von Miriam Suter

Ein Strassenmagazin ohne Menschen auf der Strasse hat es schwer

Das Strassenmagazin «Surprise» ist von der Corona-Krise besonders stark betroffen. Während alle anderen Medien weiterhin zu ihrem Publikum finden, steht der «Surprise»-Verkauf auf der Strasse praktisch still.




Das «Surprise»-Strassenmagazin ist aus einer ähnlichen Situation heraus entstanden, wie sie momentan herrscht – als klassisches Arbeitslosenprojekt. Als Anfang der 1990er-Jahre die Wirtschaft nicht vom Fleck kam und die Arbeitslosigkeit auf fünf Prozent stieg, entstanden in Basel und Zürich Strassenzeitungen. Die beiden Projekte fusionierten 1995 zur «Surprise Arbeitslosenzeitung». Die Geschichte des heutigen Magazins «Surprise» beginnt 1998 mit der Gründung des gleichnamigen Vereins. Seit 22 Jahren verkaufen nun Armutsbetroffene das Magazin auf den Strassen.

Der damals gegründete Verein zur Herausgabe des Magazins «Surprise» ist heute eine professionelle soziale Institution. Neben dem Heft, das alle zwei Wochen in einer Auflage von 22’000 Exemplaren erscheint, ist er auch in weiteren Bereichen engagiert. Etwa mit Strassenfussball und einem Strassenchor.

Daneben gibt es Stadtrundgänge, wo armutsbetroffene Menschen durch Basel, Bern und Zürich führen und die Stadt aus ihrer Perspektive zeigen. Ein weiteres Projekt des Vereins ist das Café Surprise, wo Menschen mit wenig oder keinem Einkommen am sozialen Leben teilnehmen können.

Das zentrale Projekt bleibt aber das Strassenmagazin. Der grösste Teil der Auflage wird von Menschen verkauft, die auf dem regulären Arbeitsmarkt Mühe haben. Das kann aufgrund von psychischen oder physischen Einschränkungen sein oder aber wegen ihres Aufenthaltsstatus in der Schweiz. «Surprise» wird von ihnen an über 100 Verkaufsorten in der Schweiz angeboten.

Im Strassenmagazin finden sich immer wieder Perlen, die in der restlichen Medienlandschaft untergehen.

Wir haben für dieses Videoporträt mit Diana Frei über die aktuelle Situation des Magazin gesprochen und sie gefragt, was die aktuelle Situation für «Surprise» und seine Verkäuferinnen und Verkäufer bedeutet.

Frei ist Kulturredaktorin beim Strassenmagazin und gehört seit 2011 zur Redaktionsleitung, zusammen mit Sara Winter Sayilir und Klaus Petrus. Weiter zur Redaktion gehören die beiden Reporter Simon Jäggi und Andreas Eberhard. Zudem schreiben und fotografieren zahlreiche freie Medienschaffende für «Surprise».

Im Strassenmagazin finden sich immer wieder Perlen, die in der restlichen Medienlandschaft untergehen. Etwa eine Reportage über europäische IS-Anhänger, die in Syrien im Gefängnis sitzen. Oder das Porträt einer Frau, die als Kind «administrativ versorgt» wurde und heute dafür kämpft, dass sich ihre Vergangenheit der Bevormundung und Diskriminierung nicht wiederholt.
(Downlowad-Link aktuelle Ausgabe als PDF)

Der Verein «Surprise» ist seit 1998 Mitglied des internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP mit Sitz in Glasgow. Der Verband hat massgeblich dazu beigetragen, dass viele Strassenzeitungen überhaupt erst entstanden sind. Die alljährliche Konferenz musste in diesem Jahr aufgrund der Corona-Krise abgesagt werden – sie hätte im Juni in Mailand stattfinden sollen. Das ist eine vergleichsweise harmlose Konsequenz von Corona.

Gravierender wirken sich die Massnahmen gegen die Ausbreitung des Virus auf den Verkauf aus. Unter normalen Umständen wird das Heft auf der Strasse verkauft und gibt den Menschen Arbeit, die ansonsten durch gesellschaftliche Maschen fallen. Aber im Moment ist nichts normal.

Den rund 450 Strassenverkäuferinnen und -verkäufer fallen die Einnahmen weg.

Es ist das erste Mal in der Geschichte des Magazins, dass die Ausgaben nicht auf der Strasse verkauft werden können. Eine limitierte Auflage liegt in Bern, Basel und Zürich in Läden und Bäckereien auf. Ansonsten sind die Texte online zugänglich. Auch die Berichterstattung wird von Corona beeinflusst: Momentan produziert die Redaktion das Heft mehrheitlich selber, Aufträge an Freie kann sie momentan aufgrund der prekären Finanzen kaum vergeben. Darum arbeitet nun Co-Redaktionsleiterin Sara Winter Sayilir an einem Essay über Bullshitjobs und den Wert der Arbeit, Klaus Petrus war auf den Strassen in Bern und Biel unterwegs und hat sich mit Drogensüchtigen, Sexarbeiterinnen und Obdachlosen sowie mit der Polizei darüber unterhalten, wie das Leben auf der Gasse vom Virus beeinflusst wird. «Corona zeigt auch viele strukturelle Schwachstellen auf, die vorher schon bestanden: Wer hilft wem auf welche Art und was sind die Modelle dafür?», sagt Frei. «Welche Modelle, die eigentlich funktionieren, können schnell kippen und zu schwierigen Situationen führen?»

Den rund 450 Strassenverkäuferinnen und -verkäufer fallen die Einnahmen weg. Für viele von ihnen ist der Job keine Übergangslösung, sondern der einzige Verdienst und zudem eine Möglichkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu haben und Freundschaften zu schliessen. Und auch der Verein selber wird mit voller Wucht getroffen: Ohne staatliche Unterstützung ist er zu 65 Prozent von den Heftverkäufen abhängig. Um die Verkaufenden und Stadtführenden weiterhin bezahlen zu können, ruft der Verein auf seiner Webseite zum Spenden auf. Des weiteren erhielt der Verein 25’000 Franken Hilfsgelder von der Burgergemeinde der Stadt Bern für die Teildeckung des Notfallfonds und die Lohnausfallzahlungen der Berner Verkaufenden.

Leserbeiträge

Victoria 01. Mai 2020, 08:38

Genau das habe ich mir auch überlegt, als ich in meinem Stamm-Coop einkaufen war und der nette Surprise-Verkäufer (Affoltern am Albis) nicht wie sonst da stand.
Ich würde gerne die letzte und die aktuelle Ausgabe kaufen und wenigstens so was beisteuern… Surprise surprised mich nämlich immer wieder mit starkem, gut recherchiertem Journalismus und interessanten Themen – auch aus dem Rande der Gesellschaft.
Ich muss mich mal erkundigen, wie ich an die aktuellen Ausgaben komme, gegen eine Spende natürlich.. und ob sie noch journalistische Unterstützung brauchen. Danke für den Artikel – dieser hat mir Surprise wieder ins Gedächtnis gerufen!

Exogen 01. Mai 2020, 09:18

Die prekäre Lage der VerkäuferInnen von Strassenzeitungen war auch ein Thema in unserem Podcast. Die Randständigen, die bisher Zeitungen verkaufen konnten, lassen sich leider ungern von Institutionen helfen, die sich im Normalbetrieb den Obdachlosen widmen. In diesen Teilen der Gesellschaft legt jeder Wert auf die kleinen Unterschiede. Obdachlose sind nicht einfach Arme. Wer ein zuhause hat oder eben einen Job, der geht nicht zum Pfuusbus, um dort seine Mahlzeit einzunehmen, weil die gewöhnlichen Suppenküchen geschlossen wurden. Wer mehr zur Situation der Randständigen erfahren möchte: https://anchor.fm/exogen-podcast/episodes/Exogen-Folge-001-Ankndigung-ect9l5

Grüsse, Exogen