt an einem vermeintlich ‹nur› religiös motivierten Mordfall auf, zu was ein rechtsnationalistischer Mob fähig ist – und damit auch noch davonkommt. Wenn ich in diese indischen Hinterhöfe blicke, merke ich, dass dies leider auch mein Hinterhof sein könnte.» Auch «Prisoners of the Fourth Floor», bleibt bis zum Schluss bei den Überfliegern. Dies auch, weil die Geschichte den Mainstream der Umwelt- und Flüchtlingskatastrophen meidet und eine ganz alltägliche, nicht minder katastrophale Geschichte erzählt: die Geschichte Hunderttausender von alten Polinnen und Polen, die aufgrund fehlender Lifte ihre Wohnung nicht mehr verlassen können. «Ein wunderbar geschriebenes, feinfühliges Stück über etwas, das uns zunehmend alle angeht.» Beide Texte bleiben bei aller Zuneigung auf der Strecke – die anderen sind schlicht noch besser geschrieben.

Am meisten zu reden und zu streiten gab «A Kingdom from Dust». Eine umfassende Erzählung über den wohl grössten Pistazienbauern der Welt aus Kalifornien und gleichzeitig «ein Portrait des menschlichen Zustandes selbst». Die Reportage erschien anfangs 2018 erst im «California Sunday Magazin» und ein Jahr später als Kapitel in einem Buch. «Das können wir nicht zulassen», so ein Teil der Jury: «Der Autor hatte viel mehr Zeit für die Recherche zur Verfügung als der Durchschnittsreporter.» – «Ja schon. Aber aufgrund prekärer ökonomischer Bedingungen der Medien arbeiten weltweit immer mehr Journalisten an Buchprojekten und veröffentlichen vorab Teile davon in Magazinen.» – «Wäre es nicht angebrachter, wenn wir die ‹Lonely Wolfs› belohnen würden, die keine Publikationsmaschinerie im Rücken haben und auf eigenes Risiko monatelang in unwirtlichen und mitunter gefährlichen Gegenden recherchieren?» – «Woher wissen Sie, dass der Autor nicht genau so viel Entbehrungen auf sich nimmt? Nur weil er Amerikaner ist?» Am Schluss siegt schlicht die Qualität des Textes: «Ein grossartiges Gemälde mit allen Zutaten der Zeit, in der wir leben; und erst noch aufgeschrieben im Stile von John Steinbeck.» Mit deutlicher Mehrheit der Jury landet «A Kingdom from Dust» auf dem zweiten Platz.

Am Ende siegt das Ungewohnte, Überraschende im Text über Chinas Tagelöhner knapp gegenüber dem vielleicht eine Spur zu oft gelesenen Schicksal afrikanischer Migranten.

Ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern sich die Migrationsreportage «The Missing», eine Rekonstruktion der Flüchtlingsroute von Westafrika nach Italien anhand einer Handynummer, und die Undercover-Reportage «The Vagabond Club», dem Porträt einer rebellischen und nihilistischen Subkultur am Rande eines chinesischen Industriegürtels. Am Ende siegt das Ungewohnte, Überraschende im Text über Chinas Tagelöhner knapp gegenüber dem vielleicht eine Spur zu oft gelesenen Schicksal afrikanischer Migranten.

Letztlich klarer und bei allen Juroren unumstrittener Gewinner ist «Monitor 1»: «Auf unerwartete und überraschende Weise versammelt der Autor Shura Burtin eine schier unendliche Vielfalt an Stimmen und zeichnet so ein feinfühliges Porträt des tschetschenischen Menschenrechtsaktivisten Oyub Titiev. Die Reportage ist in vielerlei Hinsicht äusserst mutig. Der Autor schafft es, ein Licht auf einen vergessenen Krieg der Postsowjetunion zu werfen.» Sein plädoyerartiger Text hat dazu beigetragen, dass Titiev im Juni 2019 aus dem Gefängnis entlassen wurde.

Es gab auch keine Trostpreise. Es siegten die drei Besten. Dem unerschrockenen Gewinner verschlug es bei der Preisübergabe buchstäblich die Sprache.

Wer schon an einer Jurysitzung teilgenommen hat, weiss: Nach dem Entscheid folgt oft der Zweifel. Sind alle Geschlechter, Sprachen und Regionen berücksichtigt? Hat man jemanden übergangen, der es doch besonders verdient hätte? Bei der ersten Vergabe des True Story Award gab es kein nachträgliches Korrigieren. Es gab auch keine Trostpreise. Es siegten die drei Besten. Dem unerschrockenen Shura Burtin verschlug es anderntags bei der Preisübergabe im Berner Stadttheater buchstäblich die Sprache, als er von seinem 1. Platz erfuhr. Wortlos und glücklich nahm er seine Auszeichnung entgegen.