von Nick Lüthi

«Heute wird konstruktiver und sachlicher über unsere Forschung gesprochen»

Zum zehnten Mal wurde das «Jahrbuch Qualität der Medien» veröffentlicht. Anlässlich der ersten Ausgaben sah sich das Forschungsprojekt teils harschen Anfeindungen vonseiten der Verlage und Redaktionen ausgesetzt. Das ist heute nicht mehr so, auch weil viele Medien die Sorgen der Forschenden teilen – etwa in der Frage, wie sich die wachsende Zahl von Nachrichtenabstinenten für den Journalismus zurückgewinnen liesse. Ein Gespräch mit Mark Eisenegger, der das «Jahrbuch» seit dem Tod von Gründer Kurt Imhof verantwortet.

MEDIENWOCHE:

Hättest du vor zehn Jahren gedacht, dass es das Jahrbuch heute noch gibt?

Mark Eisenegger:

Ich war zumindest nicht sicher, ob es gelingen würde, über einen so langen Zeitraum ein so grosses Projekt aufrechtzuerhalten, das in verschiedener Hinsicht extrem anforderungsreich ist, was die Geldbeschaffung angeht, aber auch den Umgang mit der Öffentlichkeit. Da mussten wir wahnsinnig viel lernen. Es ist nicht unbedingt das, was der Forscher normalerweise mitbringt: Wie speise ich Befunde in den gesellschaftlichen Diskurs ein? Wie gehe ich mit Kritik um? Gerade in den ersten Jahren war der Widerstand besonders heftig.

«Lustigerweise unterstützt ein Teil der damaligen Kritiker unsere Forschung heute.»

MEDIENWOCHE:

Ein Tamedia-Chefredaktor warf euch 2011 «Wissenschaftlicher Boulevard» vor. Unterliefen euch damals Anfängerfehler?

Mark Eisenegger:

Wir hatten damals tatsächlich einen Bock geschossen. Es stand ursprünglich der Befund im Buch, wonach die Nutzung der Online-Medien nach unten saust. Das war schlicht und einfach ein methodisches Artefakt, das wir aber kurz vor Erscheinen noch korrigiert haben. Dennoch führte das zu diesen geharnischten Reaktionen. Wenn ich schaue, wie viel wir inzwischen in die Kontrolle der Grunddaten investieren, sind wir heute einen grossen Schritt weiter. Wir waren am Anfang noch nicht ganz so stark sensibilisiert, dass die eigene Qualität der Forschung allerhöchsten Ansprüchen genügen muss, wenn man «Qualität» auf ein Buch draufschreibt. Lustigerweise unterstützt ein Teil der damaligen Kritiker unsere Forschung heute.

MEDIENWOCHE:

Was hat das Jahrbuch erreicht?

Mark Eisenegger:

Wir haben sicher dazu beigetragen, dass die Debatte über die Medienqualität in der Schweiz institutionalisiert ist. Das ist massgeblich unser Verdienst. Allgemein wird mehr über Qualität gesprochen, auch in den Redaktionen. Wir haben auch erreicht, dass unsere Befunde in die medienpolitische Debatte einfliessen. Wenn man etwa die Berichte der eidgenössischen Medienkommission anschaut, dann werden unsere Erkenntnisse dort regelmässig genannt. Wir haben es zudem geschafft, für Probleme zu sensibilisieren, die zuvor nicht auf dem Radar waren.

«Kurt Imhof war eine wahnsinnig charismatische Figur mit allen Vor- und Nachteilen.»

MEDIENWOCHE:

Die ersten Ausgaben des Jahrbuchs waren sehr stark geprägt von Kurt Imhof. Er hat als Galionsfigur und streitbarer Wissenschaftler das Projekt gegen aussen geprägt. Kurt verstarb vor vier Jahren. Wie gross waren die Fussstapfen, in die du getreten bist als sein Nachfolger?

Mark Eisenegger:

Die sind gross, natürlich. Kurt war eine wahnsinnig charismatische Figur mit allen Vor- und Nachteilen. Er war ein Garant dafür, dass die Aufmerksamkeit für unser Projekt von Beginn weg sehr gross war. Mir war von Anfang an klar, dass ich eine andere Rolle spielen muss als er. Ich konnte und wollte nicht Kurt kopieren. Der Stil unseres Auftretens hat sich verändert. Wir stehen heute an einem Punkt, wo wir sehen, dass konstruktiver und auch sachlicher über unsere Forschung gesprochen wird. Und uns ist es auch gelungen, mit der Praxis stärker im Gespräch zu sein.

MEDIENWOCHE:

Wo fehlt Kurt Imhof am meisten?

Mark Eisenegger:

Er fehlt, wenn wir kritisiert werden. Dann war er natürlich derjenige, der mit breiter Brust hingestanden war. Ein Winkelried, der die Reihen geschlossen hat und die Speere auf sich zog. Er hatte auch eine wahnsinnig motivierende Wirkung nach innen. Mir fehlt er zudem als Gesprächspartner. Wie im Journalismus auch lebt gute Forschung von einem guten Binnendiskurs. Und da war Kurt für mich immer ein ganz wichtiger Gesprächspartner, wie ich hoffentlich auch für ihn. Natürlich hätte ich ihn auch gerne dabei bei der Geldbeschaffung. Dort leistete er wahnsinnig viel für das Projekt. Das musste ich alles lernen und heute funktioniert es auch.

«Wir möchten nicht einfach eine Hitliste zeigen, sondern die Qualität mit erklärenden Faktoren in Verbindung setzen.»

MEDIENWOCHE:

Die ersten Ausgaben des Jahrbuchs waren stark geprägt von der Qualitätsrangliste der Schweizer Medien. In den letzten Jahren spielte dieses Qualitätsscoring nicht mehr eine so starke Rolle. Warum seid ihr davon weggekommen?

Mark Eisenegger:

Das Scoring spielt immer noch eine wichtige Rolle, aber nur noch im Kontext des alle zwei Jahre erscheinenden Medien-Qualitätsratings, wo wir als Partner dabei sind. Aber es ist tatsächlich so, dass wir entschieden haben, das Scoring im Jahrbuch zurückzufahren, weil wir merkten, dass die Aussenwahrnehmung sich zu stark auf die Rangliste konzentriert hatte. Andere Befunde, die uns wichtig sind, fielen unter den Tisch. Dafür ist das Jahrbuch heute viel breiter aufgestellt als in der Startphase. Damals war es eine erweitere Medienqualitätsanalyse. Heute haben wir den Anspruch, die Medienöffentlichkeit in ihrer ganzen Breite zu erforschen, auch über den Informationsjournalismus hinaus. Wir möchten nicht einfach eindimensional eine Hitliste zeigen, sondern die Qualität mit erklärenden Faktoren in Verbindung setzen und noch stärker erforschen, welche Medienqualität bei den Nutzerinnen und Nutzern ankommt. Ich würde behaupten, das Jahrbuch ist prägnanter geworden und auch gehaltvoller, weil wir insbesondre die Analyse stark ausgebaut haben und die Redundanz abgebaut haben.

MEDIENWOCHE:

Seit ein paar Jahren stellt ihr fest, und nun auch wieder prominent in der aktuellen Ausgabe, dass es quer durch die Bevölkerung immer breitere Kreise gibt, die kaum mehr mit Informationsjournalismus in Berührung kommen. Warum nimmt diese Gruppe zu? Was sind die treibenden Faktoren?

Mark Eisenegger:

Wir beobachten eine Art Verdrängungseffekt. Der Fokus der Nutzer geht stark in Richtung Streaming-Dienste. Das Verrückte ist ja, dass die News-Deprivierten einen grossen Medienkonsum haben, aber eben nicht im Bereich des Informationsjournalismus. Ihre Aufmerksamkeit geht auf Netflix, Amazon Prime, Spotify. Also primär Unterhaltung. In einem endlichen Medienzeitbudget wird so der Informationsjournalismus und der Newskonsum an den Rand gedrängt. Das sehen wir als plausible Erklärung, die wir aber detailliert überprüfen müssen empirisch.

«Wer wenig journalistische Informationen nutzt, hat weniger Vertrauen in die rechtsstaatlichen Institutionen.»

MEDIENWOCHE:

Welche Auswirkungen auf Demokratie und Gesellschaft hat es, wenn eine immer grössere Gruppe keinen Zugang mehr hat zu Informationsjournalismus?

Mark Eisenegger:

Es gibt Studien, die belegen, dass sich das niederschlägt in einem Rückgang der politischen Partizipation. Andere Untersuchungen zeigen, dass die Intensität der News-Konsumation mit dem Vertrauen in die Institutionen zusammenhängt. Leute, die sehr wenig journalistische Informationen nutzen, haben weniger Vertrauen in die rechtsstaatlichen Institutionen. Das sind zwar ausländische Studien, aber mir würden die Argumente fehlen, warum das in der Schweiz anders laufen sollte.

MEDIENWOCHE:

Wie lässt sich diesem Trend entgegenwirken?

Mark Eisenegger:

Wir haben vor drei Jahren das erste Mal den Vorschlag eingebracht, dass man im Bereich Medienkompetenz mehr machen und auch andere Akzente setzen müsste. Uns schwebt etwa vor, in den Schulen in Fächern wie Deutsch oder Geschichte journalistische Beiträge mit Inhalten aus Social Media zu vergleichen, um die Leute zu sensibilisieren für die Funktion des Informationsjournalismus und auch die unterschiedlichen Qualitäten.

MEDIENWOCHE:

Geht ihr selbst in die Schulen?

Mark Eisenegger:

Wir haben das Projekt «Newsup» lanciert und stellen Lehrmaterial zur Verfügung, das wir erstellt haben in Kooperation mit dem Medieninstitut des Verlegerverbands, der SRG, dem MAZ und weiteren Partnern. Leute von uns gehen auch selbst in die Schulen.

«Man kann nicht einfach das bestehende Personal nehmen und das Gefühl haben, dass dieses auch auf Social Media funktioniert.»

MEDIENWOCHE:

Eigentlich wäre es auch Aufgabe der Medien, etwas gegen die zunehmende Nachrichtenabstinenz zu unternehmen. Was können und sollen sie tun?

Mark Eisenegger:

Die Strategie muss sein, auf Social Media zwar präsent zu sein, aber die Leute zurückzuführen auf eine eigene digitale Heimat. Wir sehen, dass Köpfe gut funktionieren. Soziale Plattformen sind getrieben von Selbstdarstellung und Personen. Das ist ganz zentral. Dazu muss man aber auch neue Figuren aufbauen. Eigentlich mag ich den Begriff des Influencers nicht, aber es geht in diese Richtung. Solche Figuren aufzubauen, ist eine Herausforderung. In dem Bereich machen die Redaktionen zu wenig. Man kann nicht einfach das bestehende Personal nehmen und das Gefühl haben, dass dieses auch auf Social Media funktioniert.

MEDIENWOCHE:

Geht das in die Richtung, wie es zum Beispiel das Izzy-Magazin von Ringier macht mit Cedi?

Mark Eisenegger:

Ich verfolge das und finde witzig, was er macht. Es hat aber nur am Rande mit Journalismus zu tun. Es ist eine Form von Unterhaltung. So einzusteigen ist ein Anfang, aber danach müsste schon noch mehr kommen. Es müssten häufiger gesellschaftspolitisch relevante Themen aufgegriffen werden. Aus dem medialen Charisma, das ein Cedi unbestritten hat, könnte man mehr machen in Richtung Informationsjournalismus.

«Im Bereich Social Media konzentriert sich die Forschung stark auf Twitter, weil es dort weiterhin offene Schnittstellen gibt.»

MEDIENWOCHE:

In den letzten zehn Jahren hat sich Social Media zu einem wichtigen Forschungsfeld entwickelt. Dabei steht ihr vor dem Problem, dass ihr gar nicht an die Daten der grossen Plattformen herankommt. Facebook und Google kooperieren nicht mit der unabhängigen Forschung. Wie geht ihr damit um?

Mark Eisenegger:

Mit der Befragung von Nutzerinnen und Nutzern können wir natürlich gewisse Aussagen machen über die Plattformen. Aber der Zugang zu den Daten der Plattformen ist tatsächlich ein Problem. Es gibt eine Initiative in den Sozialwissenschaften, das sogenannte Social Science One. Dort kann man sich bei den Plattformen bewerben, um von ihnen Daten zu erhalten. Das versuchen wir natürlich auch im Verbund mit anderen Instituten. Die Wartefristen sind aber sehr lang, bis man den Zuschlag erhält und weiss, ob man die Daten überhaupt erhält. Das ist mit ein Grund, warum sich die Forschung sehr stark auf Twitter konzentriert, weil es dort weiterhin offene Schnittstellen gibt für den Datenzugriff.

MEDIENWOCHE:

Im aktuellen Jahrbuch fordert ihr als Fazit eurer aktuellen Befunde einen «Medienpatriotismus». Was meint ihr damit?

Mark Eisenegger:

So wie wir in der Schweiz einen Demokratiepatriotismus kennen – man ist stolz auf die direkte Demokratie über die Parteigrenzen hinweg – genauso fordern wir einen Medienpatriotismus. Denn die direkte Demokratie funktioniert nur, solange es auch ein funktionierendes Mediensystem gibt. Der Begriff ist auch eine Reaktion auf eine verkürzte medienpolitische Debatte. Es ist der Versuch, das nationale Interesse in Bezug auf demokratierelevanten Journalismus wieder stärker ins Gesichtsfeld zu rücken. Denn die Demokratie als Gesellschaftsform funktioniert weiterhin nationalstaatlich. Vor dem Hintergrund braucht es auch einen Journalismus und ein Mediensystem, die sich am Rahmen des Nationalstaats orientieren. Aber klar: Ein Medienpatriotismus darf nie so ausgelegt werden, dass man sich national abschottet. Es braucht genauso die internationale Perspektive und Kooperationen über die Landesgrenzen hinweg.

Bild: Tim Loosli